Die großen Vorlesungssäle waren nur selten ganz gefüllt. In den vielen Gebäuden der verschiedenen Universitäten von Montreal ging es ruhig und sachlich her. Vielleicht auch deswegen, weil teilweise die Übersetzung fehlte und deshalb alle zwang, sich gut gegenseitig zuzuhören.
Fast 160 Veranstaltungen fanden parallel statt, und dies zweimal am Tag und über drei Tage lang. Insgesamt gab es nahezu 1.200 Debattenangebote, meist im klassischen Stil organisiert, mit PanelistInnen und Präsentationen und oft als Gemeinschaftsveranstaltung verschiedener Gruppen – anders als auf den vorangegangenen Foren. Bisher wurde insbesondere von großen Organisationen das Sozialforum zur Selbstdarstellung ihrer Arbeit genutzt. Auch Brot für Welt trat diesmal mit drei Veranstaltungen zu Klima- und Rohstoffthemen recht bescheiden gegenüber früheren Jahren auf. Doch insgesamt waren es dann doch sehr viele Veranstaltungen – zu viele, um sich wirklich einen Überblick zu verschaffen, auch wenn alle sich in eine von dreizehn Themenachsen einordnen mussten. Dazu fanden noch sogenannte Konvergenz-Veranstaltungen statt, die die Ergebnisse der Workshops mit ähnlichen Themen etc. zusammenfassten und einen Ausblick gaben auf zukünftige Vernetzungen oder gemeinsame Aktionen vorbereiteten. Es gab Versammlungen zu Steuerflucht, Solidarität mit Palästina, Migration, Klimagerechtigkeit, Agrarökologie, Militarisierung oder zu Bildungsfragen.
Die Anzahl von Workshops mit ähnlichen Themen war schon immer ein Gradmesser für die gegenwärtig von sozialen Bewegungen verfolgten Schwerpunkte. Dabei zeigt sich der Wandel des Diskurses auf den Weltsozialforen meist an der angebotenen Anzahl von Veranstaltungen unter einer der Themenachsen.
Spitzenthema Grundrechte
Absoluter Spitzenreiter waren diesmal mit fast 180 Veranstaltungen Diskussionen zur Themenachse 7: „Menschen- und soziale Rechte, Würde und Kämpfe gegen Ungleichheit.“ Eine Tendenz, die sich schon auf den Weltsozialforen 2013 und 2015 in Tunis zeigte. Eigentlich verbriefte Grundrechte werden eingeklagt. Dabei geht es, wie im arabischen Frühling, bei Bewegungen in Südeuropa, aber auch in Indien, Myanmar, Thailand oder Bangladesch genauso wie in Afrika darum, der Menschenwürde Geltung zu verschaffen. Dies soll nicht abstrakt geschehen. Daher waren folgerichtig die Veranstaltungen unter der Themenachse 1: „Wirtschaftliche, soziale und solidarische Alternativen angesichts der kapitalistischen Krise“, diejenigen mit den zweitmeisten Nennungen. Um die dort diskutierten Alternativen zu erstreiten, bedarf es einer wachen Demokratie und sozialer Bewegungen. Daher landete wohl diese Themenachse im Ranking an dritter Stelle mit rund 120 Veranstaltungen.
Aufgrund der starken Beteiligung der angereisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen an den genannten Foren werden die dort geführten Debatten programmatisch dem Namen „Weltsozialforum“ immer gerechter. Da ist dann auch nicht mehr erstaunlich, dass das große Thema der ersten Weltsozialforen, als das Sozialforum noch Gegenpart zum Weltwirtschaftsforum in Davos war, die Themenachse „Kampf gegen die Diktatur der Finanzmärkte“ (Nr. 9), es nur noch auf ganze 25 Veranstaltungen gebracht hat.
Gute Mittelplätze im Ranking der Veranstaltungsanzahl, als Seismograph für die gegenwärtigen sozialen Auseinandersetzungen, belegen die Themenachsen: Medien- und Klimagerechtigkeit und internationale Solidarität (Themen 5+6). Hingegen sind Migrations- und Rassismus Fragen (Themen 4+5) besonders im Vergleich mit den beiden vorhergehenden Weltsozialforen in Tunis unterbelichtet, mit nur etwa sieben Veranstaltungen, ebenso Veranstaltungen zu Friedenskultur und kriegerischen Konflikten.
