Mit der am 15. Dezember, in Nairobi, beginnenden 10. WTO-Ministerkonferenz endet das ‚Gipfeljahr‘ 2015. Der G7-Gipfel im bayrischen Elmau machte den Anfang . Es folgte die Internationale Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung und der UN-Nachhaltigkeitsgipfel in New York. Gegenwärtig schaut die Welt gebannt zur Klimakonferenz nach Paris, die jüngst von zahlreichen Medien zum „wichtigsten Ereignis des Jahres“ erklärte wurde.
So unterschiedlich die Zusammensetzung der Gipfelteilnehmer, ihr formaler Rahmen und ihre Agenden auch sind, auf allen internationalen Treffen standen (fast) immer dieselben Themen im Mittelpunkt der Diskussionen: Klimawandel, Rohstoffausbeutung, Handels- und Lieferketten, politische Regulierung von Wirtschafts- und Finanzmärkten. Damit haben die Gipfeltreffen zumindest eines bewirkt. Sie haben den Menschen in Nord und Süd, Ost und West die Wechselwirkungen zwischen ökonomischen, sozialen und umweltpolitischen Verbesserungen noch einmal deutlich vor Augen geführt.
Die entscheidende Frage, an der sich unsere Zukunft entscheidet, lautet: Wie kann und soll sich unsere Erde und ihre über 7 Milliarden Bewohner weiterentwickeln, so dass gegenwärtige und zukünftige Generationen ein Leben in Würde führen können, - ohne dabei die planetarischen Grenzen noch weiter als bisher zu überschreiten. In Anbetracht von Artensterben, Klimawandel, Bodendegeneration, Verschmutzung der Weltmeere und irreversibler Rohstoffausbeutung, können wir 8 oder 9 Milliarden Menschen nicht durch eine weitere wirtschaftliche Expansion sozial absichern. Vielmehr ist dies nur durch Inklusion der bisher vom Wohlstand ausgeschlossenen Menschen möglich. Die Forderung der Stunde heißt: Die vorhandenen Reichtümer und Gemeinschaftsgüter müssen gerecht verteilt werden.
Die Forderung nach einer inklusiven Weltwirtschaft ist nicht neu. Bereits bei der 1948 gegründeten internationalen Handelsorganisation, ITO, gab es den Vorschlag, Entwicklungsländern weitgehende Rechte einzuräumen. Und die in den 1970er Jahren erhobene Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung wurde auch von mehreren westlichen Regierungen Unterstützung. Die 2001 in Katars Hauptstadt initiierte Doha-Entwicklungsrunde der Welthandelsorganisation WTO zielt zumindest in Teilen auch auf eine verbesserte Vorzugsbehandlung der Länder aus dem globalen Süden.
Von der (Un)Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie
Neu an der gegenwärtigen Situation ist die immer weiter voranschreitende – und zu einem erheblichen Anteil irreversible - Umweltzerstörung. Hierdurch rückt eine Frage immer mehr in den Mittelpunkt der politischen Debatten: Lassen sich Ökonomie und Ökologie miteinander in Einklang bringen? Brot für die Welt beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen: Ja! Wir müssen es nur ernsthaft wollen. Mit ‚wir‘ ist einerseits jede/r einzelne gemeint. Im Rahmen des (ökonomisch) Möglichen können Verbraucher und Konsumenten bei jedem Kauf einen kleinen Beitrag leisten ihren ‚ökologischen Fußabdruck“ möglichst gering zu halten. Andererseits müssen die politischen Entscheidungsträger ordnungspolitische Leitplanken und systemische Sperren für Verbraucher und Produzenten schaffen.
In der 2008 u. a. von Brot für die Welt vorgelegten Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ wird deutlich benannt, wer Ross und Reiter sein sollen: „Damit der Staat als der legitime Repräsentant des allgemeinen Wohls diesem zur Geltung verhelfen kann, muss der Vorrang der Politik erneuert werden. Sie brauchen ein neues Selbstbewusstsein. Das Übergewicht der Kapitalinteressen in der Meinungs- und Entscheidungsbildung muss zurückgedrängt, die Unabhängigkeit des Staates von der Industrie vergrößert … werden.“
Die Studie macht ferner deutlich, es geht nicht mehr darum, hier und da an ein paar Stellschrauben zu drehen, vielmehr benötigen wir einen kompletten Kurswechsel, der weit über bisherige Konzepte der ‚Green Economy‘ hinausgehen! Bis heute warten wir auf eine solche Wende, obwohl inzwischen in weiten Teilen der Bevölkerung ein gewachsenes Bewusstsein für die Notwendigkeit besteht, sozial und ökologisch verträglich zu produzieren und konsumieren.
