„Wir reagieren oft zu spät und diskutieren die Möglichkeit der zivilen Konfliktlösung an der letzten oder allerletzten Stelle“, sagte Renke Brahms, der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, kürzlich in einem Interview. Wie Recht er damit hat, zeigt sich gerade wieder in der Diskussion darüber, wie die Bundesrepublik sich gegenüber der Eskalation im Irak verhalten soll.
Am 20. August erklärte die Bundesregierung, Waffen in den Irak, in ein akutes Konfliktgebiet, schicken zu wollen. Damit werden gleich zwei Eckpfeiler der deutschen Rüstungsexportpolitik abgeräumt. Zum einen der Grundsatz, in akute Kriegs-, Bürgerkriegs- und Konfliktgebiete keine Waffen zu liefern. Zum anderen wird die Bundesregierung durch die Lieferung von Waffen aus Beständen der Bundeswehr an eine Partei in einem internen Krieg selbst zur Kriegspartei.1
Gibt es nur zwei Alternativen?
Seit die Bundesregierung ihre Entscheidung bekannt machte, tobt die Debatte. Zyniker und Moralisten auf beiden Seiten dreschen aufeinander ein. Interessant sind die inhaltlich gegeneinander ins Feld geführten Grundpositionen. Es scheint nur zwei Handlungsoptionen zu geben: entweder militärisch – wenn auch indirekt – durch das Hochrüsten einer Konfliktpartei, oder humanitär durch die Lieferung von humanitärer Hilfe und der Aufnahme von Flüchtlingen.
Militärische Intervention – auch die Lieferung von Waffen an eine Konfliktpartei ist eine militärische Intervention – und humanitäre Hilfe sind aber keine alternativen Handlungsoptionen. Dies wird auch ernsthaft niemand behaupten wollen, auch wenn man aus den hitzigen Debattenbeiträgen den Eindruck bekommen kann.
Ist der Zeitpunkt für das „letzte Mittel“ erreicht?
Wenn nun eine Situation eingetreten zu sein scheint, in der man meint, die „letzte Option“ in Erwägung ziehen zu müssen, ist – in den Worten von Renke Brahms im oben erwähnten Interview: „…das letzte Mittel eines militärischen Einsatzes immer daraufhin zu befragen: Ist es wirklich das alleräußerste Mittel? Und ich hätte mir gewünscht, dass die Debatte noch viel stärker sich fokussiert auf die Alternativen zu einer militärischen Logik.“
Aus der Berichterstattung und den Äußerungen der Akteure kann man als Außenstehender nicht den Eindruck gewinnen, dass dieses „letzte Mittel“ ernsthaft daraufhin befragt wurde, ob es wirklich unabweislich ist, zu diesem Mittel zu greifen. Eher bekommt man den Eindruck, dass die Politik auf medialen Druck reagiert, als „entschlossen“ und „verantwortlich handelnd“ gesehen werden will. Ich nehme es den Beteiligten ab, dass ihnen diese Entscheidung schwer gefallen ist, dass sie nicht „leichtfertig“ so entschieden haben. Und dass sie sich der Tatsache bewusst sind, dass diese Entscheidung langfristig katastrophale Folgen haben kann, ja wahrscheinlich sogar haben wird – wie eben jeder Versuch, Feuer mit Benzin bekämpfen zu wollen.
Aus der Geschichte der Waffenlieferungen in die Region kann man Lehren ziehen. Die IS erlangte ihre waffentechnologische Überlegenheit durch die aus heutiger Sicht unbedachte und unverantwortliche Hochrüstung der irakischen Armee durch die USA. Zugleich gehören Saudi Arabien und Qatar, die ihrerseits die IS unterstützten, zu den großen Importeuren deutscher Waffen und Rüstungsgüter.
Was ist „verantwortliche Außenpolitk“?
Seit Antritt der neuen Regierungskoalition wird häufig, viel und laut über „verantwortliche Außenpolitik“ nachgedacht. Einige Äußerungen in diesem Zusammenhang und vor allem deren mediale Rezeption ließen bei Vielen den Verdacht aufkommen, dass es nur darum gehe, die deutsche Außenpolitik zu militarisieren, den Einsatz des Militärs zum Regelinstrument deutscher Außenpolitik zu machen. Ähnlich, wie die USA oder die Franzosen, die sich nicht vor jedem militärischen Eingriff mit langatmigen Debatten aufzuhalten scheinen. Die Frage war also: bedeutet „verantwortliche Außenpolitik“ nur, das Gleiche tun zu können, was andere auch tun?
Die Entscheidung, nach den USA, Frankreich und Groß Britannien nun ebenfalls Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern, lässt die Vermutung aufkommen, dass „verantwortliche Außenpolitik“ eben dieses ist: das tun zu können, was andere auch tun.
Dabei gibt es durchaus „verantwortliche“ Handlungsoptionen unterhalb der Schwelle der militärischen Intervention, die in der aktuellen Lage ebenso notwendig sind, wie die Hilfe für die Opfer des Kriegs und die Unterstützung der irakischen Bevölkerung gegen die waffentechnologische Übermacht der Terroristen der IS.
