Hier sind wir uns wahrscheinlich alle schnell einig: Ohne die Zivilgesellschaft – ihre Anstöße, ihre Expertise, ihren langen Atem und nicht zuletzt ihre Wachsamkeit - wäre es heute um Umwelt-, Arbeits- und Sozialstandards und Menschenrechte weltweit schlechter bestellt.
Ohne die Anti-Atomkraftbewegung wäre es kaum zur Energiewende gekommen und ohne die Aktivisten der Lesben- und Schwulenbewegung wäre die Ehe für Alle nicht auf den Weg gebracht worden. Ohne den unermüdlichen Einsatz des späteren Nobelpreisträgers Kailash Satyarthi und seiner und anderer Organisationen gegen ausbeuterische Kinderarbeit wären Kinderrechte heute nicht ein Thema auf UN-Ebene. Ohne den Druck der südafrikanischen ‚Treatment Action Campaign‘, der dazu führte, dass das südafrikanische Verfassungsgericht die Regierung verpflichtete, die Existenz von HIV/Aids anzuerkennen, einen nationalen Aktionsplan aufzulegen und vorsorgenden Schutz gegen die Mutter-Kind-Übertragung des Virus‘ zuzulassen, hätten Hunderttausende Kinder in Südafrika keine Aids-freie Zukunft. Die beiden letztgenannten Organisationen hat Brot für die Welt im Übrigen maßgeblich unterstützt.
"Es braucht eine wache, handlungsfähige Zivilgesellschaft um Fortschritte zu erzielen!"
Zivilgesellschaftliche Akteure sind häufig an der Spitze von Gesetzes- und Politikreformen und setzen soziale, umweltpolitische und menschenrechtliche Agenden in Gang – jene Agenden, die dringend erforderlich sind, um nachhaltige Entwicklung auf den Weg zu bringen. Gerade da, wo Staaten ihre Verantwortung dafür nicht angemessen oder gar nicht wahrnehmen, wo sie zwischenstaatliche Entwicklungsgelder lieber in die eigene Tasche stecken, statt damit soziale und Rechtssicherheit für die Bevölkerung herzustellen und wo sie die Gemeingüter verschleudern, braucht es eine wache, handlungsfähige Zivilgesellschaft, um endlich die Fortschritte zu erzielen, die den bisherigen Bemühungen der Vereinten Nationen zur Armutsbekämpfung versagt blieben.
Aufbau von starken Zivilgesellschaften fördern
Nach Auswertung der Erfolge und Misserfolge der Millennium Development Goals haben die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen genau aus dieser Erkenntnis heraus die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen für das Erreichen der nachhaltigen Entwicklungsziele bis 2030 („SDGs“) sehr stark betont. Deren unabhängigen Analysen der Ursachen von Blockaden und der konkreten politischen Handlungserfordernisse –häufig nicht nur an die eigene Regierung gerichtet, sondern auch an die UN-Gremien in ‚Schattenberichten‘ – helfen, die entwicklungskritischen Prozesse voranzubringen. Sie haben eine zentrale Monitoringfunktion in ihrem Land, dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und bekämpfen Korruption. Sie klagen Transparenz und Rechenschaftspflichten ein, bringen neue Initiativen und Ideen, aber auch Politik- und Rechtsreformen voran. Sie bringen die Anliegen und Stimmen besonders ausgegrenzter Gruppen zu Gehör - wie indigener Gemeinschaften, ethnischer und religiöser Minderheiten, von Menschen mit Behinderungen, Migrant/innen und Kindern. Wenn die Anliegen dieser marginalisierten Gruppen bei lokalen und nationalen Entscheidungen über die Entwicklung ihres Landes berücksichtigt würden, dann wäre das ein wichtiger Beitrag dazu, dass wirklich „niemand zurückgelassen wird“ (to leave no one behind), wie das Ziel der Agenda 2030 lautet. Zivilgesellschaftliche Akteure sind Treiber sozial und ökologisch nachhaltiger Entwicklungsprozesse! Genau deshalb unterstützen Brot für die Welt, Misereor, Medico international und andere seit Jahrzehnten den Aufbau einer starken Zivilgesellschaft. Auch das ist ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘!
Ambitionsniveau muss gehalten werden
Genau diese aktive Zivilgesellschaft ist auch nötig, um mit der Umsetzung der 17 Ziele der Agenda 2030 voran zu kommen. Sie müssen bei der Umsetzung der einzelnen Ziele und bei der Überprüfung der nationalen Umsetzungsfortschritte eine wichtige Rolle einnehmen und Öffentlichkeit über den Umsetzungsstand herzustellen. Nur so kann das Ambitionsniveau bei der Umsetzung gehalten werden. Das gilt ebenso für die Umsetzung des Internationalen Klimaabkommens von Paris! Man kann gerade in den USA beobachten, wie zivilgesellschaftliche Akteure versuchen, die Einhaltung des Pariser Abkommens doch noch voranzubringen.
