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Weltsozialforum 2016: Kritik, Bilanz und Perspektiven

Das Weltsozialforum 2016 in Montreal ist zuende. 30.000 Teilnehmende beteiligten sich an den lebhaften Diskussionen über eine gerechte Weltordnung. Francisco Marí zieht Bilanz.

 

Von Francisco Marí am

Die erfreuliche Aufmerksamkeit in Deutschland, die das diesjährige Weltsozialforum (WSF) in Kanada bekommen hat, wird getrübt durch eine zum Teil sehr negative Einschätzung des Veranstaltungsortes im Norden, der angeblich geringen Zahl der Teilnehmenden und der fehlenden Ausstrahlungskraft auf Montreal und Quebec. Auch wurde bemängelt, dass das Weltsozialforum in den kanadischen Medien unterrepräsentiert war und zu wenige VertreterInnen aus dem Globalen Süden anreisen konnten. Diese Kritikpunkte wurden auch von Mitgliedern des Internationalen Rats aufgegriffen und auf seiner Sitzung nach dem offiziellen Ende des Forums thematisiert. Dort legte das Veranstaltungskollektiv einen ersten Bericht vor. Brot für die Welt und die Mitglieder des Rates bedankten sich bei dem Kollektiv für die gute und transparente Durchführung des Forums.

Was ist nun dran an den Kritikpunkten?

Kritik an der „geringen“ Zahl der Teilnehmenden auf Foren des WSF ist nicht neu. Schon immer hing die Zahl der Teilnehmenden von der Beteiligung aus der Stadt oder Region ab, in der das jeweilige Forum stattfand. Und ja, da war Montreal vielleicht wirklich ein Tiefpunkt, was die Beteiligung angeht, aber es waren auch nicht viel weniger Menschen dabei als bei den letzten Sozialforen in Tunis, wo auch „nur“ 30.000 teilnahmen und sogar weniger als beim ersten 2001 in Porto Alegre, wo nur 20.000 dabei waren.  2015 war nach dem Attentat auf das Museum Bardo in Tunis die gesamte Stimmung in der Stadt sehr gedrückt, besonders im Vergleich zum Forum 2013 in Tunis. Zu den registrierten 9.576 Einzelteilnehmenden am WSF in Montreal, muss man fast 5.000 hinzurechnen, die sich über die exakt 1.248 Gruppen  angemeldet hatten.

So brachten Gruppen wie Caritas oder Oxfam bis zu 200 Mitglieder mit, lokale kanadische Gruppen noch weit mehr. Dazu kamen Tagesgäste an Seminaren, Konferenzen, Konzerten oder Aktionen, die sich entweder an den Dutzenden Registrierstellen anmeldeten oder auch nicht-registriert teilnahmen. Das Organisationskollektiv gab für die drei Hauptveranstaltungstage im Schnitt etwa 5.000 TagesbesucherInnen an. Dazu fanden noch parallele Foren zu Freien Medien oder zur Befreiungstheologie statt. So dürfte die angegebene Zahl von 30.000 Teilnehmenden realistisch sein.

Sicher in Porto Alegre 2002, Belem 2009 in Brasilien oder 2004 in Mumbai, 2007 in Nairobi oder 2011 in Dakar beteiligten sich mehr Menschen aus der Region an den Foren, in ihrer Mehrzahl waren es vor allem Jugendliche und Studierende, die die Reihen aus VertreterInnen von sozialen Bewegungen und NROs auffüllten.

Da das WSF in Montreal im Sommer in der vorlesungsfreien Zeit stattfinden musste, um die vielen Räume für die 1.200 Veranstaltungen zur Verfügung zu haben, nahmen weniger Studierende als an vorherigen Veranstaltungsorten teil. Da die Räume der Universität aber umsonst zur Verfügung gestellt wurden, war es nicht möglich, das diesjährige Forum zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden zu lassen.

Weniger Teilnehmende aus dem Globalen Süden

Der zweite Kritikpunkt richtete sich auch an die Wahl Kanadas, weil Einreisebeschränkungen und die höheren Kosten in einem Industrieland für Unterbringung und anderes verhindert hätten, dass sich AktivistInnen aus dem Süden an dem Forum im Norden beteiligen konnten. Diese Kritik kam vor allem auch von linken PolitikerInnen in Deutschland, gepaart mit der Forderung, das WSF zukünftig wieder nur im Globalen Süden zu veranstalten.

