Der indische Premierminister Narendra Modi und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel werden sich auf der Hannover-Messe nächste Woche selbstbewusst geben: Merkel wie immer in sich ruhend, Modi stolz. Ganz klar, Indien will nicht mehr am Katzentisch der etablierten Industrienationen sitzen und sich von Europa gute Ratschläge geben lassen. Ich finde das verständlich – und die Bundesregierung sollte Indien als Land mit Potential und Verantwortung ernst- und es als Dialogpartner mit auf den Weg nehmen, zum Beispiel, was die Verhandlungen zu nachhaltiger Entwicklung und Klimaschutz betrifft. Es bleibt abzuwarten, ob Indien sich da seiner Verantwortung und seinem Potential stellt oder es auf dem Status als Entwicklungsland insistiert.
Der Klimawandel lässt uns gar keine andere Möglichkeit, als neue Allianzen zu suchen und einzugehen - quer durch alle Ländergruppen. Indien kann sich bei den anstehenden Klimaschutzverhandlungen in Paris so oder so zu einem Schlüsselland machen: entweder als Blockierer ambitionierter Pläne oder als Vorreiter für die Schwellenländer, die längst nicht mehr nur „Opfer“ des Klimawandels sind.
Beispielhafte Projekte
Bei einer Indien-Reise Anfang April haben wir uns als Delegation von Brot für die Welt in Begleitung von Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Medien einen Eindruck verschafft. Wir haben uns Projekte unserer Partner angesehen und solche, über die die Klima-Kollekte Treibhausgase kompensiert. Zudem hatten wir sehr interessante Debatten mit unseren Partnern und indischen Nichtregierungsorganisationen über die Klimapolitik Indiens und zur Frage, was auf der Klimakonferenz in Paris passieren muss.
Indien – Land voller Widersprüche
Indien ist ein paradoxes Land: Auf der einen Seite setzt Premierminister Modi auf die konsequente Industrialisierung des Subkontinents. Er möchte hohe ausländische Investitionen locken. Er strebt ein jährliches Wirtschaftswachstum von bis zu acht Prozent an – gestützt durch das produzierende und das Dienstleistungs-Gewerbe. Dafür braucht das Land ungeheure Mengen an Energie, doch im Moment prägen Stromausfälle und -engpässe den Alltag. Indien besitzt die größten Kohlevorräte der Erde und möchte sie nutzen – dabei gehört das Land bereits heute zu den größten Freisetzern von Treibhausgasen.
Auf der anderen Seite bereiten 800 Millionen Menschen in Indien ihr Essen auf einem Herd zu, den sie mit Holz, Kohle, Kerosin oder Dung befeuern. 200 Millionen Menschen hungern und 600 Millionen haben weder sauberes Trinkwasser noch Toiletten. Wie will Indien diesen Menschen Zugang zu Energie verschaffen? Mit welchen Energieträgern wird es die Industrialisierung vorantreiben?
Der Blick hinter die Zahlen
Regierungschef Modi hat einen großen Investitionsschub bei der Solarenergie angekündigt – aber eben auch für Kohlekraftwerke. Die CO2-Emissionen pro Kopf sind in Indien sehr niedrig – doch versteckt sich dort ein nicht-zukunftsfähiger Entwicklungspfad der Wirtschaft und des Lebensstils der Mittel- und Oberschicht hinter der hohen Zahl an Menschen. Wenn Indien nicht jetzt bei seinen ehrgeizigen Wachstumsplänen einen kohlenstofffreien Wachstumspfad anstrebt, sondern auf das Recht annäherungsweiser Pro-Kopf-Emissionen wie bei den Industrienationen besteht und jede Verantwortung für einen Ausstieg aus der fossilen Energie ablehnt, kann das die Welt an den Abgrund führen.
Die Wirtschaft wächst, aber was ist mit den Armen?
Indien sollte nicht den Fehler begehen, die Industrialisierung – nicht zuletzt der Landwirtschaft – und ausländische Investitionen als bestes Instrument der Armutsbekämpfung zu betrachten. Vom Wachstum müssen auch die Benachteiligten etwas haben. Das geht nur, wenn die Armen beteiligt werden, ihre Rechte beachtet werden und sie lernen, wie sie ihre Möglichkeiten nutzen können – auch, was den Umgang mit Energie betrifft.
Heikle Investitionen aus dem Ausland
Leider spielen nachhaltige und rechtebasierte Armutsbekämpfung sowie Umweltschutz in den Plänen Indiens keine große Rolle. Im Gegenteil: Um ausländische Investitionen um jeden Preis anzuziehen, folgt Modi gerade den Wünschen internationaler Konzerne und schleift viele in der Vergangenheit von der Zivilgesellschaft mühsam erkämpfte Rechte und Regeln, die den Armen und der Umwelt zugutekommen sollten, zum Beispiel bei der Nutzung von Land oder Wald. Die Genehmigungsverfahren werden „erleichtert“, heißt es dann.
Die Zivilgesellschaft beteiligen
Ich würde mir wünschen, dass sich Narendra Modi für inklusives und wahrhaft nachhaltiges Wachstum stark macht. Der Pfad des Wachstums sollte die Interessen und Rechte der Ärmsten, der Umwelt und der kommenden Generationen beachten und nicht dazu führen, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Indien weiter auseinandergeht, die Ressourcen weiterhin übermäßig ausgebeutet, die Umwelt zerstört und Emissionen gesteigert werden. Er sollte bei seinem Wachstumskurs die Bevölkerung mit auf den Weg nehmen – nicht mit oberflächlichen Werbemaßnahmen von PR-Firmen, wie geplant und begonnen, sondern als echte partizipatorische Entwicklung. Dazu gehört, die Zivilgesellschaft zu stärken und nicht zu schwächen.
Vielfalt an Ideen und Initiativen
Wir haben auf unserer Reise so viele engagierte Menschen getroffen, die vom Verheizen des Seidenraupen-Dungs in ihren kleinen Biogasanlagen bis zur Erstellung landesweiter Energiekonzepte sehr viel tun, damit Indien Fortschritt und Ressourcenschutz unter einen Hut bekommt. Es gibt tolle Initiativen, die gerade die Interessen benachteiligter Gruppen wie der Dalits oder der Adivasi in den Blick nehmen. Und durch den Handel mit Treibhausgas-Zertifikaten kommt sogar Geld aus Europa oder anderen Teilen der Erde ins Spiel. Mein Kollege Rem Esteves, Chef unserer Partnerorganisation ADATS aus Bagepalli in Südindien, sagte es so: „Wir verkaufen euch unsere Armut nicht mehr. Wir machen Geschäfte.“ Ich stimme ihm zu, so kommen wir weiter. Auch auf diese Vielfalt an zivilgesellschaftlichen Initiativen und auf diesen Schatz an guten Ansätzen sollte Narendra Modi stolz sein.