Interview

„Die Landwirtschaft braucht die Gesellschaft“

Seit über zehn Jahren macht Brot für die Welt bei den „Wir haben es satt“-Demonstrationen auf Fehlentwicklungen in Tierställen und auf Äckern aufmerksam. Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft, kann den aktuellen Unmut der Bauern und Bäuerinnen verstehen. Für einen echten Wandel sei jetzt ein neues Verständnis notwendig, wie Lebensmittel entstehen – und was sie wert sind.

Von Kai Schächtele am
Brasilien Gemüseanbau

Brasilien geht auf dem Weg in eine andere Landwirtschaft voran: Gemüsebeete und Reebstöcke in Rio Grande de Sul.

Herr Tanzmann, als eine von über 60 Organisationen ruft Brot für die Welt am 20. Januar zur „Wir haben es satt“-Demonstration auf. Zu den Kernforderungen gehört „Nein zur Deregulierung neuer Gentechnik“. Warum ist diese Forderung zentral?

Stig Tanzmann: Weil auf EU-Ebene direkt nach der Demonstration die wichtigsten politischen Beschlüsse dazu anstehen. Es geht darum, ob Gentechnik auf Basis neuerer Methoden dereguliert wird. Dann muss sie zum Beispiel nicht mehr auf Lebensmitteln gekennzeichnet werden. Auch das Vorsorgeprinzip würde dann nicht mehr beibehalten werden. Unserer Partnerorganisationen arbeiten gentechnikfrei und wollen das beibehalten. Daher schauen viele auf die Beschlüsse der EU. Sie haben weltweite Signalwirkung.

Was ist das Vorsorgeprinzip?

Bei künstlichen Organismen, die in die Natur entlassen werden und die potentiell nicht rückholbar sind, muss besondere Vorsicht gelten: Wie sehen sie aus? Was können die Folgen sein? Viele wollen diese Prinzipien aushebeln, weil es bequemer ist, gentechnisch veränderte Organismen einfach auf den Markt zu werfen statt Risiken zu prüfen.

„Es braucht ein umfassendes agrarökologisches Verständnis“

Sie sagen, viele Partnerorganisationen von Brot für die Welt wollen weiter gentechnikfrei arbeiten. Man könnte doch sagen: Können sie ja, aber wer will, darf mit neuen Technologien arbeiten.

Gegen diese Haltung gibt es mehrere Argumente. Indigene Gemeinschaften lehnen solche tiefgehenden Eingriffe wegen ethischer und kultureller Prinzipien ab. Dann: Wer in Europa ökologisch produzieren will, muss das gentechnikfrei tun. Wenn sich aber gentechnisch veränderte Organismen einschleichen, haben Landwirt*innen ein Problem. Und: Viele dieser neuen Pflanzen und künstlich eingefügten Merkmale sind patentiert. Sind solche Technologien erlaubt, kann es zu patentrechtlichen Klagen gegen bäuerliche Produzenten kommen.

Aus Sicht von Agrarökonomen macht die Erderhitzung Gentechnik notwendig, um klimaresistentes Saatgut zu produzieren. Nur so können Menschen auch in Zukunft satt werden. Was entgegnen Sie?

Wir fördern seit Jahren agrarökologische Ansätze, zu denen auch Züchtungen gehören, die an den Klimawandel angepasst sind. Die Klimakrise ist so komplex, dass nicht mit einer einzelnen Technologie darauf geantwortet werden kann. Es ist fraglich, ob solche Technologien überhaupt bewirken, dass Saatgut zum Beispiel gegen Dürre resistent wird. Das ist ein so komplexer Prozess, dass wir weiter auf die klassischen Züchtungen angewiesen bleiben werden. Und der letzte Punkt: Im vergangenen Jahr gab es in der Poebene in Italien, wo viel Landwirtschaft betrieben wird, erst eine Dürre und dann Überschwemmungen. Wer dort auf dürreresistentes Saatgut vertraut hat, hat auf die falsche Lösung gesetzt. Es braucht daher ein umfassendes agrarökologisches Verständnis.

Was heißt das genau?

Das traditionelle Wissen der Bäuerinnen und Bauern wird mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen verbunden, und zwar immer im Rahmen der Natur. Agrarökologie hat auch das Ziel, den Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden und Düngemitteln überflüssig zu machen.

„Die Landwirtschaft war auf maximale Erträge getrimmt“

Wie kann eine solche Landwirtschaft acht Milliarden Menschen ernähren?

Es werden nicht mehr nur Monokulturen angebaut, sondern man arbeitet mit vielen verschiedenen Pflanzen. Die Tierhaltung wird integriert – Tiere werden nicht mehr auf Höchstleistung getrimmt. Die Vielfalt des Ackers und der Abfallstoffe wird genutzt. Viele unserer Partnerorganisationen arbeiten so und sind damit erfolgreich.

Warum passiert das nicht längst auch hier bei uns?

Landwirtschaftspolitik und Forschung haben andere Prioritäten gesetzt. Es ging um Maximalerträge und die Vielfalt ist aus den Augen geraten. Es heißt immer, die Agrarökologie produziert nicht so viel wie die etablierten landwirtschaftlichen Methoden. Wer sich die Gesamtsumme der Produktion ansieht, stellt jedoch fest, dass das nicht stimmt.

Warum also bleibt der Wandel aus?

Viele Landwirtinnen und Landwirte sind auf das Gleis der Industrialisierung gesetzt worden: Es ist viel einfacher, auf hundert Hektar ausschließlich Weizen zu bearbeiten. Für Agrarökologie braucht es mehr Wissen und es muss mehr mit anderen Menschen zusammengearbeitet werden. Die Landwirtschaft ist dann aber auch auf das Mitwirken der Gesellschaft angewiesen. Es braucht ein neues Verständnis davon, was Lebensmittel eigentlich heißt – ein Mittel zum Leben. Agrarökologie setzt sich zudem ein für regionale Handelswege und für eine faire Entlohnung der Produzenten. Der Agrarhandel muss zum Wohl derer gestaltet sein, die Lebensmittel produzieren, und darf nicht auf maximale Kostensenkung getrimmt sein. So wie etwa in Brasilien, wo das Schulessen regional beschafft wird.

Was hat dort eine solche Wende ermöglicht?

In Brasilien gibt es einen Ernährungsrat, der alle Ministerien berät. Die Zivilgesellschaft hat ihn erkämpft. In ihm sind sowohl diejenigen vertreten, die von Hunger und Mangelernährung betroffen sind, als auch die Produzenten. Er ist das inklusivste und demokratischste Gremium zur Politikberatung, das es auf nationaler Ebene gibt. Mit einer Verbindung aus Agrarökologie und Menschenrechten ist es gelungen, den Hunger zu überwinden

„Fragen von Landwirtschaft und Ernährung lange Zeit vernachlässigt“

Seit Wochen machen in Deutschland Landwirtinnen und Landwirte mit großen Protestaktionen ihrem Ärger Luft. Können Sie den Unmut verstehen?

Wir zeigen seit über zehn Jahren im Rahmen der „Wir haben es satt“-Demonstrationen die Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft auf. Natürlich verstehe ich diese Frustration. In unserer Gesellschaft wurden die Fragen von Landwirtschaft und Ernährung lange Zeit vernachlässigt.

Was unterscheidet die aktuellen Proteste von der Demonstration am Samstag?

Wir setzen uns für eine solidarische Transformation der Ernährungssysteme aus Perspektive der „Einen Welt“ ein. Dazu gehört auch, klimaschädliche Subventionen wie beim Agrardiesel früher oder später zu beenden. Nicht so plötzlich, wie die Bundesregierung das vorhatte. Aber es braucht einen Wandel in Richtung Agrarökologie. Die jetzt laufenden Proteste haben diesen Wandel genauso wenig im Blick wie etwa die Situation von Menschen, die in Schlachthöfen arbeiten. Auch deren Lage wird bei der „Wir haben es satt“-Demonstration thematisiert.

Der Bauernverband unterstützt die Proteste gegen Subventionskürzung beim Agrardiesel, aber nicht die „Wir haben es satt“-Demonstration. Von Verbandsmitgliedern heißt es oft: Solche Forderungen können nur von Städtern kommen, die von der Landwirtschaft keine Ahnung haben. Was sagen Sie dazu?

Wir halten nichts von dieser Polarisierung. Seit Jahren setzen wir uns für eine Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft ein. Die Entwicklung der Landwirtschaft hat hohe soziale und ökologische Kosten verursacht. Wir brauchen daher eine Veränderung bei der Düngung und der Tierhaltung. Gerade die „Wir haben es satt“-Demonstration steht für eine Verbindung von Stadt und Land. Viele Landwirte und Menschen aus den Städten engagieren sich zusammen für eine Agrarwende.

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Kleinbäuerin Claudine Hashazinyange mit Avocados vom Baum ihres Schwiegervaters.

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100 € (Spendenbeispiel) Mit 100 € kann zum Beispiel Gemüse-Saatgut für die Bewirtschaftung von ca. 10 Feldern bereitgestellt werden.

148 € (Spendenbeispiel) Mit 148 € kann zum Beispiel ein Regenwassertank mit 2.000 Liter Fassungsvermögen gekauft werden.

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