Auch dieser Kritikpunkt, dass das WSF nicht repräsentativ für alle Kontinente sei, wird auf jedem Weltsozialforum neu geäußert. Schon auf dem zweiten Forum in Porto Alegre 2002 wurde bemängelt, dass Interessierte aus Asien und Afrika kaum dabei sein könnten, weil die Reisekosten zu hoch seien. So beschloss man damals, das Forum 2004 in Mumbai/Indien abzuhalten.

Doch auch dort gab es wieder Kritik an der mangelnden Teilnahme aus anderen Regionen: „Auch andere Teile der Welt wie Afrika, der Nahe Osten und Osteuropa waren auf dem Forum deutlich unterrepräsentiert“, so damals der heutige Europaabgeordnete der GRÜNEN, Sven Giegold, 2004 in Mumbai. Als das Forum dann endlich nach Afrika kam, gab es auch wieder Kritik, die Brot für die Welt selbst äußerte, da den ärmsten Menschen in Nairobi durch hohe Registrierungsgebühren die Teilnahme nicht möglich gewesen war.

Im brasilianischen Belem wurden wieder afrikanische KollegInnen vermisst, schon deswegen weil über Tage die Flüge in den Amazonas aus Rio de Janeiro oder Sao Paolo kommend überbucht und damit sündhaft teuer waren. Es nahmen aber letztlich damals 150.000 Menschen am Belem-Forum teil. Sicher ein ganz großer Erfolg für die Bewegungen im Amazonas, aber mit wenig afrikanischer oder gar asiatischer Beteiligung.

In Dakar 2011 wiederum wurde das Fehlen der großen brasilianischen und südamerikanischen Bewegungen bemängelt, trotz umstrittener Präsenz des brasilianischen Erdölkonzerns PETROBRAS als Sponsor, einer Eröffnung des WSF durch den bolivianischen Präsidenten Evo Morales und einem peinlichen Auftritt des brasilianischen Ex-Präsidenten Lula auf einer Pressekonferenz, der dem dort anwesenden senegalesischen Präsidenten Wade arrogant erklärte, wie er Armut und Hunger zu bekämpfen habe. Ähnliche Diskussion gab es auch um fehlende Teilnahmen in Tunis. Die Auseinandersetzungen auf jedem Forum um dieses Thema und andere strittige Themen können auf der deutschen Webseite für das Weltsozialforum nachgelesen werden.

Diese Beispiele zeigen, dass die Kritik an Montreal, es sei zu kostspielig gewesen, dorthin zu kommen, sich nicht anders darstellt, als wenn das Sozialforum im Globalen Süden stattfindet. Auch von Djakarta nach Nairobi oder von Dakar nach Porto Alegre sind die Flüge nicht viel billiger als von Lagos nach Montreal.

Das wichtigste ist, dass zumindest die VertreterInnen der aktiven Bewegungen und von neuen Auseinandersetzungen an den Weltforen teilnehmen können, um sich auszutauschen, um neue Strategien und Aktionsforen kennenzulernen, um Allianzen und Netzwerke zu neuen Themen zu schmieden. Dies war in Montreal möglich.

Einreisebestimmungen und Visaverweigerung

Ja, es wurden Visa verweigert oder nicht rechtzeitig erteilt. Aus politischen Gründen waren es, so Schätzungen der Organisatoren, etwa zwei Dutzend. Wieviel es tatsächlich – versteckt in formalen Ablehnungen waren – ist nicht festzustellen. Insgesamt konnten wohl etwa 240 Menschen nicht oder nicht rechtzeitig einreisen. Zu viele, weil es vor allem bekannte AktivistInnen betraf und wichtige Stimmen in Montreal fehlten. Der Internationale Rat des Weltsozialforums hat diese Praxis der kanadischen Regierung scharf verurteilt.

