Eine nicht repräsentative Umfrage in meinem – durchaus politisch interessierten – Bekanntenkreis nach meiner Rückkehr von einer Reise nach Nigeria ergab: Niemand kann sagen, wie viele Flüchtlinge es in den Nachbarländern Nigerias gibt und wie viele sogenannte intern Vertriebene (‚internally displaced people‘ – kurz IDPs). Befragt, wer oder was fast zwei Millionen Menschen zu intern Vertriebenen und etwa eine halbe Million zu Flüchtlingen in den Nachbarstaaten gemacht hat, fällt den meisten Boko Haram ein. Ein weiterer Gewaltkonflikt tobt seit einigen Jahren aber auch im sogenannten Middle Belt Nigerias. Dort eskalierte in Zeiten des knapper werdenden Lands ein Konflikt zwischen einem nomadisierenden Hirtenvolk (den Fulani) und ansässigen Bauern.
Die humanitäre Not in Nigeria ist enorm
Nigerias Bevölkerung hat sich in den letzten 30 Jahren mehr als verdoppelt. Die Weltöffentlichkeit nimmt davon wenig Notiz. Außer den Chibok-Mädchen haben es die Gewaltexzesse, unter denen die Bevölkerung in Zentralnigeria, dem Norden und dem Nordosten Nigerias leidet, nicht zur weltweiten Anteilnahme gebracht. Und seit das Militär die Lage in Nigeria halbwegs stabilisiert hat, sodass uns nur noch wenige aktuelle Nachrichten über sich ausbreitende terroristische Gewalt, die gerne als islamistisch eingestuft wird, erreichen, ist das Interesse vollends abgeebbt. Dennoch bleiben die Lebensumstände der intern Vertriebenen so katastrophal, dass wir uns in Deutschland davon keine Vorstellung machen können. Ihre gewaltige humanitäre Not ist eine der vielen vergessenen Flüchtlingskatastrophen weltweit. Weltweit waren Ende 2016 mit 65,6 Millionen Menschen so viele auf der Flucht wie noch nie. Vor zehn Jahren waren es noch 37,5 Millionen. Die meisten dieser Menschen suchen innerhalb ihres Heimatlandes Schutz. Etwa neun von zehn Flüchtlingen fliehen in Länder, die selber arm oder sogar bitterarm sind. Die Wenigsten kommen also nach Europa. Die öffentliche Debatte und Hilfsbereitschaft innerhalb Europas wird dennoch weiterhin von der sogenannten Flüchtlingskrise bestimmt. Europa nimmt auf der anderen Seite kaum Notiz vom Schicksal der Flüchtlinge und intern Vertriebenen in Nigeria wie auch im Südsudan, in Somalia, in der Demokratischen Republik Kongo, dem Irak, dem Libanon, in Jordanien, in Kolumbien und der Türkei – um nur einige wenige zu nennen.
Die Opfer der Gewalt bleiben ungezählt
Eine nicht repräsentative Umfrage unter etwa 100 – je zur Hälfte islamischen und christlichen – Religionsführern in Jos, im Middle Belt, wie viele Menschen insgesamt eigentlich von den Gewaltkonflikten in Nigeria seit 2009 betroffen sind, oder wie viele Frauen und Mädchen entführt wurden, führt zu Ratlosigkeit. Keiner führt Buch. Wenige wollen es wissen, die Regierung schon gar nicht. Niemand hat bisher die Namen der Getöteten und der Entführten registriert, niemand den Verbleib der Geflohenen – außer Dr. Rebecca Dali, Pfarrerin der 'Kirche der Geschwister' (EYN) und Leiterin des 'Centre for Caring, Empowerment and Peace Initiatives'. 49.000 Namen von Boko Haram-Opfern hat sie bereits gesammelt und auf der Basis der Berichte der Vertriebenen dokumentiert – viele dicke grüne Bücher voll. Der UNHCR hat sie dafür geehrt. Ansonsten interessiert sich keiner für dieses Memento Mori.
Speziell die Frage, wie viele Menschen mit Behinderung der Gewalt zum Opfer gefallen sind, löst bei den Gesprächspartnern peinliches Schweigen aus: Keiner hat sich bisher Gedanken darüber gemacht. Wer im ‚normalen‘ Alltag zuhause weggeschlossen wird, weil man sich für ihn schämt, und wessen Leben noch nie als wertvoll galt, der wird gewiss nicht zum Thema, wenn es um das Überleben aller geht. Schließlich wird konstatiert: „Die sind sicher alle tot.“ Kaum einer hat gesehen, dass ein Behinderter von seinen Verwandten auf die Flucht mitgenommen wurde, als die Dörfer von Boko Haram überfallen und niedergebrannt wurden. Sie blieben eingeschlossen – ihrem Schicksal überlassen: verdursten und verhungern, erschossen werden oder verbrennen. Die Befragten gehen zur Tagesordnung über, finden daran wenig. Es zählen die Starken. Das sagt im Übrigen alles über die Wahrnehmung der zahllosen Kriegsversehrten in den Camps. Werden sie ausreichend versorgt bei Verteilaktionen? Werden ihre medizinischen und Assistenz-Bedürfnisse berücksichtigt werden?
Wer es auf die politische und gesellschaftliche Tagesordnung schafft, hat Glück gehabt und darf mit wenigstens einem Mindestmaß an Aufmerksamkeit und Unterstützung rechnen. Der ‚Rest‘ wird vergessen. Mit den ethischen Werten des Islam wie des ‚christlichen Abendlandes‘ hat das wenig zu tun. „Was ihr einem von diesen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus.