Wie viele Menschen sterben an der europäischen Außengrenze?
Die europäische Außengrenze ist die tödlichste Grenze der Welt. Und es sterben jährlich mehr Menschen, wenn sie verzweifelt versuchen über das Mittelmeer zu fliehen. Nach Angaben der internationalen Organisation für Migration sind in diesem Jahr bis 19.Juni mehr als 1985 Menschen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen und 81292 Geflüchtete haben auf dieser Route Europa erreicht. Im letzten Jahr erreichten 363401 Menschen den Kontinent über den gefährliche Seeweg und 5097 Menschen verloren dabei ihr Leben.
Wie sichert die EU ihre Grenzen im Mittelmeer und welche Rolle spielt Deutschland dabei?
Seit Juni 2015 beteiligt sich Deutschland an der militärischen Operation Sophia (EU Naval Forces in the Mediterranean EUNAVFORMED), die über die Schleusernetzwerke auf der zentralen Mittelmeerroute aufklären soll. Über diese Operation gibt es ein Mandat des UN-Sicherheitsrates und des EU-Rates. Im Juni 2016 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auch eine Resolution, um den Waffenschmuggel nach Libyen zu unterbinden.
Was machen diese Missionen im Mittelmeer konkret?
Der Europäische Auswärtige Dienst informierte Mitte Mai, dass 109 Personen mit Verdacht auf Schmuggel und Menschenhandels festgenommen wurden und 426 Boote „neutralisiert“ worden seien. Zusätzlich wird seit letztem Herbst die libysche Marine und Küstenwache ausgebildet. Libyen soll in das Überwachungssystem EUROSUR eingebunden und an das satellitengestützte System „Seahorse Mediterranean“ angeschlossen werden.
Nachdem Ende Oktober 2014 die italienische Marineoperation „Mare Nostrum“ zur Seenotrettung von Flüchtlingen beendet wurde, rief die EU die Mission „Triton“ der europäischen Agentur Frontex ins Leben. Triton unterstützt Italien, seine Grenzen zu kontrollieren, zu überwachen und Such- und Rettungseinsätze zu unterstützen. Die Operation war zunächst nur für küstennahe Gewässer gedacht. Im April 2015 wurde das Gebiet ausgeweitet und umfasst neben den italienischen Hoheitsgewässers auch Such- und Rettungsgebiete Italiens und Maltas über 138 Seemeilen südlich von Sizilien.
Wie schätzen Sie das Engagement der EU in Sachen Seenotrettung ein?
Das Engagement der Europäischen Union, Menschenleben zu retten, geht nicht weit genug. Es sind zu wenige entsprechende Schiffe im Einsatz. Im Gegenteil: das Massensterben im Mittelmeer soll einen Abschreckungseffekt haben. Denn weder Frontex als Grenz- und Küstenschutzagentur hat ein Mandat für die Seenotrettung noch der militärische Einsatz „Operation Sophia“, die gegen Schleuser vorgehen. Solange sich die europäischen Mitgliedstaaten nicht darauf einigen, eine gemeinsame zivile europäische Seenotrettungsmission nach dem Vorbild von „Mare Nostrum“ ins Mittelmeer zu entsenden, ist auch die zivile Seenotrettung notwendig. Flüchtlingen bleibt keine andere Wahl als die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu riskieren.
Wie bewertet Brot für die Welt die zivile Seenotrettung?
Wir sehen die Rettung von Menschen in Seenot als essentielle humanitäre Pflicht, die auch durch das Völkerrecht, das Seerecht und die europäische Menschenrechtskonvention gedeckt sind. Zur Rettung von Menschen in Seenot verpflichtet auch Artikel 98 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen. Der Staat muss sogar Handelsschiffe effektiv unterstützen, die an Seenotrettungsmaßnahmen beteiligt sind.
Wer ist im Mittelmeer bei der zivilen Seenotrettung im Einsatz?
2015 war Ärzte ohne Grenzen noch die einzige Hilfsorganisation. Im Durchschnitt ertranken damals bei der Überfahrt mindestens 10 Menschen pro Tag. Mittlerweile gibt es auch mehrere kleinere, meist ehrenamtliche Seenotrettungsorganisationen, die sich aus Spenden finanzieren. Die italienische Küstenwache spricht von über 14 Booten privater Rettungsinitiativen vor der libyschen Küste. Mehrfach wurden Übergriffe der libyschen Küstenwache auf private Rettungsboote dokumentiert, die sowohl Flüchtlinge als auch Retter zusätzlich in akute Gefahr bringen.
Was halten Sie von dem Argument, dass die zivile Seenotrettung die Schmuggler regelrecht motiviert, noch verantwortungsloser zu handeln?
