Die Proteste auf dem Maidan, dem zentralen Platz in Kiew, führten zur Absetzung der Regierung Janukowitschs, zu Wahlen und einer neuen Regierung.
Im Frühjahr 2014 erfolgte die völkerrechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim durch Russland. Gleichzeitig fanden anhaltende Kämpfe pro-russischer Separatisten in der ressourcenreichen Ost-Ukraine statt, die in einen Krieg eskalierten. Die Gefechte zwischen ukrainischem Militär und pro-russischen Separatisten haben bereits vielen Menschen das Leben gekostet.
Das Minsker Abkommen von 2015, das zur Beendigung des Krieges führen soll, wird nicht planmäßig umgesetzt und so wütet der Krieg weiter.
Olga Kalashnyk von der Nicht-Regierungsorganisation La Strada Ukraine hat die drastischen sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges auf die ukrainische Bevölkerung beobachtet. Etwa 1,7 Millionen Menschen haben die Krim und die Konfliktzonen in der Ost-Ukraine verlassen und leben als Binnenflüchtlinge (internally displaced people/IDP) in anderen Teilen des Landes.
Wie lässt sich die Situation der Binnenvertriebenen beschreiben?
Olga Kalashnyk: Noch vor zwei Jahren konnte in der Ukraine kaum jemand mit dem Begriff war Binnenvertriebene etwas anfangen. Inzwischen mussten tausende Frauen, Männern und Kinder, viele von ihnen traumatisiert, ihr Heim, ihren Besitz und ihre Arbeit verlassen. Sie versuchen nun, sich ein neues Leben an anderen Orten der Ukraine aufzubauen. Viele bleiben jedoch außerhalb der Konfliktzonen in der Nähe ihrer ursprünglichen Wohnorte. Alle Binnenvertriebenen müssen sie sich mit vielen Fragen und Problemen auseinandersetzen. Es geht um Registrierung, Wiedererlangung von Dokumenten, Arbeitssuche und Sicherung des Lebensunterhalts, Krankenversorgung und Auszahlung von Renten und Sozialleistungen sowie um die Unterbringung von Kindern in Kindergärten und Schulen. Außerdem stehen die Menschen vor der Herausforderung, sich in die aufnehmenden Gemeinschaften zu integrieren. Auch die lokale Verwaltung, die Gemeinden und die Zivilgesellschaft sind in dieser Situation an ihre Grenzen geraten. Es fehlt ihnen an finanziellen Mitteln, Erfahrung und Kapazitäten, um die Probleme befriedigend zu bewältigen. Häufig kommt es aufgrund fehlender Mittel und Infrastruktur in Kombination mit gegenseitigen Vorurteilen und der allgemein angespannten Situation zu Spannungen und Konflikten zwischen den aufnehmenden Gemeinschaften und den Binnenvertriebenen sowie zwischen verschiedenen Gruppierungen der Binnenvertriebenen. Wenn diese Konflikte nicht rechtzeitig adressiert werden, können sie zu noch mehr Gewalt führen.
Wie wirken sich Krieg und Vertreibung auf Frauen und Männer aus?
Kalashnyk: Bei den meisten Binnenvertriebenen handelt es sich um Frauen, Kinder und ältere Menschen. Nach der Vertreibung sind es häufig die Frauen, die das Leben am neuen Wohnort organisieren müssen. Sie tun das, weil die Männer kämpfen oder im Krieg gestorben sind.
Vertriebene und Menschen, die in der Nähe der Konfliktzonen leben, sind ungeheurem psychischem Druck, Frustration und Unsicherheit ausgesetzt. Die Aggressionsbereitschaft wächst ebenso wie die Gefahr, Opfer von sexualisierter und geschlechtsbasierter Gewalt zu werden. Dazu zählt häusliche Gewalt, aber auch Menschenhandel. La Strada Ukraine organisiert die kostenlose nationale Hotline zur Vorbeugung von Gewalt, Menschenhandel und Geschlechterdiskriminierung. In den ersten fünfeinhalb Monaten des laufenden Jahres ging es bei 87,5 Prozent der Anrufe, die wir erhalten haben, um Gewalt. Zwei Drittel der Anrufe kamen von Frauen, ein Drittel von Männern. Die meisten Männer, die anrufen, wollen wissen, wie sie Arbeit im Ausland finden, ohne in die Hände von Menschenhändlern zu fallen. Eine Zunahme häuslicher Gewalt ist besonders in den Familien zurückgekehrter Soldaten zu beobachten. Die Gewalterfahrung des Krieges und die schwierige wirtschaftliche Situation, die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Preise steigen ständig, erhöhen Druck und Frustration, die zu geschlechtsbasierter Gewalt führen kann.
Wir haben über die Auswirkungen der Situation auf Frauen und Männer gesprochen. Wie geht es den Kindern?
Kalashnyk: Viele Kinder haben Gewalt erfahren oder beobachtet und leiden sehr stark unter dem Krieg. Das führt dazu, dass die Konflikte in Schulen erheblich zugenommen haben. Die Lehrer und Lehrerinnen, ebenfalls durch den Krieg traumatisiert, sind mit der Situation überfordert. Etwa 200.000 Kinder sind als Binnenvertriebene registriert. Viele von ihnen sind ohne ihre Eltern, allein, mit Verwandten oder anderen Kindern, aus den Konfliktgebieten geflohen. Ihre Identität ist häufig nicht eindeutig festzustellen, weil sie keine Papiere haben. Auch bleiben die Umstände, warum sie ohne ihre Eltern gekommen sind, oft ungeklärt. Während nach den Eltern gesucht wird, werden die Kinder in der Regel in Kinderheimen untergebracht, in denen sich aber nicht gut um sie gekümmert wird. Häufig werden die Kinder vernachlässigt oder sogar misshandelt. Sie gehen z.B. nicht zur Schule und werden gesundheitlich nicht betreut. Eine Reform in diesem Bereich ist dringend notwendig!
