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Millionen für den Niger

Niger hat in den letzten Monaten eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt. Bis zu 8000 Menschen durchqueren von hier aus wöchentlich die Wüste mit der Hoffnung auf ein besseres Leben – in Europa, oder doch zumindest im Maghreb. Kann das arme Land im Sahel von Europas Migrationspolitik profitieren?

Von Uta Bracken am

Niger liegt am Rand der Sahara und ist darum schon immer ein Durchzugsland gewesen. Auch die Bewohner des Niger sind sehr mobil. Wandernde Viehalter und Händler machen einen Großteil der Bevölkerung aus, also Volksgruppen, die darüber hinaus im gesamten Sahelraum zu finden sind. Seit 2016 gibt es im Niger massive Reisebeschränkungen für die meist westafrikanische Migranten und Migrantinnen und umfangreiche Finanzierungszusagen aus Europa, die damit in Zusammenhang stehen. Auf meiner Reise in den Niger wollte ich wissen, was die Menschen über diese jüngeren Entwicklungen denken und wie sie die Maßnahmen in ihrem Alltag spüren, die Migration einschränken sollen.

Niger als afrikanischer Wachtposten Europas?

Im Zentrum europäischer Aufmerksamkeit sieht sich Niger nun vor die Aufgabe gestellt, die aus ganz Westafrika nach Niger kommenden jungen Menschen an der Weiterreise durch die Wüste zu hindern. Aus nigrischer Regierungssicht hat der Staat den Anspruch und die Aufgabe, Menschen zu schützen. Deswegen wird die häufig menschenunwürdige und lebensgefährliche Beförderung von Migranten und Migrantinnen durch die Wüste unter Strafe gestellt. Maimouna Gazibo, Direktorin der nationalen Behörde zur Bekämpfung von Menschenhandel schildert das eindringlich auf einer Dialogveranstaltung der nigrischen Zivilgesellschaft am 11. Februar 2017 in der Hauptstadt Niamey. Sie sagt, dass Transporteure und Fahrer nun zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn ihre Passagiere in der Wüste elend sterben, weil das Fahrzeug eine Panne hatte oder es zu wenig Wasser gab. Daher sei dieses Gesetz (loi 2015-36) nach zweijähriger Bearbeitung in 2016 endlich verabschiedet worden. Zivilgesellschaftliche Gruppen wie die „Alternative Espace Citoyens“ kritisieren, dass die Verabschiedung dieses Gesetzes eher den migrationspolitischen Interessen der EU diene. Nach dem jetzigen Gesetz sei es bereits kriminell, wenn Ausländer jenseits einer Linie nördlich von Agadez befördert werden. Diese Kritik scheint sich zu bestätigen, denn die vermeintlichen Erfolge des Niger beim Kampf gegen „illegale Migration“ werden mit reichhaltigen EU- Mitteln bedacht. Sie fließen zur „Abfederung der negativen Folgen der Migration“. Im Niger macht sich der Eindruck breit, dass sich das Land damit von Europa als Grenzposten instrumentalisieren lasse.

