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"Tiere werden wie Rohstoff behandelt"

„Das in Megabetrieben produzierte Fleisch schafft Hunger, statt ihn zu stillen“, so Frau Helmers von der Bürgerinitiative Wietze. Im Interview erklärt die Vorsitzende, warum sie sich engagiert und was die Initiative erreichen möchte.

Von Maike Lukow am

350 Millionen Hähnchen werden in Deutschland jährlich gemästet – 99 Prozent verbringen ihr kurzes Leben in Massentierhaltung. 22 bis 24 Tiere leben auf einem Quadratmeter. Seit 2011 ist im niedersächsischen Wietze Europas größter Geflügelschlachthof in Betrieb. Bis zu 27.000 Hähnchen können hier pro Stunde geschlachtet werden, 430.000 Tiere pro Tag. Die Bürgerinitiative Wietze wehrte sich gegen den Bau des Schlachthofs, konnte ihn aber nicht verhindern. Doch sie kämpft weiter.

Frau Helmers, Sie sind Vorsitzende der Bürgerinitiative Wietze. Warum engagieren Sie sich?

Ich bin ein politisch denkender Mensch und sehe, dass wir in unserer Industriegesellschaft vor eine Wende stehen: Das „Immer mehr, immer billiger“, dem sich auch das System der Geflügelindustrie verpflichtet, zerstört unsere Natur und Schöpfung. Doch wir dürfen diese nicht kaputt machen! Als im Jahr 2009 die Gerüchte aufkamen, dass in unserem Dorf ein Schlachthof gebaut werden soll, auf dem über 400.000 Hähnchen pro Tag getötet werden, habe ich angefangen nachzufragen. Je mehr ich dabei auf Widerstand stieß, desto hartnäckiger wurde ich. Schließlich haben wir 2010 die Bürgerinitiative gegründet.

Haben Sie sich schon immer gegen Massentierhaltung eingesetzt?

Natürlich wusste ich, dass es Massentierhaltung gibt. Mir war aber nicht das ganze System bewusst, das dahintersteht. Als die Pläne zum Bau des Schlachthofs bekannt wurden, haben wir uns gefragt, was bedeutet es für unseren Ort, wenn hier Tiere aus Massentierhaltung geschlachtet werden? Denn für die Auslastung eines so großen Schlachthofs müssen im Umkreis von 150 Kilometern mindestens 420 Mastställe mit je 40.000 Hähnchen errichtet werden. Steht der gesamten Region ein Strukturwandel bevor? Gibt es eigentlich zu wenig Fleisch bei uns, dass weitere Mastställe und noch ein Schlachthof nötig sind? Das hat den Blick auf den ganzen Kreislauf des Systems Geflügelindustrie gelenkt: der Anbau der Futtermittel in Brasilien, deutsche Landwirte, die als Zulieferbetriebe für bestimmte Schlachthöfe vertraglich zum Kauf von Küken und bestimmten Futtermitteln sowie zum Antibiotikaeinsatz gezwungen werden, der bevorzugte Verzehr von Brust und Keule bei uns, der Transport der Hähnchenreste nach Westafrika. Dort gelangen diese auf die Märkte, verunreinigt und nicht ausreichend gekühlt. Es geht uns nicht nur um den Ort, an dem wir leben, sondern um die Auswirkungen der deutschen Geflügelindustrie auf die ganze Welt.

Wer engagiert sich mit Ihnen in der Bürgerinitiative?

Wir sind Menschen, die sich sonst vermutlich gar nicht gemeinsam engagiert hätten: beispielsweise Tierschützer zusammen mit Landwirten, die Tiere halten, Tierärzte, die selbst Antibiotika verabreichen müssen, und Umweltschützer. Sie alle arbeiten zusammen. Insgesamt sind wir 600 Mitglieder, die meisten zahlen deutlich mehr als den Mitgliedsbeitrag.

Warum war der Bau des Schlachthofs in Wietze in den Augen der Bürgerinitiative falsch?

Der Landtag in Hannover hatte beschlossen, die Massentierhaltung in Niedersachsen auch aufgrund vorangegangener Proteste in anderen Orten weiter gen Osten zu verlagern. Darum fiel die Wahl auf Wietze, einhergehend mit dem Versprechen, in unserer strukturschwachen Region Arbeitsplätze zu schaffen. Heute kommt aber eine hohe Zahl der Schlachthof-Mitarbeiter über Zeitarbeitsfirmen, die bis zu 1,5 Jahren mit verschiedenen Zeitverträgen hingehalten werden. Viele der Angestellten kommen aus Osteuropa, nicht aus Wietze. Dazu kommt der immense Verbrauch von Trinkwasser durch den Schlachthof. Pro Huhn werden bei der Schlachtung sechs bis acht Liter Wasser verbraucht, vom öffentlichen Versorger. Wäre der Schlachthof wie geplant voll ausgelastet, würde er sogar 3,3 Millionen Liter Wasser am Tag verbrauchen! Außerdem wird durch den Schlachthof das Abwasser mit Stickstoff, Keimen, Nitrat und Chemikalien verunreinigt. Insgesamt wird mit dem Bau eines solchen Schlachthofs und damit einhergehender Errichtung neuer Megamastställe ein System befördert, das auf der ganzen Welt Existenzen und das Klima gefährdet. Das so produzierte Fleisch schafft letztlich Hunger, statt ihn zu beseitigen!

Wie sind Sie juristisch und politisch gegen das Bauvorhaben vorgegangen?