Viele Visa wurden aber auch einfach zu spät beantragt, obwohl das Vorbereitungskollektiv aufgerufen hatte, allerspätestens 70 Tage vor der Veranstaltung sich um ein Visum zu kümmern. Alle Industriestaaten haben ihre Einreisebedingungen inzwischen zu schikanös gestaltet, so dass dieser lange Zeitraum notwendig ist, auch um bei einer Visaverweigerung Widerspruch einzulegen oder öffentlichen Druck auszuüben. Das Kollektiv hatte 2.000 Einladungen an Antragsteller aus Ländern ohne Visafreiheit, wie sie EU-BürgerInnnen in Kanada genießen, ausgestellt mit Barcode als Bestätigung für die Botschaften. Manche dachten, das genüge, aber die Einreisebehörden weltweit verlangen zur Einreise auch den Nachweis von Geldmitteln, die den Aufenthalt sichern.

Viele Menschen im Süden können das nicht. Brot für die Welt, aber auch attac, Friedrich Ebert- oder Rosa Luxemburg Stiftung und internationale Organisationen haben Nachweise für die Kostenübernahme für KollegInnen aus dem Globalen Süden garantiert. So sind etwa 1.600 Visa von kanadischen Botschaften an Menschen aus dem Süden ausgestellt worden. Das reicht sicher nicht. Aber es ist auch eine Frage ausreichender finanzieller Mittel. Das Organisationskollektiv hatte einen Solidaritätsfonds aufgelegt und Organisationen aus Industrieländern gebeten einzuzahlen, um Aktiven aus dem Süden die Teilnahme möglich zu machen. Leider hat nur Brot für die Welt dazu beigetragen. Es ist also merkwürdig, wenn PolitikerInnen oder Organisationen kritische Stimmung machen über die geringe Zahl der Teilnehmenden aus dem Süden, aber wenig dazu beigetragen haben, dass mehr Betroffene teilnehmen konnten.

Die Fernteilnahme über das Internet

Eine Form der Teilnahme, die es schon seit 2011 in Dakar über die Seite openfsm gibt und auch von Brot für die Welt gefördert wird, kam in Montreal nun endlich weiter voran. Etwa 100 Veranstaltungen wurden gestreamt, und somit konnten viele Interessierte gerade in Ländern des Südens live sehen und hören, was in den Workshops in Montreal diskutiert wurde und sich über eingerichtete Chaträume beteiligen. Allerdings hatten 500 Veranstalter hatten ein Streamen angekündigt, als sie aber mitbekamen, dass sie selbst technisch dafür sorgen mussten und open fsm nur die Mitdiskussion in einem Skyperaum zur Verfügung stell, schrumpfte die Zahl zusammen. Über 40 ausgebildete Freiwillige halfen dann mit einfachen Mitteln, meist über die Webcams von Notebooks, die Debatten live ins Netz zu stellen. Der Zeitunterschied war allerdings auch nicht überall hilfreich. Die Streams bleiben auch über das Forum hinaus im Netz auf der Seite von openfsm-extension.

Leider erfährt diese Form der Fernteilnahme, trotz immer besserer technischer Möglichkeiten, auch in den Metropolen des Südens, nicht die benötigte Beachtung und Unterstützung durch alle Teilnehmenden und Organisationen. Brot für die Welt ist überzeugt, dass diese Form des Austauschs, ohne hohe Reisekosten zu verursachen, in der Zukunft viel wichtiger werden wird und viel mehr genutzt werden sollte. Bereits jetzt werden viele der Debatten im Anschluss an die Foren in sozialen Medien fortgeführt und neue Vereinbarungen zur Weiterarbeit getroffen. Viele neue Diskussionsgruppen werden auf Internetplattformen geschaffen, die einen regelmäßigen Austausch auch über Skypekonferenzen ermöglichen. Auch das mag die Anzahl der physischen Teilnahmen in Zukunft reduzieren, aber den Austausch stärken.

