Im Unterschied zu vielen anderen asiatischen Ländern spielt Milch traditionell eine wichtige Rolle in der indischen Ernährung. Milch wird seit langem ganz überwiegend in kleinbäuerlichen Betrieben erzeugt und zu einem großen Teil selbst konsumiert, lokal getauscht oder verkauft. Dieses traditionelle System konnte allerdings die seit den 1950er und 1960er Jahren stark wachsende städtische Bevölkerung nicht versorgen, insbesondere da es keine ausreichenden Verarbeitungs- und Transportmöglichkeiten für die leicht verderbliche Milch gab. Indien war zu dieser Zeit stark auf Milchpulver-Importe für die städtischen Märkte angewiesen.
Gezielte Förderung von Genossenschaften
Im Jahr 1970 startete die indische Regierung die „Operation Flood", um die Milchproduktion zu steigern, die Versorgung städtischer Märkte zu verbessern und die Einkommen der Milchbauern und -bäuerinnen zu erhöhen. Dazu wurden lokale Genossenschaften gefördert, die die Milch sammeln, konservieren und vermarkten und die Bauern und Bäuerinnen in Fragen der Tiergesundheit und Fütterung unterstützen und beraten. Das Programm war erfolgreich: Produktion und Selbstversorgung stiegen ebenso an wie die Einkommen aus der Milcherzeugung, was auch besonders armen Bevölkerungsgruppen wie landlosen ViehhalterInnen zugute kam. Unterstützung durch Entwicklungshilfe und Handelspolitik
Zu Beginn unterstützte die EU „Operation Flood" durch kostenlose Milchpulver-Lieferungen. Diese wurden von den gerade gegründeten genossenschaftlichen Molkereien weiter verarbeitet und verkauft. Die Erlöse halfen bei der Finanzierung des Programms und die Genossenschaften konnten sich so am Markt etablieren sowie schrittweise auf den Ankauf der frischen Milch ihrer Mitglieder umstellen. Nachdem Indien weitgehende Selbstversorgung mit Milch erreicht hatte, stellte die EU die Lieferungen ein und Indien begann, seinen Milchmarkt mit relativ hohen Zöllen zu schützen, um die - im internationalen Vergleich moderaten - Milchpreise gegen Schwankungen auf dem Weltmarkt zu isolieren.
Strategiewechsel und Freihandel gefährden Erfolge
Der bislang sehr erfolgreiche kleinbäuerliche Milchsektor Indiens steht in den letzten Jahren vor großen Herausforderungen. Die indische Regierung setzt auf eine weitere Expansion der Milchproduktion, obwohl Indien schon heute der weltweit größte Milchproduzent und -konsument ist und auch der Verbrauch mit durchschnittlich über 70 Kilogramm pro Kopf und Jahr schon relativ hoch liegt. Der Zuwachs soll zum großen Teil aus neu zu errichtenden Großbetrieben kommen, die mit den Kleinbäuerinnen und -bauern konkurrieren werden - vor allem, wenn die Nachfrage nicht wie prognostiziert ansteigt.
Gleichzeitig dringt die EU darauf, dass Indien seinen Milchmarkt für den bilateralen Handel öffnet. Die europäische Milchindustrie sieht hier einen wichtigen Absatzmarkt für die europäische Produktion, die im Zuge des Auslaufens der Milchquote 2015 ansteigen wird. Falsche Weichenstellungen der indischen Agrar- und der EU-Handelspolitik gefährden somit die Erfolge für Armutsbekämpfung und ländliche Entwicklung, die die „Operation Flood" in den letzten Jahrzehnten erzielte.
Wieso die „Operation Flood" nicht wiederholen?
Stattdessen sollte die EU darüber nachdenken, an die Erfolge des Modells „Operation Flood" beim Aufbau regionaler Wertschöpfungsketten und Armutsbekämpfung anzuknüpfen. Ein besonderer Fokus könnte dabei auf Westafrika liegen, wo sich die Situation kleinbäuerlicher Milcherzeugerinnen immer weiter verschlechtert und die Importabhängigkeit bei Milch die ohnehin knappen Devisenreserven strapaziert. Vor allem in der stark durch Viehhaltung geprägten Sahelzone werden dringend verlässliche Einkommensquellen im ländlichen Raum benötigt. Eine an die „Operation Flood" angelehnte Initiative könnte hier notwendige neue Perspektiven vor allem für Kleinbauern und -bäuerinnen sowie Genossenschaften schaffen. Auch bei anderen Agrarprodukten wie Geflügel oder Getreide sollte im Sinne der „Operation Flood" die Versorgung städtischer Märkte durch regionale, kleinbäuerliche Wertschöpfungsketten gestärkt werden, statt durch europäische Exporte lokale Märkte zu stören.
Tobias Reichert, Stig Tanzmann