Tatsächlich ergeben sich aus der Seenotrettung Dilemmata: Es ist das Prinzip von Angebot und Nachfrage – je mehr Flüchtlinge direkt vor der Küste geborgen werden, desto größer ist die Gefahr, dass Schmuggler die Menschen weiterhin in seeuntaugliche Boote setzen. Gleichzeitig wird die Überfahrt immer teurer und die Schiffe immer schlechter, wenn die Marine und die Küstenwache Schleuserboote zerstören. Doch die Not der Menschen nimmt zu und die Ursachen für Flucht und erzwungene Migration. . Die Flüchtenden kommen ums Leben, weil die Grenzen immer schärfer bewacht und Fluchtwege blockiert werden und sie den gefahrenvollen Weg über das Mittelmeer nehmen müssen.
Aber erhöht die Seenotrettung nicht die Risikobereitschaft der Menschen?
Die Menschen begeben sich nicht in Lebensgefahr, weil sie die Rettung erwarten. Sie riskieren die Überfahrt, weil sie dem Tod entrinnen wollen und auf der Suche nach Sicherheit und einem Leben sind, das nicht von Gewalt und Krieg geprägt ist. Anders herum gesagt: der Tod von Flüchtenden auf hoher See ist zwar ein schreckliches, aber den Schutzsuchenden durchaus bekanntes Risiko, das zukünftige Überfahrten nicht verhindert.
Die EU verlagert Grenzen, um sich zu schützen. Wie bewerten Sie das?
Weder der EU-Türkei Deal noch die Kooperationen mit afrikanischen Staaten, wie Libyen oder Ägypten tragen dazu bei, die Notlagen der Menschen zu beenden oder zu mildern. Durch diese Abkommen werden Grenzen vorverlagert. Sie verhindern nicht, dass Menschen fliehen müssen, sondern verschärfen und verlagern humanitäre Krisen. Sehr kritisch sehen wir auch die Versuche, das Non-Refoulment-Gebot zu unterlaufen, indem Schutzsuchende in „sichere Zonen“ außerhalb der EU oder in als sicher erklärte Drittstaaten verbracht werden. Das muss aufhören. Aus unserer Sicht ist auch die Türkei kein sicherer Drittstaat.
Wer bringt „gerettete“ Flüchtlinge nach Afrika zurück?
Momentan greift die libysche Küstenwache die Geflüchteten in der 12-Meilen Zone auf und bringt sie zurück. Das ist auch Ziel der EU-Politik. Dabei bleiben die Menschenrechte der Geflüchteten auf der Strecke. Es ist hinlänglich bekannt, welche Zustände in Libyen herrschen. Wenn sie nicht eingesperrt werden, versuchen diese Menschen in wiederholten Anläufen die Mittelmeer-Route zu nutzen. Es werden auch weitergehende Vorschläge öffentlich diskutiert, dass europäische Marine Flüchtlingsboote in internationalen Gewässern auf dem Weg nach Europa abfängt und nach Nordafrika bringen – zum Beispiel nach Libyen oder Ägypten. Das steht im Widerspruch zum Völkerrecht. Unter keinen Umständen dürfen europäische Schiffe in Seenot geratene Flüchtlinge zurück in die afrikanischen Transit- und Herkunftsstaaten schicken. Im Jahre 2012 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem wegweisenden „Hirsi-Urteil“ klargestellt, dass die Menschenrechte auch auf der Hohen See gelten. Sobald sich Flüchtlinge auf einem europäischen Schiff befinden, unterstehen sie der effektiven Kontrolle des jeweiligen Staates. Dieser muss den Flüchtlingen einen Zugang zum Asylverfahren garantieren.
Welche Politik erwarten Sie von der EU?
Notwendig ist eine menschenrechtsbasierte europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik, die solidarisch innerhalb der EU ist und der völkerrechtlichen Verpflichtung den Menschen gegenüber gerecht wird. Verfolgte und geflüchtete Menschen haben ein Recht auf Schutz und Aufnahme. Auch die zivile Rettung von Schutzsuchenden auf dem Mittelmeer gehört dazu. Nichtstaatliche Seenotrettungsorganisationen müssen unterstützt werden, statt diskreditiert und kriminalisiert zu werden. Es müssen dringend alternative Fluchtwege eingerichtet werden, also eine geordnete Aufnahme von Geflüchteten durch Resettlement-Programme. Wir fordern nach wie vor die Vergabe von humanitären Visa, aber auch Möglichkeiten zur regulären Arbeitsmigration für Drittstaatsangehörige. Denn Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Not aus ihrer Heimat fliehen, werden sonst weiterhin ihr Leben auf der Mittelmeerroute riskieren, solange sie nicht auf sicheren Wegen in die EU gelangen.