Montreal war erfolgreich und eine wichtige Erfahrung

So betont Brot für die Welt, dass das Weltsozialforum 2016 in Montreal eine sehr gute Erfahrung war. Man konnte die gemeinsamen Themen zwischen Aktiven aus Nord und Süd besprechen und feststellen, dass es bei sozialen Kämpfen, Demokratiedefiziten, Ungleichheit, beim Klimawandel und den Folgen von Freihandelsverträgen Ansatzpunkte für gemeinsamen Widerstand gibt. Andere Themen, wie die Frage nach Lebensstil, Tierschutz, Veganismus, Konsum sind noch eher Themen im Norden, Mangelernährung, extreme Armut und Hunger, Kriege und Konflikte, Wassermangel und Migrationsgründe sind eher Themen im Süden, oft verursacht durch vom Norden verantwortete Entscheidungen von Politik und Konzernen.

In Montreal gab es also die Möglichkeit, diese „Südthemen“ zu diskutieren – mit den anwesenden VertreterInnen aus dem Globalen Süden, aber auch weil in der Stadt Montreal, in der Provinz Quebec, oder auch in ganz Kanada und in den angrenzenden USA viele Menschen mit langjährigen Erfahrungen im Globalen Süden oder mit familiären Bezügen dorthin leben. Einige von ihnen aus den USA oder aus dem Westen Kanadas nahmen eine lange Anreise in Kauf, um am Forum teilzunehmen. So waren Veranstaltungen zu afrikanischen Themen gut besucht, weil viele Menschen mit Wurzeln in Afrika aus den USA und Kanada angereist waren. Ebenso Menschen mit indischen oder südostasiatischen Wurzeln und natürlich MigrantInnen aus Süd- und Mittelamerika. Auch ihre Migrationserfahrungen bereicherten viele Diskussionen auf dem Weltsozialforum in Montreal, ebenso wie die Stimmen der ErstbewohnerInnen Kanadas, hier „First Nations“ genannt oder Inuits aus dem Nordwesten des Landes.

Wie geht es weiter mit dem Weltsozialforum?

Das WSF in Montreal und seine vielen – bald auf der Forumswebseite zu lesenden Anregungen, Analysen und Vorschläge für zukünftige Aktionen und vereinbarte Treffen – werden Teil der historischen Erfahrungen der Weltsozialforen bleiben.

Seit Jahren finden weitere Sozialforen statt, die die Idee der Weltsozialforen aufgreifen. Jährlich werden Dutzende von thematischen und regionalen Foren weltweit veranstaltet. Man kann sich das auf diesem Kalender anschauen.

Für nächstes Jahr 2017 ist vorgesehen, das parallel zum Weltwirtschaftsforum in Davos eine Sitzung des Internationalen Rats des Weltsozialforums in Porto Alegre stattfindet, eventuell sogar aufgrund der vielen Krisen dort auch ein lateinamerikanisches Sozialforum.

Ob das schon andeutet, dass das nächste Weltsozialforum 2018 in Brasilien stattfindet könnte, ist aufgrund der politischen Situation dort mit dem staatsstreichartigen Regierungswechsel nicht ausgemacht. Dem Internationalen Rat liegt eine Bewerbung von Gruppen aus Barcelona in Spanien/Katalonien vor und ein neuer von KurdInnen vorgelegter Aufruf, dass das nächste Weltsozialforum in der befreiten Stadt Kobane (Ain al-Arab) in Syrien stattfindet sollte. Alle drei Vorschläge werden in Porto Alegre im Januar 2017 besprochen werden.

Eine Tendenz zugunsten Brasiliens ist im Internationalen Rat zu spüren, fast schon als Bestätigung des Mottos der Abschlussveranstaltung des kanadischen Weltsozialforums: Zurück in die Zukunft! Aber auch aus Solidarität für die schwierige Situation, die soziale Bewegungen, Gewerkschaften und NROs, darunter auch viele Partner von Brot für die Welt, aktuell dort durchmachen. Sie müssen fast ohnmächtig erleben, wie viele progressive Errungenschaften zugunsten von Armen, KleinbäuerInnen und ArbeiterInnen vom neoliberalen Kurs der – so die brasilianischen Mitglieder des Rats – durch einen staatsstreichartigen Verfassungsbruch an die Macht gekommenen neuen brasilianischen Regierung zunichte gemacht werden. Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, wieder in das Ursprungsland der Foren zurückzukehren.

 

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