In der zweiten Hälfte der 80er Jahre haben wir Frauenreferentinnen von Missionswerken und Entwicklungswerken an einer Studie der Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst (AGKED) über die Situation in Entwicklungsländern und die Rolle von Frauen in der Entwicklung ihrer Gesellschaft mitgewirkt. Unser Interesse am Thema hatte sicher auch mit unserem Kampf in der eigenen Gesellschaft um Gleichberechtigung zu tun.
Seitdem ist viel passiert und Gendermainstreaming ist in der Projektarbeit kirchlicher Entwicklungswerke längst zu einer Art Routine geworden. So stark zur Routine, dass manche junge Mitarbeitende in Entwicklungswerken kaum mehr wissen, wie dramatisch es um die Gendergerechtigkeit global steht und wie wichtig mehr Einsatz für das Empowerment und die Gleichberechtigung von Frauen noch immer ist. Vielleicht ist ihr Interesse daran auch geringer, weil das Thema ‚gleiche Rechte und Chancen’ für Frauen im eigenen Leben kaum mehr als ein so drängendes Thema empfunden wird, wie in den 70er und 80er Jahren. Mission completed? Zeit, sich stattdessen im Kontext von Gender anderen, bzw. sich nur noch spezifischen Einzel-Gruppen und Themen zuzuwenden? Wiederum denen, die gerade in unserer Gesellschaft angesagt sind – wie z.B. das Frauenbild im Islam, die Konstruktion von Geschlechtlichkeit und LGBTI? Liest man die neue Generation der Genderstrategiepapiere europäischer Entwicklungswerke, könnte man es fast meinen. Gleiche Rechte und Chancen für 50% der Menschheit: Mission completed?
Mehrheit der Weltbevölkerung muss auf Rechte verzichten
Die Realität sieht weltweit anders aus! Dass wir als Frauen – mindestens in den westlichen und nördlichen Teilen Europas – deutlich besser dran sind als die Mehrheit der Frauen weltweit, sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die mangelhafte Teilhabe von Frauen an den Ressourcen und sozialen, ökonomischen und politischen Chancen und Prozessen eines Landes, dass ihre weitest gehende Rechtlosigkeit weltweit noch eines der größten Gerechtigkeitsprobleme ist. Es sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen dass sie überproportional unter allen Formen von Gewalt zu leiden haben. Über 50% der Weltbevölkerung muss nach wie vor auf ihre Rechte und körperliche Unversehrtheit verzichten – und trägt doch nach wie vor die Hauptlast der Versorgung der Familien und der landwirtschaftlichen Produktion weltweit! Nicht zufällig adressieren die SDGs dies unter Ziel 5 eindringlich: Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen.
„Die Frauen bereiteten das Essen, am Tisch Platz nehmen durften sie nicht. Sie dürfen nicht einmal zum Abschmecken vorab etwas von dem Essen für die Männer, Söhne und Gäste in den Mund nehmen.“
Ein Besuch bei Kirchen in Nigerias Norden, wie ich ihn gerade hinter mir habe, ruft das anschaulich in Erinnerung: Die Inferiorität der Frauen und ihre Nicht-Teilhabe und Rechtlosigkeit in der Gesellschaft - und in den Kirchen als Teil davon - ist umfassend und greifbar. Es beginnt mit ihrer Unsichtbarkeit – als Ausdruck ihrer Minderschätzung und rein dienenden Rolle: Bei Terminen mit den Leitungsgremien von Kirchen fehlten Frauen entweder gänzlich oder sie waren nur als Chor oder Catering-Team oder ganz vereinzelt als Vertreterinnen der Frauenarbeit schweigend anwesend. Ihre aktive Teilnahme am Gespräch war nicht vorgesehen. Ihre Erfahrungen, Analysen, Perspektiven und Potentiale – z.B. als Friedensstifterinnen – kamen bei keinem Gespräch zu Gehör. Eingeladen in Dörfer und Privathäuser traten Frauen nur auf mehrfache und ausdrückliche Aufforderung aus dem Hintergrund, weil wir auf ihrer Begrüßung insistierten. Sie näherten sich stets gebückt, mit gesenktem Haupt und sehr tiefen Knicksen, bisweilen schon fast Kniefällen den Kirchenführern und den Gästen. In Wohnzimmern hingen Bilder der Söhne der Familie, nicht auch der Töchter.