Millionenzusagen von der EU

Die EU berücksichtigt dabei Einnahmeeinbußen des Niger, die das Land durch seine restriktivere Politik erfährt. Aus Projektunterlagen geht hervor, dass Europa mit mehr als 100 Millionen Euro migrationsbezogene Projekte im Niger finanziert. Hinzu kommen Kooperationen im Sicherheitssektor, die auch der Grenzsicherung dienen. Dabei werden auch Maßnahmen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) finanziert. Die IOM unterstützt und berät Menschen, die im Niger auf ihrer Durchreise gestrandet sind. Andere Auftragnehmer der EU sind deutsche, spanische, französische und italienische Durchführungsorganisationen. Das sind große internationale Nichtregierungsorganisationen (NROs)wie die Lutheran World Federation und einige nigrische NROs wie zum Beispiel Karkara. Jeder soll seine besondere Expertise einbringen. Die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) führt das Programm „ProGEM“ durch, um entlang der Transitroute Tahoua-Agadez-Arlit-Tabelot „das Management der Migrationsherausforderung zu verbessern“. Die GIZ knüpft dabei an bestehende Projekte in der Nähe von Zinder an, durch die viele Jahre kommunalpolitische Dezentralisierungsprozesse gefördert wurden. Gemeinsam mit Bürgermeistern und der lokalen Administration sollen die Folgen der Migration in den Blick genommen werden. Doch zunächst geht es dabei um die Ausbildung der lokalen Vertreter und um Investitionen. Allerdings mit einem Budget, das überdimensioniert anmutet! Nach Aussage der deutschen Botschaft im Niger erhielten die 265 Kommunen im Jahr 2016 aus dem zentralen Haushalt im Schnitt 6.400 Euro, um ihren Verpflichtungen nachzukommen und kommunale Projekte umzusetzen. Das Projekt ProGem dagegen will in drei Jahren in Zusammenarbeit mit 12 Kommunen ein Gesamtbudget von 28 Millionen Euro umsetzen. Die Frage stellt sich, ob ein solches Vorhaben dem Dezentralisierungsprozess insgesamt schadet. Seit vielen Jahren sind Kommunalwahlen überfällig, was ein Indikator für einen eher schleppenden Prozess ist. Welche Rolle kommt nun den Bürgermeistern und Kommunalvertretern wirklich zu? ProGem scheut im Gespräch Antworten auf diese Fragen.

Andere Maßnahmen betreffen Ausbildung und Einkommensmöglichkeiten im Norden des Landes. Leider ist die Bilanz bisher wenig erfolgreich, über Projektinterventionen alternative Einkommensmöglichkeiten für junge Menschen zu schaffen, die aus einer mobilen Viehhaltertradition kommen. Ihre Region Agadez ist mit einem Einwohner je Quadratkilometer sehr dünn besiedelt, umfasst aber fast die Hälfte der Fläche des Niger. Die lokale Bevölkerung hat sich in den letzten Jahrzehnten immer wieder auf neue Möglichkeiten eingestellt, mit denen sie ihre speziellen Kenntnisse über die Wüste zu Geld machen konnte. Dazu gehörten die Arbeitsmigration, Söldnerdienste unter dem Regime Ghaddafis, der bis 2007 florierende Tourismussektor oder der Transportsektor, in dem neben Gütern auch Schmugglerware und Migranten und Migrantinnen befördert wurden. Einige wenige erzielen durch Gemüseanbau in den fruchtbaren Oasen im Airgebirge gute Einkommen. Noch geringer ist der Anteil derer, die bei der französischen AREVA oder anderen Minenunternehmen im Uranbergbau arbeiten. Viele dieser Einkommensquellen sind jedoch seit 2007 versiegt und auch die Überweisungen von migrierten Angehörigen aus Libyen sind seit Ghaddafis Sturz ausgeblieben. Trotzdem ist es nicht wie im Nachbarland Mali zu nennenswerter Gewalt gekommen, obwohl viele bewaffnete Söldner und Migranten und Migrantinnen aus Libyen geflüchtet sind. Ein großer Teil der zurückgekehrten Nigrer ist vermutlich im Transportgeschäft untergekommen oder hat durch das Goldschürfen ein Auskommen gefunden. Seit einigen Jahren ziehen die vielen Goldminen um die Stadt Dirkou im extremen Norden junge Menschen an. Seit 2016 sind diese Gebiete jedoch militärisch abgesperrt und Kleinschürfern ist der Goldabbau verboten. Wüstentransporte aller Art sind nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich, darunter natürlich der Transport von Migranten und Migrantinnen und der Schmuggel. Diesen Menschen werden nun Ausbildungen beispielsweise als Handwerker angeboten. Werden sie sich darauf einlassen?

Die GIZ-Mitarbeitenden im Programm „Ziviler Friedensdienst zu grenzüberschreitende Transhumanz“ verweisen darauf, dass Jugendlichen aus dem Viehhaltermilieu eine Perspektive geboten werden muss. Diese strukturelle Herausforderung  würde bisher nicht erkannt und im Rahmen der großen Projektvorhaben zu Migration nicht bearbeitet. Dabei finden sich diese Jugendlichen in großer Zahl genau dort, wo mit Schlagzeilen die Sicherheitslage beklagt wird. Sie schließen sich Boko Haram und anderen extremistischen Gruppen an, sie überfallen Reisende auf Landstraßen oder sind im Transportwesen und im Schmuggelgeschäft tätig. Das betrifft den Transport von Migranten und Migrantinnen genauso wie von Drogen und Waffen, aber auch von Diesel oder Nahrungsmitteln aus Algerien und Nigeria.

