Ein Blogbeitrag von Cornelia Wilß; mit Ergänzungen von Francisco Mari
„Von Fluchtursachen, über Europas Grenzen bis zu uns“ – Love Painter, die Initiatoren der Podiumsprojektes „Gedanken ZUFLUCHT“, hatten am 19. März 2016 zu einer Reihe von Talks eingeladen, die in den Räumen der Alten Textilfabrik in Frankfurt am Main vor einem gut gemischten Publikum „in einem pointierten Diskurs“ Hintergründe beleuchten, Kontextwissen vermitteln, nach Ängsten fragen und an Vorurteilen rütteln wollten. In der Podiumsrunde „Von Krieg bis ‚Wirtschaftsflucht‘“ versuchten die Gäste, der Programmatik Folge zu leisten und lieferten ein Lehrstück in Sachen politischer Aufklärung.
Wer sich vom Podium „Von Krieg bis ‚Wirtschaftsflucht‘“ eine kontroverse Diskussion über Fluchtursachen, Flüchtlinge und Fluchtpolitik erwartet hatte, sah sich enttäuscht. Geladen waren Martin Glasenapp, Referent bei medico international, Francisco Marí, Referent für Welternährung, Agrarhandel und Meerespolitik bei Brot für die Welt, Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer der Hilfsorganisation Wadi e.V. und freier Publizist und schließlich Philipp Ruch, Politischer Publizist und Chefunterhändler des Zentrums für Politische Schönheit.
Vier Männer, klug moderiert vom FR-Korrespondenten Pit von Bebenburg, lieferten in pointierter Weise und allesamt gewohnt meinungsstark, eine Fülle von Gedanken und Hintergründiges zum weit gefassten Themenschwerpunkt. Nuancen in der Bewertung von Fluchtursachen und Kritik an der aktuellen Rolle Europas entstanden weniger als Ergebnis der Analysen als aus dem Kontext der jeweils politischen Arbeit in ganz unterschiedlichen Organisationen heraus.
Die Subjektivität von Flüchtlingen begreifen
Auf einen immanenten Widerspruch zwischen dem Anspruch der europäischen Wertegemeinschaft und der Wirklichkeit europäischer Praxis in der Abwehr von Flüchtlingen wies Thomas von der Osten-Sacken in. Es scheint, so der Publizist, als wiederhole sich aktuell jene Geschichte, auf die Hannah Arendt sich in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« bezog. Von einer Republik der Staatenlosen sprach sie angesichts der Millionen von Vertriebenen, displaced persons und Flüchtlingen, die zwischen 1918 und 1948 auf dem europäischen Kontinent herumirrten. Nur um als unerwünscht von einem Land ins andere deportiert zu werden und am Ende irgendwo in einem Lager zu landen, wo sie behandelt wurden, als seien sie Verbrecher. Alle Appelle an Menschenrechte und an Humanität, das stellte Arendt bereits damals fest, laufen ins Leere, sind Nationalstaaten erst mit Millionen von Flüchtlingen und Staatenlosen konfrontiert. Mit allen Mitteln verhindert werden müsse, damit nicht »die Zivilisation der gesamten Menschheit« bedroht werde, dass überhaupt erst Millionen zu Staatenlosen und Flüchtlingen werden, deren Status als „Rechtslose“ festgeschrieben werden. Soweit Hannah Arendt.
So gesehen müsste es – will man Thomas von der Osten-Sacken folgen – um die „Abschaffung des Flüchtlingsrechts“ gehen, statt einer fortgesetzten Manifestation der Entrechtung, das einer Mehrheit der Flüchtlinge ihrer Subjektivität beraubt und sie zu „Staatenlosen“ degradiert, wie es aktuell geschieht. Flüchtlinge als politische Subjekte zu begreifen – das mahnten alle Podiumsteilnehmer immer wieder an. Erinnert wurde an die Aufbruchsstimmung, die von der Jasmin-Revolution in Tunesien aus auf Ägypten ausstrahlte und auch Syrien erfasste, und viele in Europa begeistert verfolgten. So war es doch vor allem ein Aufstand derjenigen, die gegen ihr Untertanen-Sein rebellierten und für die demokratischen Rechte des „mündigen“ Staatsbürgers auf die Straße gingen. So berichtete auch Martin Glasenapp, der in den letzten Jahren immer wieder in Syrien war, davon, dass die Demonstrationen während der Feuerpause in Syrien Anfang März 2016 zurückgekehrt waren: „Auf einmal waren sie wieder da, die Gesänge, die Rufer und die selbstgemalten Schilder, die bildhaft für den Beginn des syrischen Aufstandes standen. ‚Syrien ist schön, aber es ist noch schöner ohne Assad‘, oder: ‚2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016 und wir wollen immer noch Freiheit‘. Die Medien hierzulande haben dies kaum zur Kenntnis genommen.
