Das gewaltsame Verschwindenlassen unliebsamer Oppositioneller war eine gängige Praxis der Militärdiktaturen in Lateinamerika der 1970er und 1980er Jahre. Es wurde als Strategie genutzt, die Zivilgesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen - und wird es noch heute. Das Gefühl der Verunsicherung, dass diese Praxis auslöst, wirkt sich nicht nur auf die nächsten Angehörigen der Verschwundenen aus sondern auf die Gesellschaft als Ganzes. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist mittlerweile ein weltweites Problem und nicht auf eine spezifische Weltregion beschränkt.
Bei ihren Bemühungen um Aufklärung werden Angehörige und diejenigen, die ihnen beistehen, häufig selbst bedroht und in ihren Menschenrechten verletzt. Die Täterinnen und Täter entgehen häufig ihrer Strafe. Diese Straflosigkeit ist ein Zeichen für schwerwiegende rechtstaatliche Defizite und zeugt davon, dass staatliche Behörden und Sicherheitsapparate mit den Verantwortlichen verflochten sind oder sich zu ihren Komplizen machen.
Argentinien: Auch im Jahr 2017 verschwinden Menschen
In Argentinien weckt ein neuer Fall des Verschwindenlassens böse Erinnerungen an die Militärdiktatur. Am 1. August 2017 verschwand Santiago Maldonado. Der 28jährige unterstützte die indigenen Mapuche-Gemeinde Pu Lof im Department Chubut, die seit zwei Jahren ihr Recht auf Land gegenüber des Unternehmens Sud Argentino reklamieren. Das Unternehmen gehört der einflussreichen italienischen Familie Benetton. Als rund hundert Polizisten das Protestlager der Indigenen mit Kugeln und Gummigeschossen auflösten und all ihre Habseligkeiten verbrannte, wurde Maldonado zuletzt auf der Flucht vor der Polizeigewalt gesehen.
Augenzeugen berichten, dass mehrere Personen versuchten vor den Schüssen über einen nahen Fluss zu fliehen. Maldonado schaffte es jedoch nicht den Fluss zu überqueren und suchte Schutz unter einem Baum. Dorthin folgten ihm mehrere Polizisten. Weiter berichten Augenzeugen, dass die Polizei eine Reihe bildeten, um jemanden unbeobachtet in einen ihrer Wagen zu bringen. Sein Bruder, Sergio Maldonado erhebt deswegen schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Diese sagt, sie hätten Santiago nicht festgenommen und wüssten nicht, wo er sich befinde. Die Partnerorganisation von Brot für die Welt, Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS), bat das Komitee gegen Gewaltsames Verschwindenlassen der Vereinten Nationen um eine Eilaktion und forderte die argentinische Regierung auf, alle Maßnahmen zur Suche von Santiago einzuleiten und ihn lebend zu finden sowie die Mapuche-Gemeinde vor weiteren Übergriffen zu schützen. Die Vereinten Nationen kamen dieser Bitte nach. Die argentinische Sicherheitsministerin, Patricia Bullrich, verteidigte indes das Vorgehen der Polizei und bestritt den Vorwurf des gewaltsamen Verschwindenlassens.
Das Verschwindenlassen von Personen ist in Argentinien ein brisantes Thema. Auch 40 Jahre nach der Militärdiktatur wurden nicht alle verschwundengelassenen Personen gefunden. Den demokratischen Regierungen kann die Polizeigewalt gefährlich werden. Erst im Jahr 2003 musste der damalige Präsident Eduardo Duhalde Wahlen vorziehen. Während einer Demonstration starben zwei Demonstranten aufgrund von Zusammenstößen mit der Polizei. So könnte auch das Verschwindenlassen von Santiago Maldonado hohe politische Kosten haben, sollte er nicht wieder lebend auftauchen. Ein Monat nach seinem verschwinden wird es in Berlin und anderen Teilen der Welt massive Proteste geben.
Mexiko: Familienangehörige unter Druck
Am 2. Mai 2017 wurde die mexikanische Menschenrechtsverteidigerin Cristina Paredes am helllichten Tag von 13 Polizisten auf der Straße ihrer Heimatstadt Morelia festgenommen. Statt eines Haftbefehls bekam sie Drohungen. Als ihre Schwester von der illegalen Festnahme erfuhr, machte sie sich sofort auf die Suche nach Cristina. Die Sorge war groß, denn bereits ihr Vater, Francisco Paredes, wurde im Jahr 2007 willkürlich von Polizeikräften festgenommen und ist seitdem verschwunden.
Er ist einer von schätzungsweise 30.000 Verschwundenen in Mexiko. So genau kennt die Zahl jedoch niemand. In einzelnen mexikanischen Bundesstaaten wie Chihuahua, Hidalgo oder Jalisco gibt es keine öffentliche Registrierung der Verschwundenen. Zudem herrscht eine Straflosigkeit von bis zu 98 Prozent. Zurück bleiben die Familienangehörigen mit vielen offenen Fragen, schmerzhaften Erinnerungen an die Verschwundenen und oft in einer wirtschaftlichen Notlage, die durch den Verlust des Einkommens des verschwundenen Angehörigen ausgelöst wird. Wenn sie den Verschwundenen nicht als tot erklären, haben die Familienangehörigen große Schwierigkeiten juristische Dokumente zu ändern oder staatliche Abfindungen zu erhalten. Doch wie soll jemand als tot erklärt werden, wenn er einfach nur weg ist und es keinen Körper zu beerdigen gibt?
Besonders schwierig wird die juristische Aufklärung der Fälle, wenn staatliche Institutionen oder die organisierte Kriminalität in die Verbrechen verwickelt sind. In rund einem Drittel der Fälle in Mexiko ist der Staat verwickelt. In diesen Fällen spricht man von gewaltsamem Verschwindenlassen. Die Motive sind in den meisten Fällen vollkommen unklar. Diese Willkür und das Gefühl, dass es jeden treffen kann, belasten die Familienangehörigen besonders. Doch kein Mensch verschwindet spurlos. So bleibt den Familienangehörigen die Hoffnung die Verschwundenen lebendig oder tot eines Tages zu finden.
Cristina Paredes kam nach rund 13 Stunden in Haft wieder frei. Zusammen mit ihrer Schwester engagiert sie sich in einem Familienkomitee in Morelia, um die Suche nach den Verschwundenen gemeinsam voran zu treiben. Das Komitee wird von Servicios y Asesoria para la Paz (SERAPAZ), einer Partnerorganisation von Brot für die Welt, beraten. Zusammen mit über 70 Familienkomitees und sozialen Organisationen gründete SERAPAZ die landesweite „Bewegung für unsere Verschwundenen in Mexiko“. Derzeit wird ein Gesetz gegen das Verschwindenlassen im mexikanischen Kongress beraten. Wenn alles gut geht, kann es im September 2017 verabschiedet werden. Damit wäre ein wichtiger Schritt gegen das Verschwindenlassen in Mexiko geschafft.
Ost-Timor: "Gestohlene Kinder" kehren nach Hause
Während der indonesischen Besatzung Ost-Timors in den Jahren 1975 bis 1999 verschwanden schätzungsweise 4.000 Kinder. Sie wurden von indonesischen Behörden ohne die Genehmigung ihrer Eltern „gestohlen“ und nach Indonesien zu Adoptiveltern gebracht. Doch oft wurden sie vernachlässigt und misshandelt oder waren völlig auf sich allein gestellt. Ohne gültige Papiere, Schulbildung und mit sehr geringen Verdienstmöglichkeiten leben die meisten von ihnen heute als Erwachsene in großer Armut. Die Entführung und Trennung von ihren Eltern ist eine Menschenrechtsverletzung, die sich bis heute fortwirkt.
2016 gelang es der Asian Justice and Rights (AJAR) und der Asian Federation Against Involuntary Dissapearances (AFAD), beides Partnerorganisationen von Brot für die Welt, nach jahrelangen Bemühungen 126 „gestohlene Kinder“ mit ihren Eltern, Geschwistern und Angehörigen wiederzuvereinigen. Die Angehörigen waren größtenteils davon ausgegangen, dass ihre Kinder tot seien und hatten teilweise Grabsteine aufgestellt, um mit ihrem Verlust und Trauer umgehen zu können. Auf die Kontaktaufnahme von AJAR und AFAD reagierten sie oft mit großer Ungläubigkeit.
Beide Organisationen unterstützen die Überlebenden und ihre Angehörigen mit psycho-sozialen Beratungen und im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Situation. Sie sind aber auch in der nationalen und internationalen Advocacyarbeit tätig. So haben sie der UN-Arbeitsgruppe zum Gewaltsamen Verschwindenlassen und der indonesische Regierung Empfehlungen für die Aufarbeitung der Verbrechen unterbreitet. Unter anderem fordern sie die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Organisationen auf beiden Seiten, in Indonesien und in Ost-Timor, um die „gestohlenen Kinder“ zu finden, die an ihnen verübten Verbrechen anzuerkennen und ihnen wirtschaftliche und psychologische Unterstützung zu gewähren.
Was ist Verschwindenlassen?
In der Resolution 47/133 vom 18. Dezember 1992 definieren die Vereinten Nationen (UN) Verschwindenlassen als „die Festnahme, den Entzug der Freiheit, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen, oder der Verschleierung des Schicksals oder des Verbleibs der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird.“ Die Praxis des Verschwindenlassens verletzt damit die Menschenrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit sowie die Rechte auf ein faires Verfahren und Schutz vor Folter.
Um auf diese gravierenden Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen, hat die UN-Generalversammlung in einer Resolution von 2010 den 30. August zum Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens erklärt.
Durch solche Art von internationaler Aufmerksamkeit können Staaten dazu gebracht werden, ihre Schutzpflichten wahrzunehmen. Der Druck von außen kann dazu beitragen, dass ernsthafte Ermittlungen gegen Täterinnen und Täter eingeleitet werden, die sonst nicht verfolgt würden. Das gilt auch in Fällen von gewaltsamem Verschwindenlassen. Um gegen das Verschwindenlassen vorzugehen, braucht es eine informierte Öffentlichkeit. Brot für die Welt unterstützt deswegen in verschiedenen Ländern der Welt lokale Organisationen, die sich für das Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeit der Verschwundenen und ihrer Angehörigen einsetzen.
von Sieglinde Weinbrenner und Melanie Bleil