Ordnungspolitik falsch verstanden: Wenn Handelsrecht Privilegierte privilegiert
Bei der Ausgestaltung von Produktions- und Lieferketten sowie Handelsabkommen ist das Thema „Nachhaltigkeit“ nach wie vor nur ein fünftes Rad am Wagen. Auch beim transatlantischen Handelsabkommen TTIP sind die einzelnen Themen, wie Investitionen, Dienstleistungen, Rohstoffe etc., soweit bekannt, nicht vom Nachhaltigkeitsgedanken durchzogen. So geht es beim Rohstoffkapitel nicht etwa um die Förderung eines sozial- und umweltrechtlich verträglichen Abbaus, sondern um die Stärkung eines freien und günstigen Zugangs für europäische und US-amerikanische Unternehmen. Die Nachhaltigkeit ist demgegenüber in ein Extra-Kapitel geschoben worden, in dem die ‚Verbindlichkeiten‘ unverbindlich formuliert werden. Und dass in einem völkerrechtlichen Vertrag! Welcher Bürger würde einen Mietvertrag unterschreiben, indem die Rechte des Eigentümers verbindlich, die des Mieters hingegen als unverbindlich geregelt sind?
Damit steht TTIP, als auch die anderen zur Verhandlung stehenden Handels- und Investitionsabkommen, in der unheilvollen Tradition, wonach das Wirtschaftsvölkerrecht immer neue durchgreifende Umsetzungs- und Sanktionsmechanismen erhält (Stichwort: Investorenschiedsgerichte), während Umwelt- als auch Menschenrechte in den internationalen Handelsbeziehungen, aufgrund mangelnder äquivalenter Durchsetzungsmechanismen, nach wie vor die zweite Geige spielen. Damit sich an dieser Rangfolge nichts ändert, wehren sich die meisten deutschen und europäischen Wirtschaftsverbände auch gegen verbindliche Regelungen zur Einhaltung von Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechten, wie nicht zuletzt auch die Auseinandersetzung um die EU-Richtlinie zu Konfliktmineralien zeigt. Anstatt von den Unternehmen eine verbindliche Einhaltung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten einzufordern, sollen (freiwillige) Selbstzertifizierungen zukünftig verhindern, dass in Handys und anderen Industrieprodukten Mineralien verwendet werden, deren Verkauf zur Finanzierung von gewalttätigen Konflikten im Kongo und anderen Konfliktregionen beitragen.
Wir müssen an dieser Stelle kurz innehalten und uns das Agieren von transnationalen Unternehmen und die für ihre Interessen streitenden Handelsdiplomaten noch einmal vergegenwärtigen. Die Gewinner der ökonomischen Globalisierung (Der Jahresumsatz des US-amerikanischen Unternehmens Wal-Mart beträgt mehr als das 10-fache des Bruttoinlandsprodukts Kenias: 470 Mrd. US$ zu ca. 40 Mrd. US$) fordern zur Absicherung ihrer Rechte verbindliche Regelungen, wohingegen ihrer Pflichten (für die Allgemeinheit) der Freiwilligkeit überlassen werden sollen. Der Idee und dem Konzept von Ordnungspolitik, wie zum Beispiel der sozialen Marktwirtschaft, liegt das Verständnis zugrunde, Benachteiligte zu stärken und fördern; die ohnehin Privilegierten sollen demgegenüber stärker in die Pflicht für die Gesellschaft genommen werden und somit zum Allgemeinwohl beitragen (Eigentum verpflichtet heißt es in Artikel 3 des Grundgesetzes). Nicht umgekehrt!
Flüchtlingsdebatte: Rückt der globale Süden wieder auf die politische Agenda?
Seit Hunderttausende von Flüchtlingen nach Deutschland und in die EU kommen, fordern Politiker, bis hin zur Kanzlerin, vehement, die Ursachen von Flucht und Migration zu bekämpfen. Projekte zur Armutsbekämpfung in Afrika und anderswo stehen (wieder) hoch im Kurs. Man kann sich des Eindrucks nicht entziehen, EU (und USA) schauen vor allem dann mit besonderem Interesse über ihren Tellerrand hinaus, wenn sich vorab etwas auf ihrem eigenen Teller ereignet hat, was sie kein zweites Mal dort sehen wollen.