Hinsehen! Als Imperativ
Viel war auf dem Podium von Syrien, vom Exodus der syrischen Flüchtlinge nach Europa (Glasenapp) die Rede, spürbar die Verzweiflung, keine Prognose zur demokratischen Zukunft Syriens und einer möglichen Rückkehr der geflohenen Menschen unter den gegebenen Bedingungen geben zu können. Und immer wieder der Appell, endlich zu begreifen, dass es sich bei der Mehrheit aller syrischen Flüchtlinge nicht im engeren Sinne um politisch Verfolgte handelt, die ihr Land verlassen mussten, sondern weil die Menschen als Minderheiten wie die Yeziden verfolgt werden oder aus den Trümmern Aleppos oder einer anderen syrischen Stadt fliehen, „weil Fassbomben alle gleichermaßen vernichten, die das Pech haben, dort zu leben.“ Und: Europa darf sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Also: Hinsehen! Als Imperativ – so hatten es auch die die Veranstalter programmatisch gefordert.
Weithin zu provozieren, die Gemüter zu erregen, mit spektakulären Mitteln die deutsche Gemütlichkeit zu stören, ja vielleicht verstörend zu sein – mit Aktionskunst Politik zu verändern, von solchen Beispielen, die wie die „Die Kindertransporte des Bundes“ Aufmerksamkeit erregt habe, berichtete Philipp Ruch, der sich nicht umsonst „Chefunterhändler“ des Zentrums für Politische Schönheit nennt. Zuletzt hatte die Organisation mit der Aktion „Die Toten kommen“ von sich Reden gemacht: „Gemeinsam mit den Angehörigen haben wir menschenunwürdige Grabstätten geöffnet, die Toten identifiziert, exhumiert und nach Deutschland überführt. Wir verlieren jeden Tag hunderte Einwanderer an unseren Grenzen. Europas Grenzen sind militärisch abgeriegelt. Sie sind die tödlichsten Grenzen der Welt. Jahr für Jahr sterben Tausende Menschen beim Versuch, sie zu überwinden. Die Opfer der Abschottung werden massenhaft im Hinterland südeuropäischer Staaten verscharrt. Sie tragen keine Namen. Ihre Angehörigen werden nicht ermittelt. Niemand schenkt ihnen Blumen.“
Migration als Entwicklungsweg
Einen gänzlich anderen Aspekt in die Diskussion über Fluchtursachen brachte Francisco Marí, Referent bei Brot für die Welt ein, der einen Unterschied zwischen Fluchtursachen und Migrationsgründen machte. „Was wir in Syrien, z.T. aber auch in Ostafrika erleben, ist ein nackter Kampf ums Überleben in Kriegs- oder Unrechtsverhältnissen.“ Warum aber seit mindestens zehn bis fünfzehn Jahren Menschen aus West- und Nordafrika nach Europa drängen, seien auch ökonomische Verhältnisse, die besonders jungen Frauen und Männern wenig berufliche oder soziale Perspektiven ließen. Migration verspricht ihnen und den zurückgebliebenen Großfamilien eine bessere Zukunft und tatsächlich schaffen es auch einige, diese zu realisieren, erklärte Mari. Schließlich seien die Rücküberweisungen der MigrantInnen in vielen Ländern ein wichtiger ökonomischer Faktor, der zwar vor allem Grundbedürfnisse deckt, aber manchmal auch Investitionen ermöglicht, die nachhaltig aus Armut führen und sogar eine Rückkehr ermöglichen. Es ginge darum - und das würde auch von Brot für die Welt gefördert werden, so Francisco Marí, Menschen in ihrer Entscheidung zu unterstützen, Perspektiven zum Bleiben zu ergreifen, aber auch ihr Recht wahrzunehmen sich woanders eine Zukunft aufzubauen. Wenn diese Zukunft in Europa möglich sein soll, dann müssten dafür viel mehr sichere und legale Migrationsmöglichkeiten geschaffen werden. Nach den Gründen befragt, warum sich Menschen dafür entscheiden, zu migrieren, rückte die unregulierte Globalisierung und ihre Folgen in den Mittelpunkt der Diskussion. In jedem Dorf, in jeder Hütte, in jedem Winkel Afrikas fänden sich Produkte aus Europa oder Übersee. Da die meisten Menschen im Nachbarkontinent