30.000 Teilnehmende für konkrete Veränderungen
Auch wenn fast 1.200 angebotene Workshops, in denen ca. 30.000 Interessierte mitdiskutiert haben, nur ein Ausschnitt der globalen Bewegungen zur Gesellschaftsveränderung sind, so zeigen sie doch, wieviel konkreter inzwischen die Auseinandersetzungen für „eine bessere Welt“ geworden sind und sie der großen Entwürfe von Gesellschaftsveränderung, wie sie noch zu Beginn der Sozialforen dominierten, gar nicht mehr bedürfen, um aktiv zu werden.
Dennoch ist die geringe Repräsentanz von Fragen zu Migration oder auch zu Landwirtschaft und Ernährung Ausdruck davon, dass es 2016 ein Weltsozialforum im globalen Norden ist. In den Fragen Demokratiedefizite und sozialer Ungerechtigkeit scheinen Nord und Süd ähnliche Diskurse zu führen, besonders da viele Teilnehmende aus Schwellenländern kamen, wie Indien oder Brasilien und auf Aktivistinnen und Aktivisten ausgegrenzter sozialer Schichten aus Kanada und USA trafen. Aber auch Menschen aus Südafrika, Ghana oder Kenia, also den wirtschaftlich besser dastehenden Ländern, konnten mitreden, wenn es um das Fehlen von Partizipation und Demokratie oder soziale Ausgrenzung durch reiche Eliten geht.
Klimawandel und Rohstoffhunger jenseits von Nord-Süd
Zwei weitere Bereiche wurden jenseits jedes Nord-Süd-Gegensatzes diskutiert, ohne die jeweils unterschiedliche Verantwortung zu verwischen. Das waren zum einen die Folgen des Klimawandels und zum anderen die Auswirkungen des Rohstoffhungers von Konzernen. Das ist kaum erstaunlich, wenn man weiß, dass in Kanada 70 Prozent der größten Bergbaukonzerne der Welt ihren Sitz haben und sich mit der neuen Regierung in Kanada ein neues Bewusstsein zur Klimafrage im Land entwickelt. Insbesondere bei der Bewertung des Pariser Klimagipfels wurden unterschiedliche Meinungen nicht kaschiert. So wurde verabredet, zugunsten der durch Klimawandel gefährdetsten Gruppen weiter auf die Verantwortung der Industriestaaten zu pochen und den Menschen auf untergehenden Inseln, auf verdorrenden Weiden oder die durch Unwetter obdachlos geworden sind, eine Stimme für Klimagerechtigkeit zu geben.
Zeitpunkt und Ort führten zu weniger Andrang
Ungewohnt war – da die letzten drei Foren in Afrika stattfanden – dass nicht viele Teilnehmende von dort angereist waren. Nicht allen Menschen aus Afrika wurden Visa verweigert, die meisten hatten kein Geld, um nach Kanada zu reisen oder konnten ihre Visa erst spät beantragen. Bei allen bisherigen Weltsozialforen hing die endgültige Zahl der Teilnehmenden vor allem von der Beteiligung aus dem Gastgeberland ab. Leider ist in Kanada derzeit auch Ferienzeit, vor allem für die Studierenden – ansonsten könnte das Forum auch nicht in allen Universitätsgebäuden stattfinden – und viele leben nicht in der Stadt während der vorlesungsfreien Zeit. Trotzdem haben aus dem ganzen Land und aus den angrenzenden USA viele AktivistInnen und Interessierte teilgenommen, manchmal kamen sie auch nur für ein Tag. Zu guter Letzt haben doch 30.000 registrierte Teilnehmende ihren Weg nach Montreal gefunden.
Kampagnenerfolge für Textilarbeiterinnen
Es gab viele beeindruckende Gäste auf dem Weltsozialforum; sie alle aufzuzählen ist unmöglich, aber um ein Beispiel von der Spannbreite der Debatten zu geben, seien hier zwei Vortragende vorgestellt. Kalpona Akter von der Gewerkschaftsbewegung der Textilarbeiterinnen in Bangladesch berichtete aus der Zeit nach dem Einsturz der Fabrik im Rana Plaza Gebäude, wo 1.250 Menschen ihr Leben verloren. Trotz des heftigen Widerstands der einheimischen Fabrikbesitzer haben Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen, wie der Clean Cloth Campaign, von Gewerkschaften, aber vor allem auch von Konsumentinnen und Konsumenten im Norden - so Akter - einiges verbessert. Zumindest bei den großen Zulieferbetrieben hat ein Umdenken in Bezug auf Gewerkschaftsrechte stattgefunden.