Der im November 2001 auf der 4. WTO-Ministerkonferenz initiierte Doha-Entwicklungsrunde war ebenfalls ein Ereignis vorausgegangen, was die WTO-Gründungsmitglieder, EU und USA, wachrüttelte: Die Anschläge auf das World Trade Center, am 9. September, in New York. Nach diesem einschneidenden Ereignis sahen sie sich stärker in der Pflicht konstruktiv zusammenzuarbeiten und ein entsprechendes Signal zu setzen. Nicht wenige Analytiker waren der Ansicht, dass die Staatengemeinschaft nun armen Entwicklungsländern Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten bieten muss, wenn man den Zulauf zu religiösen Fundamentalisten verringern will.
Bedeutet Nairobi das Ende der Doha-Entwicklungsrunde?
Werden die gegenwärtigen Flüchtlingsströme möglicherweise auch dazu beitragen, dass die führenden Industrienationen ihre Handelspolitik überdenken und bereit sind den Entwicklungsländern entgegenzukommen? Kann die 10. WTO-Ministertagung unter Umständen der Doha-Entwicklungsrunde neuen Atem einhauchen? Setzt sich in Kenia endlich die Einsicht durch, dass nur ein Miteinander in der Handelspolitik dazu führen kann, dass die auf allen fünf Gipfeln verhandelten Themen, nur dann gelöst werden können, wenn sich die internationale Staatengemeinschaft für ein inklusives und multilaterales Handelsregime einsetzt, anstatt einzelne Staatengruppen und Regionen mittels plurilateraler (wie das Dienstleistungsabkommen TISA) oder mega-regionale Handels- und Investitionsabkommen (TTIP, Ceta, TPP) zu bevorzugen? Warten wir es ab! Am 18. Dezember 2015, dem letzten Tag der 10. WTO-Ministerkonferenz, werden wir wohl eine Antwort drauf haben.
Viele ermutigende Zeichen gibt es allerdings nicht. Dem Anschein nach wollen sich einige führende Industrienationen (ganz) von der Doha-Entwicklungsrunde verabschieden. Allen voran Handelsdiplomaten aus den USA haben bei verschiedenen Treffen in Vorbereitung auf Nairobi betont, dass ihrer Ansicht nach „die Doha-Entwicklungsrunde ein toter Patient sei. Es fehle nur noch der Arzt um den Totenschein auszufüllen“.
Forderungen an ein multilalerales Handelsregime
Nach Ansicht von Brot für die Welt sollten Deutschland und die EU ihr handelspolitisches Engagement darauf konzentrieren, multilaterale Handelsbeziehungen auf allen politischen Ebenen zukunftsfähig zu gestalten. „Entwicklung ist dann zukunftsfähig, wenn sie der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und einer sozialen Gerechtigkeit dient – sowie eine ausgewogene, solide, selbstbestimme wirtschaftliche und soziale Entwicklung für alle Länder ermöglicht.“ (‚Zukunftsfähiges Deutschland‘, 2008).
Handelspolitik ist zukunftsfähig, wenn sie:
- Umwelt und Menschenrechte zur normativen Grundlage für den internationalen Handel macht, um damit Schaden abzuwenden und Nutzen zu fördern;
- Staatliche Gestaltungsräume erweitert, um Unternehmen einerseits an bestehende Umwelt- und Sozialstandards zu binden und andererseits neue Regelungen für Ressourcenschonung, Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte schafft;
- Landwirtschaft bäuerlich und umweltgerecht gestaltet, indem angemessene politische Weichenstellungen eingeleitet werden, um die industrielle Landwirtschaft zu überwinden und die kleinbäuerliche Landwirtschaft zu fördern;
- Das Recht von Entwicklungsländern anerkennt, Umfang und Qualität ihrer Im- und Exporte zu steuern, um beispielsweise Kleinbauern zu schützen oder Rohstoffe weiter zu verarbeiten, anstatt sie unverarbeitet zu exportieren.
Mit diesem Beitrag startet unser Blog zur 10. WTO-Ministerkonferenz in Nairobi. Wie bereits bei der WTO-Konferenz in Bali (2013) bieten wir vor, während und nach der Konferenz Analysen, Einschätzungen und Hintergrundberichte von uns und unseren Partnern aus dem globalen Süden.