aber von der Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte und deren Handel leben, gefährdet die Durchdringung ihrer lokalen Märkte mit ausländischen -oft minderwertigen Produkten- ihre Existenzmöglichkeiten. So bestimmen globale Wertschöpfungsketten, von denen Produzenten und Konsumenten im Norden profitieren, den Alltag von Millionen von Menschen in Afrika. Denn auch wenn ihre Produkte "nur" für den Export nach Europa bestimmt sind, erhalten sie kaum genug zum Leben vom Wert, der in Europa für Kaffee, Obst oder Gemüse von den Konsument_innen bezahlt wird. In den Bereichen Fischerei, Landwirtschaft, Handelspolitik, die Marí seit Jahren verfolgt, seien die Beispiele leider zahllos, wo die Einflussnahme externer Rahmensetzungen, von nationalen Politiken zumindest zugelassen, wenn nicht gar unterstützt, Tausenden von Jugendlichen eine Aussicht auf Zukunft in ihren Länder kaum lohnend erscheinen lassen. Die jungen Leute seien längst in die Städte gewandert, und einige hoffen, weiter zu ziehen - nach Europa. Und auch hierhin war sich das Podium einig: Es ist subjektives Recht, den Weg der Migration einzuschlagen: „Die vielen hektischen Debatten, die Medien und Politik jetzt über die Bekämpfung von Fluchtursachen führen, ließen die Prozesse nicht aufhalten“, gab sich Marí skeptisch. „Nach fünfzig Jahren zum größten Teil nicht eingelöster Entwicklungsversprechen glaubt man den neuen Schreien nach Bekämpfung von Fluchtursachen aus Europa kaum."
Neoliberale Handelspolitik und Klimawandel erhöhen Migrationsdruck
„Die meisten Gründe für Migration sind sowieso struktureller Art, wie die Handelsbeziehungen oder die Fischereipolitik. Es kostet gar kein Geld sie zu verändern.“ Das Problem ist nur, dass eine Änderung an die Grundprinzipien des Glaubens an neoliberale Märkte erfordert, das wird aber so schnell nicht geschehen. Im Gegenteil, gerade erzwingt die EU Handelsabkommen (EPAs) mit Afrika, die durch eine radikale Marktöffnung den Staaten jegliche Perspektive auf eine eigene industrielle Entwicklung verwehrt und damit die Schaffung von dringend benötigten qualifizierten Arbeitsplätzen verhindert.
Teuer wird es aber die Folgen des von den Industriesaaten verursachten Klimawandels zu verringern, denn er wird gerade im subsaharischen Afrika Millionen Menschen die Existenz in Landwirtschaft und Fischerei rauben. Da die Parisbeschlüsse der Klimakonferenz 2016 zeigen, wie wenig die Industrieländer bereit sind die Ursachen radikal zu beseitigen und nur unverbindliche Lippenbekenntnisse zur Klima Kompensation abgaben, werden sich auch in den nächsten Jahrzehnten Menschen in Landwirtschaft oder Fischerei ohne wirtschaftliche Alternative im eigenen Land Gedanken darüber machen, wo sie eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien haben und warum nicht in den Ländern, die ihre Armut seit Jahrzehnten aktiv mitverursachen. Auch dafür werden hohe Einwanderungsquoten auf sicheren Migrationswegen in der EU gebraucht.
Das Fazit scheint aber düster: Um zu verhindern, dass Menschen freizügig nach Europa kommen, unabhängig welchen Grund sie für sich geltend machen, baut die Festung Europa an einer Eisernen Mauer, und erkauft sich – wie jetzt im Falle des Türkei-Europa-Abkommens – Grenzkontrollen, Massenabschiebung und Masseninhaftierung. „Der Riss“, vor dem es schon Georg Büchners Lenz grauste, „geht weiter durch die Welt“. Auf diesen Punkt brachte es letztlich die Diskussion über Fluchtursachen in der Alten Textilfabrik! Aber: An den Wänden dort hingen Portraits aus dem jordanischen Flüchtlingscamp Azraq, fotografiert von Silas Koch, und diese „Bilder erzählen von dem, was uns als Menschen verbindet!“ Ein besserer Schlusspunkt!