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Das Rätsel der Digitalisierung

Die Debatte über die Folgen der Internetökonomie für Nachhaltigkeit und Entwicklung steht erst am Anfang. Veranstaltung von Brot für die Welt, DNR und PowerShift.

Von Sven Hilbig am

Die Digitalisierung ändert alles. Das ist eine oft gehörte Ansicht. Die Entwicklung des Internets habe während der vergangenen 20 Jahre eine neue technische Revolution in Gang gesetzt, die in sämtliche Lebensbereiche der Weltbevölkerung eingreife – mit unschätzbaren Auswirkungen. Aber stimmt das? Und wie könnten die Folgen aussehen? Um diese und weitere Fragen zu klären, veranstalteten Brot für die Welt, der Deutsche Naturschutzring (DNR) und PowerShift am 11. Oktober in Berlin die Diskussion „Digitalisierung: Eine – falsche – Wette auf die Zukunft? Auswirkungen von Industrie 4.0 in Nord und Süd. Ein Ergebnis sei schon vorweggenommen: Die sozioökonomischen Umbrüche mögen erheblich sein, sie sind allerdings politisch auch gestaltbar.

Digital first. Bedenken second.

Sven Hilbig, Referent für Umweltpolitik und Welthandel bei Brot für die Welt, sortierte zunächst Hauptstränge der deutschen und internationalen Diskussion. Die Debatten über die Digitalisierung seien inzwischen im Alltag angekommen: Viele Bürger und Bürgerinnen machten sich Sorgen, ob ihre Arbeitsplätze die Rationalisierungsschübe der Zukunft überleben und sie ihren Lebensstandard halten können.

Die neue Jamaika-Koalition aus CDU, CSU, FDP und Grünen auf Bundesebene – so es zu ihr kommt – werde aller Wahrscheinlichkeit nachversuchen, die Welle zu reiten, schätzte Hilbig. Darauf deuten teilweise ähnliche Vorschläge zur wirtschaftlichen Modernisierung hin. Alle vier Parteien betonen den Ausbau der digitalen Infrastruktur, die Bedeutung von Forschung, die Entwicklung neuer Produkte und Geschäftsmodelle, sowie die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. „Jamaika denkt in die gleiche Richtung“, sagte Hilbig - wobei es der neuen Koalition nur in zweiter Linie um ökologischen Fortschritt gehe. Der FDP-Wahlkampf-Slogan „Digital first, Bedenken second“ kann sich demnach durchaus als gemeinsame Linie einer neuen Regierung herausbilden.

Anders dagegen die Diskussion im globalen Süden: Dort wurde der digitale Modernisierungsschub von vielen früh begrüßt, denn man sah darin eine Chance, Entwicklungsstufen zu überspringen und schneller zu den reichen Staaten aufzuschließen. In Ruanda flögen beispielsweise schon Frachtdrohnen, um Medikamente in entlegene Gebiete zu bringen, erklärte Hilbig. Auch das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) betont die Chancen der Digitalisierung etwa für Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft, aber auch zur Förderung von Demokratie (Stichwort: Online-Petitionen).

Mittlerweile allerdings drehe sich die Stimmung im Süden, hat Hilbig festgestellt, wie auf dem Public Forum der Welthandelsorganisation WTO, Ende September in Genf, deutlich wurde. Neben zivilgesellschaftlichen Organisationen, warnten dort Wirtschafts- und Regierungsvertreter aus verschiedenen afrikanischen Ländern vor den Risiken der Digitalisierung im globalen Süden. Es mache sich Desillusionierung breit, weil bestehende Probleme durch die Digitalisierung nicht gelöst, sondern möglicherweise sogar verschärft würden. Wenn in Afrika südlich der Sahara immer noch nur jeder vierte Bürger Zugang zum Internet hat, bleiben drei Viertel der Einwohner von den neuen Entwicklungen ausgeschlossen.

Das gab Michael Reckordt von PowerShift die Gelegenheit, die gewünschte Richtung einer alternativen Digitalisierungsdebatte zu definieren. Dabei müsse es vor allem um zwei Punkte gehen: eine saubere, nachhaltige Produktion und eine gerechte Weltwirtschaft.