Was tut La Strada Ukraine, um die vom Krieg betroffenen Frauen, Kinder und Männer zu unterstützen?
Kalashnyk: Uns besorgt besonders das hohe Maß an Gewalt im Leben der Menschen. Deshalb sorgen wir dafür, dass es Angebote in den Bereichen Friedensförderung, Mediation, Konfliktprävention und Konfliktlösung gibt, die die Menschen wahrnehmen können, um der Gewalt entgegenzuwirken. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist dabei immer ein wichtiges Thema. Die Unterstützung von Opfern sexualisierter und geschlechtsbasierter Gewalt ist ebenfalls Teil unserer Arbeit, egal ob es um häusliche Gewalt oder um Menschenhandel geht. Wir wollen außerdem zur Verbesserung der Situation in den Kinderheimen beitragen. Frauen- und Kinderrechte sollen nicht länger verletzt werden. Wir führen viele Sensibilisierungsveranstaltungen und Fortbildungen zu diesen Fragen durch. Wir arbeiten mit Frauen und Mädchen, Männer und Jungen, Vertreter und Vertreterinnen sowohl der Binnenvertriebenen als auch der aufnehmenden Gemeinden. Außerdem arbeiten wir mit Fachleuten, z.B. Mediatoren und Mediatorinnen zusammen.
Sie haben berichtet, dass Frauen nach der Vertreibung häufig die Verantwortung für ihre Familien übernehmen, weil die Männer kämpfen oder gefallen sind. Welche Rolle spielen Frauen im Konflikt?
Kalashnyk: Schon während der Proteste auf dem Maidan waren Frauen aktiv beteiligt und organisiert. Sie haben Essen für die Protestierenden gekocht, sie medizinisch versorgt und moralisch unterstützt. Frauen waren jedoch auch beteiligt, als es darum ging, die Protestierenden vor Übergriffen der Polizei zu schützen. Sie haben Barrikaden gebaut und feministische Aktionen durchgeführt. Seit Beginn des Konflikts im Osten des Landes, haben sich Frauen auch an Kampfhandlungen beteiligt, und sie unterstützen Binnenvertriebene. Soldatinnen, Studentinnen, Geschäftsfrauen, Aktivistinnen und Hausfrauen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft und unterschiedlichen Alters sind aktiv. Die Situation von Frauen in der Armee ist sehr schwierig. Obwohl Frauen an Kampfhandlungen teilgenommen und Führungspositionen innehatten, wurde das offiziell nicht anerkannt. In den Personalakten wurden die Frauen als Köchinnen oder Buchhalterinnen geführt. Entsprechend hatten die Frauen und ihre Familien keinen Anspruch auf Unterstützungsleistungen im Fall von Verwundung oder Tod. Inzwischen verbessert sich die Stellung von Frauen in der Armee langsam. Geschlechtersterotype werden in diesem Zusammenhang deutlich sichtbar. Die ukrainische Gesellschaft ist ziemlich traditionell in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen und die Rolle von Männern und Frauen.
Sind Frauen am Friedensprozess in der Ukraine beteiligt, z.B. im Kontext des Minsker Abkommens?
Kalashnyk: Eine Frau, Iryna Gerashchenko, ist die Vertreterin des Präsidenten zum Thema friedliche Konfliktlösung. Sie befasst sich mit den Möglichkeiten der Deeskalation des Konflikts, der Gewährleistung der Sicherheit der Zivilbevölkerung in den Konfliktgebieten und der Umsetzung des Friedensplans des Präsidenten. Sie ist an den Konsultationen, Runden Tischen und Sitzungen beteiligt, die im Rahmen des Minsker Abkommens stattfinden. Das bedeutet jedoch nicht, dass Frauen in den Dialogprozess einbezogen sind. Leider stehen auch keine Belange von Frauen auf der Agenda des Abkommens. Es gibt jedoch ein informelles Netzwerk von Organisationen, die sich in der Friedensförderung engagieren, die regionale Plattform von Frauen für friedlichen Dialog. In dem Netzwerk sind Frauenorganisationen aus zehn Ländern vertreten, einschließlich aus Russland und der Ukraine. Die Mitgliedorganisationen setzten sich in ihren jeweiligen Ländern für den Frieden ein.
Im Jahr 2000 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1325 Frauen, Frieden, Sicherheit verabschiedet, die die wichtige Rolle von Frauen in Friedensprozessen thematisiert. Die Ukraine hat einen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution verabschiedet. Wie hilfreich ist er in der aktuellen Konfliktsituation?
Kalashnyk: La Strada hat zu den Organisationen in der Ukraine gehört, die immer wieder auf die Notwendigkeit, einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Resolution 1325 zu entwickeln, hingewiesen hat. Wir sind auch aktiv an seiner Erarbeitung beteiligt gewesen und haben Lobbyarbeit für seine Verabschiedung betrieben. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Ukraine das erste Land war, das einen Aktionsplan während eines Konflikts verabschiedet hat. Andere Länder, z.B. die des ehemaligen Jugoslawiens, haben das erst nach Beendigung des Konflikts getan. Der ukrainische Plan sieht friedensbildende Aktivitäten bereits in der Zeit des Konflikts vor und danach. Der Plan macht deutlich, dass es ohne die Teilhabe von Frauen keinen Frieden geben kann. Viel Aufmerksamkeit im Aktionsplan erhält das Thema der geschlechtsbasierten Gewalt. Die entscheidende Frage ist jedoch, wie der Plan umgesetzt wird. Die Zivilgesellschaft beobachtet den Prozess der Umsetzung genau.