Juristisch hatten wir keine Möglichkeit, den Bau des Schlachthofs zu verhindern, auch wenn wir das natürlich geprüft haben. Der Schlachthof ist ein Industriebetrieb, der alle Auflagen einhält. Gegen einen Maststall können direkte Anlieger oder Umweltverbände klagen, etwa gegen die Nitratverseuchung des Bodens, Geruch usw. In einem Fall ist dies mit unserer Unterstützung gelungen, also bei einem Stall, der dem Schlachthof exklusiv Tiere zuliefern sollte. Insgesamt aber sind es eher die vielen kleinen Erfolge, die wir verzeichnen. Auch wenn der Schlachthof letztlich gebaut wurde, denken wir, dass wir gerade durch die Bürger- initiative so viel gesellschaftlichen Druck erzeugt haben, dass kaum Ställe in der Gegend als Vertragsbetriebe für den Schlachthof gebaut wurden. Bisher ist nur eine Schlachtstraße im Betrieb, auf der gut 200.000 Tiere pro Tag getötet werden – das ist viel, aber immer noch weniger als die geplanten 430.000 Tiere.

Sind die Verbraucher mit ihrer Nachfrage schuld, dass es überhaupt solche riesigen Schlachthöfe und Mastbetriebe gibt?

Es heißt ja immer, die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen billiges Fleisch und das sei eben nicht anders zu produzieren. Wenn wir aber beispielsweise an unseren Informationsständen mit Menschen auf der Straße ins Gespräch kommen, haben wir einen ganz anderen Ein- druck. Es ist wichtig, die Menschen aufzuklären und ihnen ihre Verantwortung beim Kauf von Lebensmitteln bewusst zu machen. Denn dieser hat Auswirkungen auf die ganze Welt. Wir müssen also Alternativen aufzeigen.

Welche ethischen Aspekte berührt die Massentierhaltung?

Die Tiere, die in einem Megaschlachthof wie in Wietze ihr Ende finden, werden wie ein Rohstoff behandelt. Die Massentierhaltung ist heute schlichtweg aus dem Ruder gelaufen. Natürlich ist artgerechte Haltung nicht nur von der Bestandsgröße abhängig. Doch Tierhaltung geht mit einer hohen Verantwortung einher, denn es handelt sich auch bei Nutztieren um Lebewesen und nicht um Güter. Bei dem aktuellen System der industrialisierten Geflügeltierhaltung und -schlachtung aber wird das nicht beachtet. Dort werden Tiere so gezüchtet, dass allein die ökonomische Effizienz eine Rolle spielt. Bauernhöfe werden so zu Agrarfabriken.

Wie haben die Landwirte in der Umgebung auf Ihre Bürgerinitiative reagiert?

Für die Auslastung des Schlachthofs braucht Rothkötter ja Mastbetriebe als Zulieferer. Der Kontakt mit den Landwirten war sehr unterschiedlich. Die Bauern aus der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V. (AbL) haben uns gezielt unterstützt. Einige Landwirte haben frustriert gefragt, was können wir denn anderes tun als mitzumachen? Der ökonomische Druck auf die Bauern ist groß. In der industriellen Landwirtschaft werden die Bauern zu immer mehr Masse genötigt. Wachsen oder weichen – das ist ihr Konflikt. Der Bauernverband beschimpft uns als blauäugig. Sie werfen uns vor, wir würden eine Landwirtschaft fordern, wie es sie vor 50 Jahren gegeben habe. Interessant ist, dass der Schlachthofbetreiber kaum Ställe in der Region gewinnen konnte, die für seinen Schlachthof produzieren wollen, trotz persönlicher Anwerbeversuche. Heute muss er Hähnchen sogar aus Dänemark anliefern lassen, um die Auslastung seiner Schlachtstraßen zu gewährleisten. Leider sterben viele Tiere schon auf dem langen Transportweg, sie verenden beispielsweise bei Stau im Elbtunnel oder auf den Autobahnen.

Welche Form der Landwirtschaft fordert die Bürgerinitiative?

Der Druck auf Landwirte ist heute hoch. Vielen steht das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Existenzsicherung soll vor allem über Masse funktionieren. Doch das liegt nicht allein in der Hand der Landwirte. Es ist eine politische Entscheidung, welche Art der Landwirtschaft wir haben und ob bei dieser immer nur auf Wachstum gesetzt wird. Das ist Aufgabe der Politik. Wir brauchen eine Agrar- wende hin zu einer bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft. Damit muss einhergehen, dass bäuerliche Betriebe faire Preise bekommen, kein Billigfleisch mehr auf die Märkte kommt, regional erzeugt statt für den Weltmarkt produziert wird und keine Reste mehr im Interesse der Schlachtkonzerne nach Afrika verschifft werden.

Was bedeutet das für die Konsumenten?

Die Verbraucher müssen sich daran gewöhnen, dass mit einer ökologischen Landwirtschaft auch höhere Preise einhergehen. Fleischlose Tage und der Verzehr saisonaler Produkte sind ein guter Schritt zu nachhaltigerem Konsum. Dazu gehört auch ein bewusster Umgang mit Lebensmitteln, zum Beispiel dass weniger weggeworfen wird. Nahrungsmittel müssen wieder mehr geschätzt und Tier, Mensch und Natur gleichermaßen geachtet werden.

Essen Sie selber eigentlich noch gern Hähnchen?

Wir haben in der Familie schon vor dem Schlachthof-Bau kaum noch Hähnchen gegessen. Was da im Supermarkt angeboten wird, spricht uns einfach nicht an. Da der nächste Hofladen mit zertifiziertem Bio-Fleisch 20 Kilometer weit weg ist, reduzierte sich unser Fleischkonsum automatisch. An Festtagen gibt es bei uns Fleisch, dann aber eher Wild.

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Kleinbäuerin Claudine Hashazinyange mit Avocados vom Baum ihres Schwiegervaters.

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