Die Frauen bereiteten das Essen, am Tisch Platz nehmen durften sie nicht. Sie dürfen nicht einmal zum Abschmecken vorab etwas von dem Essen für die Männer, Söhne und Gäste in den Mund nehmen. Ihnen kommen nur die Reste vom Tisch der Herren und ihrer Gäste zu. In einer theologischen Ausbildungsstätte saßen die ganz wenigen Studentinnen in der letzten Reihe der Aula, wo wenig zu sehen und zu hören war vom Geschehen auf der Bühne.
Die hierarchische Gliederung der Gesellschaft Nigerias ist insgesamt ohnehin sehr ausgeprägt und kulturelle Traditionen halten die Frauen als schwächste Glieder der Hierarchie in ihrer Inferiorität und Unsichtbarkeit gefangen – quer durch alle Religionen. Wenige Frauen bekommen eine Chance auf eine akademische Ausbildung und noch weniger auf eine ihrer Ausbildung entsprechende Stelle, die allerwenigsten auf eine Leitungsposition. Selbstbestimmungsrechte oder Besitzrechte haben sie keine – so wie Deutschlands Frauen noch bis zur großen Strafrechtsreform unter der Brandt- Regierung 1969. Und so weiter, und so weiter...
Mission completed?
Dabei stellen die Frauen Nigerias die große Mehrheit der ca. 1,8 Mio. Menschen, die durch die Gewalttaten von Boko Haram und den - „ Fulani“ genannten - Hirtennomaden gezwungen wurden, Haus und Hof zu verlassen. Viele von ihnen sind nach der Ermordung der Männer und älteren Söhne nun in den niedergebrannten Dörfern im Norden oder auf der Flucht allein für die Versorgung und den Schutz der Kinder und Alten verantwortlich – ohne irgendwelche Versorgungsansprüche, Ressourcen oder Rechte.
Was übrig geblieben ist vom Besitz, z.B. Land, ist den männlichen Verwandten des ermordeten Mannes zugefallen. Die Frauen samt ihrer Kinder gehen leer aus. Sie leben von dem, was Kirchengemeinden oder NGOs ihnen geben können – viele am Rande des Verhungerns. Ihre reale und empfundene Ohnmacht ist dramatisch – psychisch als Traumaopfer, aber auch wirtschaftlich. Sie haben keinerlei Lobby und selbst in den Camps für intern Vertriebene erhalten sie quasi nichts. Leicht vorstellbar, wie Männer von solcher Bedürftigkeit Gebrauch machen können. Schwer vorstellbar, wie Frauen, die vor jedem Mann knicksen und in ihrem Selbst- und Rollenbild davon ausgehen, dass sie Männern unbedingt gehorchen und dienen müssen, unter diesen Umständen ohne externe Unterstützung einen für sie und ihre Kinder heilsamen Weg finden können.
Frauen in Nigeria brauchen Solidarität
Die Nöte, Bedarfe und Perspektiven von Frauen sichtbar zu machen, sie dabei zu unterstützen, damit wahr und ernst genommen zu werden, Empowerment-Programme und Traumabehandlung für Frauen, Einkommen schaffende Maßnahmen, die Durchsetzung von Rechten für sie, Schutz und Versorgung von Frauen und Kindern in den Camps und in Gastgemeinden – das alles sind und bleiben zentrale Aufgaben für die Entwicklungszusammenarbeit und die humanitäre Hilfe. Sie sind nicht zu erledigen mit der formalen Anforderung eines „Gendermainstreamings“ in jedem Programm. Die ist nur der Anfang! Die gute Nachricht lautet: da, wo Projektpartner von uns – sicher nicht zuletzt durch unsere Impulse des Gendermainstreaming – Frauen in Führungspositionen gebracht haben, spielen Frauen auch als Zielgruppen in der Arbeit eine viel stärkere Rolle: z.B. als Friedensstifterinnen! Unser und ihr Einsatz kann viel verändern. Die Frauen in Nigeria brauchen unsere Solidarität.
Mission goes on!