Der globale Hunger steigt. Nachdem er seit mehr als einem Jahrzehnt rückläufig war, ist die Zahl der Hungernden innerhalb eines Jahres um 37 Millionen auf nun 815 Millionen im Jahr 2016 gestiegen. Jeder neunte hungert. So zumindest die offiziellen Zahlen des Welternährungsberichts (The State of Food Security and Nutrition in the World 2017), der im Oktober von fünf Organisationen der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization FAO, World Food Programme WFP, International Fund for Agricultural Development IFAD, World Health Organisation WHO und Unicef) herausgegeben wurde.
Obwohl die Zahlen nicht das vollständige Bild der Ernährungsunsicherheit widerspiegeln, weil moderate Ernährungsunsicherheit nicht ausreichend gemessen wird, zeigen sie eindeutig, dass der Weg in die falsche Richtung geht und dass die internationale Staatengemeinschaft es ohne Trendumkehr in vielen Bereichen enorm schwer haben wird, ihr gemeinsam gestecktes Ziel zu erreichen: dass bis zum Jahr 2030 niemand mehr hungert.
Bei der Analyse der Hungerzahlen fällt auf: Die Mehrzahl der Menschen, 489 Millionen der 815 Millionen die hungern, leben in Ländern, wo Kriege und Konflikte sind. Im letzten Jahrzehnt hat die Zahl der Konflikte zugenommen. Wenn dann noch staatliche Strukturen versagen und die Folgen des Klimawandels deutlich spürbar sind, verschärft dies die Not der Hungernden. So am Horn von Afrika, im Jemen, im Südsudan. Umgekehrt gilt aber auch, dass mangelnde Ernährungssicherheit Konflikte anheizt, wenn starke Ungleichheit und schwache Staatlichkeit vorherrschen.
56 Prozent der Menschen, die von Konflikten betroffen sind und hungern, leben auf dem Land und überwiegend von der Landwirtschaft. Das heißt, die Gestaltung der Agrar- und Ernährungssysteme in diesen Ländern spielt eine entscheidende Rolle. Selbst wenn Konflikte oder Kriege beendet werden, hört damit der Hunger nicht automatisch auf. Darauf weist ja auch die hohe Zahl der Hungernden hin, die chronisch unternährt sind und in Ländern leben, wo keine Konflikte sind. Auch diese Zahl ist nicht tolerierbar: 326 Millionen.
Obwohl 2007 und 2008 die Zahl der Menschen, die hungern, mit einer Milliarde ihren höchsten Stand seit fast 30 Jahren erreichte und diese Krise in aller Munde war, wurden die mehrdimensionalen und strukturellen Ursachen des Hungers in den letzten zehn Jahren nicht beseitigt. Besseres Saatgut, weniger Landraub, mehr Umweltschutz, effiziente Infrastruktur und Märkte mit stabilen Preisen wären einige der Stellschrauben, um den Hunger wirksam zu bekämpfen. Aber in dieser Richtung wurde gar nichts oder zu wenig getan. Dieses Nichtstun hat tiefgreifende existenzielle Auswirkungen auf die Menschen, auf ihre Gesundheit und auch auf das soziale Gefüge in den Gemeinden. Um den Anstieg der Lebensmittelpreise zu kompensieren, haben viele Menschen, insbesondere Frauen, keine andere Wahl, zusätzliche Arbeit, oft unter ausbeuterischen und unsicheren Bedingungen anzunehmen. Durch hohe Lebensmittelpreise werden gute Lebensmittel durch qualitativ schlechtere ersetzt.
Die Nahrungsmittelkrise dauert an
Das Recht auf Nahrung wird millionenfach verletzt. Die vorherrschenden wirtschaftlichen und politischen Systeme und die Eliten, die davon profitieren, stellen immer noch ihre Interessen und ihren Gewinn über das Recht auf Nahrung und den Erhalt der Umwelt. Traditionelle und indigene Gemeinschaften werden von ihrem Land vertrieben; Handelsabkommen, die zu wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Armen nehmen, werden umgesetzt; die Natur wird durch den Rohstoffabbau zerstört; Agrarkonzernen gelingt es immer mehr, Essen und Nahrung auf eine rein handelbare Ware zu reduzieren. Im ländlichen Raum manifestiert sich das Versagen der globalen Ernährungssysteme vor allem durch die exzessive Nutzung der Produktionsressourcen Land, Wasser oder der Biodiversität, die vor allem kleinbäuerlichen Familien keinen Spielraum mehr lässt. In den Städten sind Indikatoren dieses Versagen die starke Zunahme von ernährungsbedingten Krankheiten, Mangelernährung und Fettleibigkeit.
Agrarökologie als Baustein einer Transformation der Ernährungssysteme
Eine systematische, dauerhafte und nachhaltige Umstellung der Agrarproduktion, der Verteilung der Nahrungsmittel und des Konsumniveaus steht an, um die Zahl der Hungernden zu reduzieren und das Recht auf Nahrung zu verwirklichen. Und diese Alternativen gibt es, sie sind erprobt, aber leider noch nicht im größeren Maßstab umgesetzt. Einer der Bausteine der Transformation ist die Agrarökologie. Sie basiert auf der Vielfalt von traditionellen, bäuerlichen Anbausystemen. Im Mittelpunkt steht dabei ein ganzheitlicher Ansatz, der die Erfordernisse der landwirtschaftlichen Familienbetriebe, der Gemeinden und der Ökosysteme berücksichtigt, um lokale Bedürfnisse zu befriedigen. Agrarökologie fördert biologische Prozesse zur Minimierung von Inputs wie Mineraldünger, Pestizide, fossile Energie. Ziele sind dabei die Stärkung lokale Strukturen, höhere Erträge und mehr Ertragsstabilität. Statt Ertragsmaximierung die Vermeidung von Risiken und die Reduzierung der Abhängigkeit von externen Betriebsmitteln, um die Gefahr der Verschuldung einzudämmen.
Agrarökologie steht im Kontrast zu vorherrschenden industrieähnlichen Agrarsystemen, die in vielen Bereichen an ihre ökologischen und ökonomischen Grenzen stoßen, die durch die Folgen des Klimawandels noch verstärkt werden. Sie steht aber auch im Gegensatz zu Systemen wie die „Klima-intelligente"-Landwirtschaft, die mit alten Rezepten neue Probleme lösen möchte und eher den Interessen von großen Agrarkonzernen dient und bäuerliche Landwirtschaft in den Hintergrund drängt. Daher ist eine Richtungsentscheidung notwendig, denn beide Systeme dürften nur unschwer nebeneinander existieren. Dazu sind die Ressourcen zu knapp und die Umweltbelastungen schon zu hoch.
Aus Sicht der Hungerbekämpfung war das letzte Jahrzehnt ein verlorenes. Das ist ein Resümee des Welternährungsberichts. Die bisherigen Rezepte haben nicht gegriffen. Stattdessen sind Lösungen wie die Agrarökologie zusammen mit den Betroffenen umzusetzen. Dies kann aber nur gelingen, wenn die Interessen der Menschen, die an Hunger und Unterernährung leiden, ernsthaft berücksichtigt werden und Frieden geschlossen wird: in den Konfliktgebieten und im Umgang mit der Natur.