Wenn nun in immer mehr Ländern – auch Mitgliedern der G20 - die Handlungsfähigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen systematisch eingeschränkt wird und sie am Empfang internationaler Gelder gehindert werden, dann wird sich das massiv auf die Entwicklungsaussichten dieser Länder auswirken. Sind es doch häufig auch diese Organisationen und die Gelder, die sie von ihren internationalen Partnern bekommen, die die Aufgaben im Bereich Bildung, soziale Sicherung und Armutsbekämpfung erfüllen, die ihre Regierungen vernachlässigen – unsere Partner zum Beispiel! Vermutlich hoffen Staaten, die ihren NROs den Empfang ausländischer Entwicklungshilfegelder verwehren, auch auf den Nebeneffekt, dass die Entwicklungs-Gelder der europäischen Länder und der EU stattdessen umfangreicher in ihre eigenen Taschen und die Taschen ihrer Günstlinge fließen….
Kritische Nachfragen an Regierungen notwendig
Regierungen, die nun nach den beiden großen Selbstverpflichtungsabkommen zur Entwicklungsagenda und zum Klimaschutz die Handlungsspielräume für ihre Zivilgesellschaft einschränken, müssen sich den Vorwurf der Unwilligkeit oder gar des Boykotts gefallen lassen, Beschlüsse zu den SDGs und zum Klimaschutz ernsthaft umzusetzen. Das darf die Gebergemeinschaft, das dürfen die Vereinten Nationen nicht unkommentiert lassen und dem dürfen sie nicht untätig zusehen. Und dazu muss Deutschland auch die Mitglieder der G 20 kritisch befragen, die sich mit den G 20 zur Hungerbekämpfung und Afrika-Compacts aus dem Fenster lehnen wollen, aber der Zivilgesellschaft im eigenen Land keine Chance lassen, die für nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz erforderliche Rolle zu spielen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen sind es auch, die in vielen gesellschaftlichen und politischen Krisen Initiativen ergreifen, um Plattformen und Dialogformate aufzubauen, damit die beteiligten Gruppen ihre Konflikte friedlich austragen. Anders als ihre Regierungen betreiben sie aktive Friedens- und Demokratieerziehung, Wahlaufklärung und Wahlbeobachtung. Ich kenne viele Beispiele aus unserem Partnerumfeld, die auf diese Weise zur Gewaltprävention beigetragen haben. Eine aktive Zivilgesellschaft durch Repressionen aller Art zu zerstören, heißt auch das Potential für Krisenprävention und Mediation zu zerstören und damit die Zahl von Gewaltkonflikten – und damit auch von Flüchtlingen - weltweit potentiell zu erhöhen.
Erwartungen an G20-Partner aussprechen
Der G20-Gipfel unter deutscher Präsidentschaft bietet der Bundesregierung die Möglichkeit, öffentlich für die Stärkung der Zivilgesellschaft weltweit einzutreten und auch entsprechende Erwartungen an ihre G 20-Partner auszusprechen. Entwicklung, Klimaschutz, Frieden brauchen die Teilhabe der Bevölkerung – weltweit und bei uns. Auch die Bundesregierung muss die Rahmenbedingungen für die transparente, umfassende und entscheidungsrelevante Partizipation der deutschen Zivilgesellschaft schaffen. Eine unabhängige und kritische Beobachtung der Aktivitäten zur Zielerreichung und eine erfolgreiche Watchdog-Rolle im Rahmen der Agenda 2030 und des Pariser Klimaabkommens kann es daher nur geben, wenn die politische Kultur kritische und unabhängige Stimmen erlaubt und wertschätzt – bei uns und weltweit.
Unsere Forderungen:
1. Wir fordern Partizipationsmechanismen für einen regelmäßigen und verlässlichen Dialog zwischen Bundesregierung und Zivilgesellschaft über die Umsetzung und die Überprüfung der Agenda 2030 zu schaffen. Ziel muss es sein, alle relevanten Spektren der deutschen Zivilgesellschaft einzubeziehen.
2. Und wir fordern die Bundesregierung auf, sich in Regierungsverhandlungen, im Rahmen der Vereinten Nationen und auf internationalen Konferenzen und Treffen - wie auch jetzt beim G20-Gipfel in Hamburg- für eine Stärkung der Zivilgesellschaft und ihre uneingeschränkte Einbeziehung in die Umsetzung der Agenda 2030 und des Pariser Klimaschutzabkommens einzusetzen.