Nothilfelogik und Konzentration von Hilfsgeldern auf den Norden

Wie zuletzt bei der sogenannten Tuaregrebellion im Jahr 2007 im Norden des Niger sind auch jetzt Spannungen in der nigrischen Gesellschaft spürbar. Wieder profitiert die Region Agadez von einem massiven Geldsegen. Als nach der Rebellion Wiederaufbaumaßnahmen beschlossen worden waren, die der Region zu mehr Stabilität verhelfen sollten, hat die Bevölkerung in anderen Landesteilen diese Sonderbehandlung „des Nordens“ als extrem ungerecht empfunden. Internationale Nothilfeorganisationen prägen das Land seit vielen Jahren. Daraus hat sich eine spezifische Geber-Empfängerlogik entwickelt, die sich gleichzeitig auf das zivilgesellschaftliche Engagement auswirkt nach dem Motto: „Gemacht wird, was finanziert wird“. Insbesondere der NRO-Sektor lebt davon, sich auf die aktuellen Themen der internationalen Geber einzustellen und Projektangebote zu erarbeiten, anstatt eigene Analysen durchzuführen und die eigenen Bedürfnisse geltend zu machen. Nigrische Organisationen bieten sich als Dienstleister an, ob zu Bildung, Rohstoffgovernance, Radikalisierung oder jetzt eben zu Migration. Für die Entwicklung des Landes ist diese Rollenverteilung fatal. Selbsthilfeimpulse werden im Kern erstickt, denn jede Entwicklungsmaßnahme wird durch eine Transferleistung „vergütet“. Eine kritische Zivilgesellschaft ist, wenn überhaupt, im Gewerkschaftsbereich oder unter den Journalisten zu finden. Aber hier dominiert der Klientelismus auch. Journalisten haben nicht die Mittel, eigene Recherchen durchzuführen. Die Migrationsmillionen verstärken diesen Trend weiter. Kritische Stimmen werfen dem nigrischen Staat vor, er habe die „Vergütung“ nicht gut genug verhandelt, die er für seine Wächterleistung von der EU und anderen bekomme. Mit den Auswirkungen der nigrischen Anti-Migrationspolitik auf die Bevölkerung beschäftigen sich bisher nur wenige unserer Gesprächspartner.

Welche Auswirkungen hat Migration wirklich im Niger?

Die Anti-Migrationspolitik, darin sind sich die meisten Gesprächspartner einig, hat vor allem negative Auswirkungen auf den Niger. Das Land kann in Zeiten guter Ernte lediglich etwa 30 Prozent seines Nahrungsmittelbedarfs aus eigener Kraft decken. Zu den Überlebensstrategien der Haushalte gehört daher die Wanderung. Die einen ziehen mit den Herden auf der Suche nach Weidegründen und Wasserstellen mal nach Norden, mal nach Süden. Andere suchen in der Trockenzeit, wenn die Felder nicht bestellt sind, nach einem Zuverdienst in der Stadt oder in Nachbarländern, wieder andere landen bei der Suche nach bezahlter Arbeit auf Plantagen in der Elfenbeinküste, in Ghana, Benin oder Nigeria. Diese Nachbarländer, aus denen viele Migranten und Migrantinnen kommen, reagieren nun ebenfalls mit rigiden Grenzkontrollen. Die eingeschränkte Mobilität in der Region und auf der Route Richtung Sahara stellt den nigrischen Handel sowie Viehalter vor große wirtschaftliche Probleme.