Ein neues Gesetz zwingt Betriebe unter der Bedingung, dass Gewerkschaften mindestens 30 Prozent der Beschäftigten organisieren, die Fabrikbesitzer dazu, die Organisationsfreiheit ihrer Beschäftigten zu akzeptieren. Kalpana Akter berichtete davon, dass die Zahl der Betriebe mit gewerkschaftlicher Vertretung von 40 auf 300 Fabriken gestiegen sei. 65 Prozent der Gewerkschaftsvorstände wären nun Frauen. Die Zahl der Todesfälle in den Fabriken ist von 200 auf 20 in einem Jahr zurückgegangen. Dies wäre ohne den Druck auf die Handelsketten wie H&M, Walmart, Carrefour oder Primark durch die Verbraucherinnen und Verbraucher in der EU oder den USA nicht möglich gewesen. Daher antwortete die Aktivistin auf die Frage einer Journalistin ablehnend, ob die Arbeiterinnen einen Kaufboykott in den Billigläden unterstützen würden. Sie möchten ihre Arbeitsbedingungen verbessern, besonders auch in den Subunternehmen, in denen sich leider nicht viel Positives bewegt. Ein Kaufboykott würde nur dazu führen, dass die Betriebe weiterzögen, zum Beispiel nach Afrika, wo sie unter den gleichen ausbeuterischen Bedingungen wieder produzieren würden. Kalpona Akter forderte die Kundinnen und Kunden in Kanada und anderen Industriestaaten auf, anstatt den Kauf der Kleidung zu boykottieren, die Textilläden mit ihren Billigpreisen zu konfrontieren und nachzufragen, wie solche Preise zustande kämen.
Freie Software auf dem Weltsozialforum
Ein ganz anderes Thema sprach der Star der „Freien Software“, Richard Stallmann, vor dem überfülltem Hörsaal in der McGill Privatuni an. Viel zu selten, auch nicht auf den Weltsozialforen, wird die tagtägliche Überwachung des privaten Raumes durch die Datenkraken Facebook, WhatsApp, Skype, aber auch von Microsoft und Apple angesprochen. Warum eigentlich nicht?
Der Kampf um soziale Rechte muss auch fordern, die Privatsphäre zu schützen. Aber im Gegenteil, durch Nutzung von Software, mit unbekannten Überwachungsfunktionen, besonders durch die Smartphones, beteiligen wir uns an der Unterhöhlung des Rechts auf den persönlichen Raum. Der Begründer des GNU-Betriebssystems, das später unter GNU/Linux weite Verbreitung fand, ist auch der Vorkämpfer für „Freie Software“, wobei er betont: Frei heißt nicht umsonst!
Dem Kampf einer lückenlosen Überwachung und Zwangssteuerung von Nutzenden setzt er die völlige Transparenz bei der Programmarchitektur entgegen: die sogenannten Quellcodes. Wer diese kennt, kann mit anderen, auch Nicht-ExpertInnen besprechen, wie und was er oder sie mit der Software anfangen wollen und ob diese nicht nach eigenen Bedürfnissen umprogrammiert werden kann. Das ist die Befreiung von der Fremdsteuerung. In keinem Fall dürfe der Kampf gegen Konzerne und Politik für die, wie wir in Deutschland sagen, informationelle Selbstbestimmung aufgegeben werden. Gleichgültigkeit oder Mutlosigkeit würden sonst gerade im Hinblick auf soziale Bewegungen zu schneller Überwachung und einfacher Kriminalisierung führen. Wer sich nicht damit auseinandersetzt, würde - so Richard Stallmann - offenen Auges zusehen, wie Protest und Widerstand im Keim dadurch erstickt werden kann, dass die Datenkraken das ganze Leben aller Menschen erfassen.
Richard Stallmann hat recht, und es war leider die einzige Veranstaltung, die sich damit beschäftigte, aber andauernd liefen über Twitter unter #fsm2016 die neuesten Nachrichten über das Forum, damit auch jeder darauf zugreifen konnte, wer, wo und wann gerade etwas kommentiert. Schöne neue Welt!