Indien und die USA legen ihren Streit um Ernährungssicherheitsprogramme vorerst bei, und machen damit den Weg für das Abkommen zu Handelserleichterungen frei.
Der Streit um die Reform der WTO-Regeln für Ernährungssicherheitsprogramme ist vorerst beigelegt. Mit der Einigung der beiden Hauptkontrahenten Indien und USA auf einen – noch vertraulichen - Kompromiss konnte die nach Einschätzung von WTO-Generaldirektor Roberto Azevedo schwerste Krise der Organisation überwunden werden. Das auf der Ministerkonferenz im indonesischen Bali vor knapp einem Jahr beschlossene „Paket“ von Vereinbarungen soll jetzt auf einer speziell dafür einberufenen Sitzung des Allgemeinen Rats der WTO am 26. November weiter vorangetrieben werden. Es handelt sich um die erste Sondersitzung des Allgemeinen Rats. Mit der großen Eile, die die WTO-Mitglieder an den Tag legen, soll wahrscheinlich vermieden werden, dass bis zum regulären Treffen des Allgemeinen Rats am 10. Dezember noch neue Hindernisse gegen den erneuten Abschluss des Bali-Pakets auftauchen. Zudem bleibt dann an dem Tag mehr Zeit, um das weitere Vorgehen zu den übrigen Themen der Doha- Runde zu diskutieren.
Nach übereinstimmenden Angaben der indischen Handelsministerin und des US-Handelsbeauftragten besteht die Einigung im Wesentlichen aus zwei Elementen: Der Allgemeine Rat bestätigt und konkretisiert den Beschluss von Bali, dass die bestehenden Regeln für Ernährungssicherheitsprogramme in Entwicklungsländern angepasst werden sollen. Bis dies vereinbart ist, verpflichten sich die WTO-Mitglieder keine Beschwerde gegen Länder zu führen (eine sogenannte „Friedensklausel“), die die bestehenden Regeln verletzen. Inhaltlich fügt dies den Beschlüssen von Bali nichts Neues hinzu – und kommt damit den USA entgegen, die sich geweigert hatten, das Bali-Paket nachzuverhandeln. Indien verweist darauf, dass die „Friedensklausel“ durch den neuerlichen Beschluss verbindlicher werde, und zudem ein ehrgeiziger Zeitplan für die Verhandlungen über die Regelanpassung vereinbart wurde. In Bali wurde nur die Zielvorgabe beschlossen, die Verhandlungen bis 2017 abzuschließen, nicht aber die Schritte dahin.
Der so erzielte Kompromiss erlaubt es beiden das Gesicht zu wahren, und macht mit der Zustimmung Indiens den Weg dafür frei, das in Bali beschlossene neue Abkommen zu administrativen Handelserleichterungen (Trade Facilitation Agreement) in Kraft zu setzen.
Dass nun andere Länder die Einigung noch einmal in Frage stellen ist äußerst unwahrscheinlich. Die G-20 Gruppe der größten Volkswirtschaften hat die Einigung bereits begrüßt. Kuba, Venezuela und Bolivien, die Indien unterstützt hatten, haben nicht genügend politisches und wirtschaftliches Gewicht, um alleine weiter auf eine engere Verknüpfung zwischen dem TFA und Ernährungssicherheit bestehen zu können. Dies gilt noch mehr für die Entwicklungsländer, die das indische Vorgehen gut fanden, sich aber nicht öffentlich äußerten.
In der jüngsten Krise der an Frustrationen und Zusammenbrüchen reichen Geschichte der Doha-Runde hat die neue indische Regierung sowohl gegenüber den anderen WTO-Mitgliedern als auch der indischen Öffentlichkeit und Interessengruppen deutlich gemacht, dass sie trotz insgesamt wirtschaftsliberaler Ausrichtung bereit ist, auch im Freihandelskontext hart zu verhandeln und dabei auch einiges an diplomatischem Porzellan zu zerschlagen. Die Möglichkeit das TFA als Pfand dazu zu nutzen, hat die indische Regierung jetzt weitgehend aus der Hand gegeben. Das Abkommen tritt allerdings erst in Kraft, wenn es von zwei Dritteln der WTO-Mitglieder ratifiziert ist, was in der Regel einige Jahre in Anspruch nimmt. Gibt es in dieser Zeit gar keine Fortschritte bei den Verhandlungen über die Regeln für Ernährungssicherheit, könnten Indien und seine Verbündeten versuchen, ein ausreichend breites Bündnis zu schmieden, das das TFA erst dann ratifiziert, wenn die Ernährungssicherheitsfrage geklärt ist. Angesichts der großen Zahl der Länder die daran grundsätzlich Interesse haben, wäre dies nicht unrealistisch.
Die Industriestaaten könnten eine erneute Krise auf diesem Gebiet relativ einfach vermeiden, indem sie einer Regelanpassung zustimmen, die effektive und zielgerichtete Ernährungssicherheitsprogramme in der WTO unbegrenzt zulässt. Das setzt aber voraus, dass sie den Entwicklungsanspruch der Doha Runde ernster nehmen als bisher. Auch für die nächsten Schritte, die noch weitaus umstritteneren Themen der Doha-Runde voranzubringen, ist dies unabdingbar. So lange die Industriestaaten bei ihrer bisherigen Haltung bleiben, ist dem Handelskorrespondenten der Financial Times zuzustimmen: Der letzte „Durchbruch“ zeigt nur, wie unendlich schwierig es in der WTO ist, sich auf die einfachsten Dinge zu einigen.
Gastbeitrag: Tobias Reichert