Mehr als Industrie 4.0

Was muss man sich unter „Digitalisierung“ nun vorstellen – kurz gesagt? Ein Beispiel: Man sitzt auf dem Sofa und bestellt via Internet ein Paar Joggingschuhe. Die Maschinen in der Fabrik in Deutschland – nicht in China – starten die Produktion selbstständig und fertigen die Schuhe nach den individuellen Wünschen des Konsumenten. Fehlt Material oder muss die Maschine gewartet werden, so regelt die Steuerung der Fabrik das selbst. Automatisch werden Vorprodukte und Ersatzteile bestellt und in die Herstellung eingespeist. „Die Maschinen reden miteinander“, sagte Henning Banthien, Geschäftsführer der Beratungsfirma IFOK und Koordinator der Plattform Industrie 4.0, „und sie lernen“. Das ermöglicht die Fertigung von Einzelstücken bei gleichzeitiger Produktivität der Massenherstellung. Die Maschinenbau-Nation Deutschland habe auf diesem Feld im globalen Wettbewerb sehr gute Aussichten, schilderte Banthien. Der Begriff „Industrie 4.0“ habe sich deshalb bereits zu einem internationalen Label entwickelt.

Wobei: Digitalisierung ist viel mehr als Industrie 4.0. Sie bringt vollkommen neue Geschäftsmodelle hervor – etwa die sozialen Netzwerke, Internet-Währungen, Mobilitätsdienstleistungen oder moderne Arten von Tourismus, letzteres etwa ausgelöst durch Airbnb, eine globale Börse für Wohnungsvermittlungen. Ob sich dadurch allerdings die Hoffnungen auf weltweites Wirtschaftswachstum, eine zunehmende Zahl von Arbeitsplätzen und steigenden Wohlstand erfüllen, steht auf einem anderen Blatt.

Der neue Ressourcen-Fluch

Auch die Auswirkungen auf die Umwelt sind ungeklärt. Eine optimistische These dazu formulierte Banthien: Er betonte die ökologischen Chancen. Die Massenproduktion von individualisierten Einzelstücken, die erst nach konkretem Auftrag gefertigt werden, reduziert den Ausschuss. Es wird weniger auf Halde produziert und weggeworfen. Wegen der besseren und automatischen Abstimmung zwischen verschiedenen Produktionsschritten nimmt die Ressourcen- und Energie-Effizienz zu. Dank der Digitalisierung könne das Wirtschaftssystem nicht nur nachhaltiger werden, so Banthien, sondern auch menschenfreundlicher. Schließlich würden mit der neuen Rationalisierung zahlreiche harte Arbeiten wegfallen, die bisher Menschen erledigen mussten.

Der Punkt der Effizienzsteigerung ist jedoch umstritten. Einerseits zeigt die Wirtschaftsentwicklungen der vergangenen knapp 30 Jahre, dass eine moderne Ökonomie wie die deutsche ihren Energieverbrauch vom Wachstum entkoppeln kann. Nach Zahlen des Umweltbundesamtes sank der bundesdeutsche Primärenergieverbrauch zwischen 1990 und 2016 um sieben Prozent, während die preisbereinigte Wirtschaftsleistung um etwa 30 Prozent zunahm. Die Abschaltung der DDR-Industrie trug dazu bei, aber auch insgesamt sparsamere Produktionsverfahren und die Informationstechnologien dürften eine Rolle gespielt haben.

Hermann Ott, Präsidiumsmitglied des Deutschen Naturschutzrings, wies allerdings auf Phänomene hin, die einem solchen Prozess entgegenwirken können. Sogenannte Reboundeffekte führen dazu, dass Einsparungen neutralisiert oder gar ins Gegenteil verkehrt werden. Die angebliche Tendenz zum papierlosen Büro als Folge der Computerisierung ändert nichts daran, dass der Papierverbrauch massiv gestiegen ist. Und wenn beispielsweise die Motoren der einzelnen Fahrzeuge weniger Kohlendioxid verursachen, kann doch der CO2-Austoß des Verkehrs insgesamt steigen, weil mehr Autos unterwegs sind. Vor diesem Hintergrund warnte Umweltforscher Tilman Santarius, dass ein tatsächlicher Beitrag der Digitalisierung zu Effizienzsteigerung und Nachhaltigkeit bisher nicht nachzuweisen sei.

Ein besonderes Problem stellt der gigantische Bedarf an bestimmten Mineralien und Metallen dar, den die Digitalisierung mit sich bringt. Unter anderem Wolfram, Coltan und Kobalt stammen dabei zum erheblichen Teil aus der Demokratischen Republik Kongo und ihren Nachbarländern. Nicht nur diese, auch andere Staaten leiden unter dem Ressourcen-Fluch: Rohstoff-Reichtum und Bergbau können Diktaturen und korrupte Regime stabilisieren. Hermann Ott plädierte deshalb dafür, dass die Ressourcen für die Digitalisierung unter fairen Bedingungen abgebaut werden müssten. Auch für den neuen Modernisierungsschub gelte, dass die planetaren Grenzen einzuhalten seien, sagte Ott.