Kurdische Regionalverwaltung braucht Unterstützung bei der Versorgung der Flüchtlinge
Eine zentrale Unterstützungsnotwendigkeit ist bislang zumindest öffentlich wahrnehmbar nicht in der Diskussion. Die Bevölkerung in dem von der kurdischen Regionalverwaltung kontrollierten Gebiet unterstützt derzeit mit sehr begrenzten lokalen Ressourcen Hundertausende Flüchtlinge. Zwar trifft erste Nothilfe ein, sie ist aber quantitativ nicht ausreichend und ist vor allem keine längerfristige Lösung.
Die kurdische Regionalregierung steht vor immensen Herausforderungen. Die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge zu organisieren erfordert und bindet viel Personal und kostet Geld, viel Geld. Jeder Bürgermeister in Deutschland kann ein Lied davon singen, welche Anforderungen an die kommunale Verwaltung die Aufnahme einer größeren Zahl von Flüchtlingen stellt. Geld jedoch hat die Regionalregierung nicht, weil die Zentralregierung unter al-Maliki der Regionalregierung die Auszahlung ihrer Steueranteile verweigerte. Die Rückstände der Zentralregierung sind seit Monaten aufgelaufen und dürften nach einigen Quellen bereits etliche Milliarden US-Dollar betragen.
Es ist damit zu rechnen, dass der Krieg im Irak nicht schnell beendet sein wird. Darum ist es wichtig, die Aufnahmebereitschaft und die Gastfreundschaft in den Zufluchtsgebieten zu erhalten. Dies erfordert, dass die lokalen zivilen Verwaltungen in der Lage sind, die damit verbundenen Herausforderungen auch zu bewältigen. Die Unterstützung der Kommunal-, Bezirks- und Regionalverwaltungen wäre ein ergänzendes Handlungsfeld „verantwortlicher Außenpolitik“. Nur, wenn die Mitarbeitenden in den Verwaltungen und die ansässige Bevölkerung in der Lage sind, die Infrastruktur – von Unterkünften über Wasserver- und Entsorgung, Energieversorgung, Registrierung von Flüchtlingen bis hin zu Straßen und Arbeitsplätzen – zu schaffen, wird es möglich sein vorzubeugen, dass nicht in absehbarer Zeit neue Konflikte zwischen der ansässigen Bevölkerung in den Zufluchtsgebieten und frustrierten Flüchtlingen entstehen, die neues Gewaltpotential schaffen.
Für Verantwortung gibt es nicht nur ein Mittel
Doch dieses kostet Geld, das man nicht vorher in Waffenlieferungen verbrannt haben sollte. Die Zurückhaltung, der weiteren militärischen Aufrüstung der Region Vorschub zu leisten, sondern die kommunalen Verwaltungen zu unterstützen, die Aufnahme der Flüchtlinge zu organisieren, wäre kein „Raushalten“. Es wäre verantwortliches ziviles Engagement, ein Ausdruck langfristig orientierten Denkens und Handelns, ein Beitrag zum Aufbau der Region, um Ungerechtigkeit und Gewalt den Nährboden zu entziehen.
„Eine finanziell wirtschaftliche Stabilisierung der kurdischen Regionalregierung erscheint mir wichtiger als jede Waffenlieferung“, sagte Renke Brahms im erwähnten Interview. Auch damit hat er Recht.
Nachtrag am 25.08.2014:
Am 3. Juli 2013 - dem frühest möglichen Datum - unterzeichnete die Bundesegierung neben mehr als 60 weiteren Staaten den Vertrag über die Regulierung des internationalen Waffenhandels (Arms Trade Treaty, ATT). Am 2. April 2014 hinterlegte sie im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York ihre Ratifikationsurkunde und gab zusätzlich eine Erklärung über die vorläufige Anwendung der Artikel 6 und 7 des ATT ab. Darin versprach sie, den Kern des Vertrags, die Kriterien für die Prüfung von Ausfuhranträgen bei Waffenexporten, ab sofort anzuwenden – noch bevor die Zahl der Ratifizierungen von derzeit 44 auf die zum Inkrafttreten erforderlichen 50 ansteigt.
"Die Bundesregierung hat sich an die Vorschriften des ATT gebunden. Ein Export von Waffen(...) in den Irak ist demzufolge insbesondere dann nicht zu genehmigen, wenn die Waffen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit dazu beitragen würden, Frieden und Sicherheit in der Region zu unterminieren, oder dazu missbraucht werden könnten, um damit schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zu begehen." Zu diesem Schluss kommt das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum (Bofaxe 457D vom 22.08.2014).
1 Übrigens hat 1986 der Internationale Gerichtshof (IGH) im Verfahren Nicaragua gegen USA festgestellt, dass mit der Lieferung von Waffen an die Contra die USA internationales Recht verletzt habe, insbesondere gegen das Verbot der „Einmischung in interne Angelegenheiten“ und gegen das Verbot, die „Souveränität eines Staates zu verletzen“, verstoßen habe. Der IGH verurteilte die USA deshalb zur Zahlung von Reparationen an Nicaragua.