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Die stille Demokratisierung des Ernährungssystems in Brasilien

Von Stig Tanzmann am

Vom 2. bis 6. November fand in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia die 5. CONSEA (Conselho Nacional de Seguranca Alimentar e Nutricional) statt, eine Konferenz für Lebensmittelsicherheit und Ernährung. Eine beeindruckende Zahl von 2.000 Delegierten, davon 1.600 aus der Zivilgesellschaft aus ganz Brasilien nahmen an dem Treffen teil, um die staatliche Ernährungspolitik, von Schulessen, über staatliche Aufkaufprogramme, Sozialpolitik mit Ernährungsbezug  und Entwicklungspolitik im Ernährungskontext zu diskutieren, um nur einige der besprochenen Themen zu nennen. Legitimiert wurden die 1.600 Vertreter der Zivilgesellschaft durch 27 Vorkonferenzen auf Bundesstaaten-Ebne, die seit Juli 2015 stattfanden. Vor diesen Konferenzen haben im ganzen vergangenen Jahr hunderte CONSEA Konferenzen auf Bezirks- und Landkreisebne stattgefunden. Dies immer nach dem gleichen Prinzip, dass 2/3 der Vertreter von der Zivilgesellschaft kommen und 1/3 der Vertreter von der nationalen oder regionalen Regierung gestellt werden, um über die jeweiligen Politiken zu informieren und die Verbesserungsvorschläge der Zivilgesellschaft aufzunehmen. Der brasilianische Staat kommt auch für Reise-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten der Teilnehmer auf. Um die herausragende Diversität der brasilianischen Gesellschaft wiederzugeben und insbesondere den benachteiligten Minderheiten oder Mehrheiten im Land Gehör zu verschaffen, gibt es für die Delegierten auch ein komplexes Quotensystem. So wird sichergestellt, dass Quilombolas, Indigene, behinderte, Sinti und Roma, Menschen mit afrikanischen Vorfahren usw. auseichend vertreten sind. Für Frauen gibt es inzwischen keine Quote mehr, da sie die überwiegende Mehrheit der Teilnehmerinnen der Konferenzen stellen.

Da die 5. CONSEA Konferenz sich auch mit Ernährungspolitik im Entwicklungshilfe Kontext befasste, gab es auch eine Delegation von internationalen Gästen. Diese kamen hauptsächlich aus Lateinamerika und Afrika. Auffallend war, dass es so gut wie keine Vertreter aus Europa oder Nordamerika gab. Die beeindruckende Demokratisierung des Ernährungssystems und der Ernährungspolitik, die der Zivilgesellschaft in Brasilien gelungen ist, scheint dort nicht oder kaum wahrgenommen zu werden. Dies vielleicht auch weil man dort nicht davon zu träumen wagt, was hier Realität ist. Eine partizipative, selbstorganisierte und basisdemokratische Konferenz,  die vom Staat finanziert wird und die der Zivilgesellschaft, den Bürgern, die Möglichkeit gibt die Agribusiness-Problematik, die Pestizidproblematik, die Gentechnikfrage, die Landvertreibungen und Morde an Aktivistinnen, um nur einige Punkte zu nennen, direkt mit den regierenden Politikern und der Verwaltung zu diskutieren. Es ist selbstverständlich, dass einige der von den Politiken betroffen Ministerinnen auf den Podien der Konferenz anwesend sind und sich den Fragen des Plenums stellen müssen. Die Fragen werden selbstverständlich nicht vorher mit der Regierung abgestimmt. Und auch für die Präsidentin Dilma ist die CONSEA Konferenz eine Pflichtveranstaltung. In ihrer Rede vor dem Plenum machte sie deutlich, dass es trotz ökonomischer Krise nicht zu Einschnitten in den Sozial- und Ernährungsprogrammen kommen wird, sondern dass man diese weiter versuchen wird auszubauen. Was für eine Botschaft, wenn man sie in den europäischen Kontext stellt, wo häufig als erstes bei der Sozialpolitik und der Versorgung der Armen gespart wird.

All dies ist schon sehr beeindruckend, ein wegweisender Prozess, der um Jahre wenn nicht Jahrzehnte dem voraus ist, wie Demokratie bei uns gelebt wird und wie wir Brasilien von außen wahrnehmen. Nicht, dass es die Probleme, die die Berichterstattung  bei uns dominieren, nicht mehr geben würde. Nur es gibt heute anders als vor 20 Jahren auch ein anderes Brasilien. Ein Brasilien, das seine Minderheiten anerkennt, das seine öffentlichen Märkte für Kleinbauern und benachteiligte Gruppen geöffnet hat, das garantiert das 30 Prozent der Schulverpflegung für Kleinbauern ausschreibt, das alle 4 Jahre eine CONSEA Konferenz abhält, um sehr kritisch zu Monitoren, ob die beschlossenen Politiken wirken und die Betroffenen erreichen und um neue Ideen zu bekommen, was könnte noch besser gemacht werden. Schlicht ein Brasilien, das sich dem Hunger und seinen Ursachen konsequente gestellt hat und so innerhalb weniger Jahre von der Welthungerkarte verschwunden ist.

Natürlich wird nicht immer alles erreicht was im CONSEA Kontext gefordert wird, aber die hier formulierten Eingaben schaffen ein starkes Gegengewicht zu den Interessen des Agribusiness der Großgrundbesitzer und der Superreichen, deren Stimme sonst in vielen Ländern ausschließlich gehört wird und die auch in Brasilien immer noch eine enorme Bedeutung haben.