Sowohl Banthien als auch Ott betonten die Notwendigkeit, die bisher getrennt verlaufenden Stränge der Nachhaltigkeits- und Digitalisierungsdebatte zu verbinden.

Produktion mit weniger Menschen

Wenn es um die möglichen Arbeitsplatz-Auswirkungen von Internet-Ökonomie und Industrie 4.0 geht, tappt man mehr oder weniger im Dunkeln. Zwei gegenläufige Entwicklungen sind zu erwarten: Einerseits macht die Rationalisierung Millionen Stellen im produzierenden Gewerbe und den Dienstleistungsbranchen überflüssig. Bestimmte Fabrikarbeiter und Bankmitarbeiter, Lkw-Fahrer, Briefträger und Journalisten braucht man wahrscheinlich nicht mehr, weil automatische Systeme künftig ihre Tätigkeiten erledigen. Andererseits entstehen mit neuen Geschäftsmodellen auch neue Jobs. Über den Saldo aber herrscht Rätselraten. Es gilt noch immer der bekannte Satz von US-Ökonom Robert Solow: „Man kann das Computerzeitalter überall sehen, aber nicht in den Produktivitätsstatistiken.“

Skeptisch äußerte sich Viviana Munoz Tellez vom South Center in Genf, was die Beschäftigungsaussichten für Länder des globalen Südens betrifft. Sie erwartet, dass die Digitalisierung und die höhere Produktivität die Zahl der Arbeitsplätze verringert, die durch Industrialisierungsstrategien in Entwicklungs- und Schwellenländern entstehen können. Möglicherweise erschwere es die Internetökonomie armen Ländern damit, zu den reichen Staaten aufzuschließen. In der Folge sei auch mit Einbußen bei den Steuer- und Sozialeinnahmen zu rechnen, wodurch die aufstrebenden Länder intern weniger umverteilen könnten, sagte Munoz. Für Staaten wie China, Indien und Brasilien, die teilweise bereits in die globalen Wertschöpfungsketten eingebunden sind, dürften diese Aussagen allerdings weniger gelten. Dort existieren regionale Zentren, die einen Teil der Wohlstandszuwächse der Digitalisierung im jeweils eigenen Land halten.    

Die Polarisierung könnte zunehmen

Im Großen besteht freilich die Gefahr, dass die Internetökonomie den Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert. Gerade in Entwicklungsländern könnten schmale Eliten profitieren, die Mehrheit der Bevölkerung aber nicht, sagte Munoz. Ähnliches sei im Verhältnis des globalen Nordens zum Süden zu erwarten.

Und auch in den reichen Staaten mag die soziale Balance auf eine neue Probe gestellt werden. Yannick Haan, Sprecher des Forums Netzpolitik der Berliner SPD, berichtete von einem Besuch im Silicon Valley im US-Staat Kalifornien. Der Widerspruch zwischen dem Reichtum der Beschäftigten, die bei den Technologie-Konzernen arbeiten, und der wachsenden Obdachlosigkeit in San Francisco sei erschreckend.

Gestaltung ist möglich

Der Prozess der Digitalisierung läuft. Wahrscheinlich werden die Folgen eingreifend sein und viele Lebensbereiche verändern. Doch diese Entwicklung ereignet sich nicht automatisch oder naturgegeben. Menschen treiben sie voran und geben ihr eine Richtung. Diese Richtung kann man deshalb auch beeinflussen. Einige Handlungsoptionen nannte Hermann Ott. Dazu gehören soziale und ökologische Mindeststandards für den Abbau von Rohstoffen. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, Bandbreiten für Ressourcen-Preise international festzulegen, damit Entwicklungsländer einen fairen Anteil erhalten.

Man kann auch an neue Steuern denken, etwa auf Rohstoffe oder den Einsatz automatisierter Produktion, die menschliche Arbeit überflüssig macht. Diese Einnahmen, so Ott, ließen sich etwa nutzen, um ein bedingungsloses Grundeinkommen für diejenigen zu finanzieren, die durch die Digitalisierung ihrer Jobs beraubt werden.

 

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