Unter denen, die direkt von der Migration profitiert haben, sind nicht nur die Transporteure in der Wüste, die sogenannten Schlepper. Auch ganz reguläre Transportunternehmen haben ihren Umsatz gesteigert. Die Zahl der Busunternehmen im Niger hat sich in den letzten zehn Jahren vervielfacht, was vor allem auf die Liberalisierung des Transportsektors zurückgeführt wird. In Agadez und anderen Transitstädten im Norden des Landes hat sich eine ganze Ökonomie um die Migration entwickelt, die die Versorgung, Ausrüstung und Unterbringung derjenigen sicherstellt, die die Wüste durchqueren wollen. Diese Haushaltseinkommen fallen nun weg, da entsprechende Dienstleistungen mit dem Gesetz zur Migrationsbekämpfung unter Strafe gestellt, zahlreiche Unterkünfte, sogenannte „ghettos“ geschlossen und Fahrzeuge beschlagnahmt wurden.

Was bedeutet das für den Niger? Werden sich die jungen Toubou und Tuareg erneut bewaffnen? Wie attraktiv ist es, sich religiös verbrämten Terrorgruppen anzuschließen, wie dies in der Region Diffa zu beobachten ist, wo seit zwei Jahren unter dem Ausnahmezustand hoch prekäre Verhältnisse herrschen? Albert Chaibou, Journalist und Mitarbeiter bei „Alternative Espace Citoyen“ berichtet, dass die Durchquerung der Wüste zunehmend von Ausländern organisiert wird. Die Routen werden aufgrund der neuen Gesetzgebung gefährlicher und die Fahrten finden bei Nacht statt - unter Umgehung der Kontrollen. Darum steigen nun professionelle Schmuggler aus dem Drogen- und Waffensektor in das Migrationsgeschäft ein. Dennoch bezweifelt er, dass es weniger Migranten und Migrantinnen werden, die ihr Glück versuchen.

Menschenrechtsgruppen wie die Dachorganisation CODDHD berichten von Übergriffen der Armee und der Sicherheitsbehörden auf Migranten und Migrantinnen. Die Kontrollen haben sich massiv erhöht, bei denen die Polizei Passiergelder einfordert und die Leute auf menschenverachtende Weise durchsucht  - so die Vorwürfe, die laut werden. Augenzeugen berichten, wie Menschen aus Nachbarländern aus dem Reisebussen geholt und zur Kasse gebeten werden. Die Weiterfahrt kostet 10.000 FCFA, und allein zwischen der burkinischen Grenze Makalondi und Niamey ist dieser Betrag dann  mindestens drei Mal fällig. Wegen dieser ständigen Kontrollen verlängern sich Busfahrten um zwei bis drei Stunden. Steigende Korruption und Vertrauensverlust in die Rechtsstaatlichkeit sind die Folgen, die auf ein bereits extrem fragiles Staatswesen treffen.

Desintegration des ECOWAS Raums: politische, wirtschaftliche und soziale Folgen

Dass die Rechtssicherheit für Reisende innerhalb der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS schwindet, darüber wird immer häufiger berichtet. Die Grenzkontrollen in der gesamten Region verschärfen sich – das erleben Viehhalter mit ihren Herden, junge Leute aus ländlichen Gegenden, die in Nachbarländern arbeiten möchten und Kleinhändler. Also diejenigen, die auf grenzüberschreitende Mobilität angewiesen sind. In der Vergangenheit wurden dagegen Ausweispapiere innerhalb der ECOWAS nur ganz punktuell geprüft. Nun aber stehen Nigrer vor verschlossenen Toren, weil sich auf dem Weg in die Küstenländer nicht ausreichend ausweisen können. Die Region ist zunehmend von Misstrauen geprägt. Nigrischen Reisenden werden als potenzielle Terroristen gesehen und Reisende aus Nigeria, Benin, Togo und Ghana dagegen als potenzielle Migranten und Migrantinnen. Darum sind sie sozusagen nicht mehr legitimiert, die Grenzen zu überschreiten. Im Niger, aber auch in Burkina Faso haben sich die Polizeikontrollen in der Nähe von Grenzen vervielfacht. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der erschwerten bzw. verunmöglichten Grenzübertritte auf den Handel und die Familieneinkommen werden bisher nicht der EU-Migrationspolitik zugeschrieben. Die Integration des Wirtschaftsraums ECOWAS, vielfach gefordert auch vonseiten der EU, steht dort offenbar gegenwärtig nicht weit oben auf der Agenda.

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