Beindruckend ist auch zu sehen, wie stark die partizipative Methodologie der CONSEA Konferenz gelebt wird. Über sie wird am ersten Abend der Konferenz lebhaft diskutiert und gestritten, dies auch wenn Viele die letzte Nacht, ob der Anreise nicht geschlafen haben, oder Andere ob der abgelegenen Orte von denen sie kommen schon vier Tage unterwegs sind. Zur Methodologie gibt es ein eigens mehrseitiges Dokument, das die Sprach- und Abstimmungsregeln im Plenum definiert und immer wieder diskutiert, überarbeitet und abgestimmt wird. Auch die Menge der von den Vorkonferenzen erarbeiten Vorschläge für Forderungen an die Regierung ist mit fast 400 Punkten beindruckend und füllt einen ganzen Ordner.

All diese Vorschläge werden dann an zwei Tagen in Arbeitsgruppen priorisiert und präzisiert. Um dann im Plenum vor 2000 Delegierten abgestimmt zu werden. All dies selbst zu organisieren und zu strukturieren ist eine enormen und gar nicht hoch genug zu schätzende Leistung der brasilianischen Zivilgesellschaft. Es ist eine enorme Kraftanstrengung aller, sich in wenigen Tagen durch diese Agenda zu arbeiten. Aber gleichzeitig spürt man die unglaublich Kraft und den Willen die Konferenz zu einem Erfolg werden zu lassen und Ergebnis orientiert zu  arbeiten. Jeder weiß, wie groß das Interesse der Großgrundbesitzer und des Agrobusiness ist, dass die Konferenz scheitert. Klar ist aber auch, es ist eine basisdemokratische Konferenz, mit rätedemokratischen Einflüssen und da wird auch schon einmal herzhaft und ausdauernd über verscheiden Punkte gestritten. Aber  es wird offen mit einander und nicht über einander gesprochen.

Abschließend muss man festhalten, dass man in Europa oder Deutschland von diesem Element der Demokratisierung der Ernährungspolitik nur lernen kann. In Europa fließen fast 40 Milliarden Euro jährlich in die Agrar- und Ernährungspolitik, aber die Entscheidungen treffen immer noch viel zu Wenige und zu Wenige profitieren direkt von ihr. Auch sollte man sich fragen, wieso in Europa und Deutschland nicht gerade die Minderheiten und Sozialbenachteiligen, also die die auf Hilfe angewiesen sind, stärker mit in die Politikgestaltung einbezogen werden. Dies auch damit sie nicht darum kämpfen müssen gute und gesunde Nahrungsmittel essen zu können, weil ansonsten bei ihre Versorgung ausschließlich der Preis zählt. Brasilien macht klar, wenn das Recht auf Nahrung Wirkungsvoll umgesetzt werden soll, dann muss diese Beteiligung garantiert werden. Hier ihn Brasilien ist ganz klar in die öffentlich Versorgung soll es keine Gentechnik Produkte geben. Die Beschaffung für die Sozialsysteme und die öffentlichen Märkte bevorzugt eindeutig die Agrarökologie. Man sollte sich mit Blick auf die hier gelungene Demokratisierung der Ernährungspolitik fragen, ob wenn man die europäische Idee wieder beleben will, man sich nicht stärker an solchen  Modellen orientieren will. Denn die Menschen die an der CONSEA Konferenz teilnehmen, wissen um ihre Rechte, wie das in der Verfassung verankerte Recht auf Nahrung und sie kennen die Gesetze ihres Staates und verlangen deren Umsetzung oder Verbesserung. Gleichzeitig wissen sie aber auch, um ihre eigene Verantwortung und daher bringen sie sich direkt und nicht nur über Wahlen in die Politikgestaltung ein. Dies ist ein ganz anderer demokratischer Ansatz als in Europa.

 Noch stärker stellen sich all diese Fragen mit Blick auf die deutsche Entwicklungspolitik, sollte man nicht statt auf Innovationszentren, auf Instrumente setzen die denen eine Stimme und eine Beteiligungsmöglichkeit geben, die von Hunger betroffen sind. Brasilien geht diesen Weg und versucht in seiner Kooperation mit dem portugiesisch-sprachigen Afrika Konzepte, wie CONSEA Konferenzen in Ländern wie Mosambik zu etablieren. Häufig trifft dies gerade staatlicher Seite in Afrika  auf wenig gegen Liebe und auch für die Zivilgesellschaft ist es eine Herausforderung der sie noch nicht gewachsen ist. Aber es ist eine positive Vision an der man sich orientieren kann und die man mit den notwendigen Ressourcen unterstützen sollte, Anstelle weiter auf rein technische Lösungsansätze und die Beteiligung  der Agrarindustrie zu setzten. Brasilien hat deutlich gemacht, eine Überwindung des Hungers wird nur möglich sein, wenn man die von Hunger Betroffenen in die Politikentwicklung und Politikgestaltung ehrlich und offen einbezieht. Angesichts der häufig unfairen Machtstrukturen in vielen afrikanischen Staaten und vielen anderen von Hunger betroffenen Staaten dieser Welt macht dies aber auch klar, wie weit wir letztlich noch von der Überwindung des Hungers entfernt sind.

 

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