„Immer wenn ich vor dem Plenum zu reden begann, hörten die männlichen Kollegen weg“, sagt Nato Katamadze, Mitglied des Gemeinderats von Kutaissi, Georgiens drittgrößter Stadt. Die Oppositionspolitikerin sah sich während ihrer Redebeiträge plaudernden Gemeinderäten und einer Reihe von Laptops, die plötzlich aufgeklappt wurden, gegenüber.
Dieses Phänomen bestätigt Maia Chitaia von der Online-Plattform Women of Georgia: „Wo fängt der Gestus des ‚ach, Frauen reden doch nur Quatsch‘ und ‚alle mal herhören, dieser Mann erklärt jetzt etwas Wichtiges‘ an? In der Familie, in der Schule, auf der Straße, in der Kirche. Mädchen werden angehalten, still zu sein, nicht viel zu reden. Buben werden ermutigt zu sprechen. Es zeigt sich, wie unterschiedlich die Fähigkeiten von Mädchen und Buben bewertet werden; es zeigt sich in den unterschiedlichen Berufen, die Frauen und Männer ergreifen. Wir haben darüber gerade eine Serie von kurzen Videos fertiggestellt: ‚Unsichtbare Barrieren durchbrechen‘. Ein Mädchen bzw. eine junge Frau und eine Politikerin berichten jeweils über ähnliche gesellschaftliche Hindernisse, mit denen sie kämpfen.“
Es brauche eine kritische Masse, und die beginne bei 30 % Frauenanteil im Parlament. Erst dann müssten sich Politikerinnen nicht mehr rechtfertigen, warum sie hier reden, sagt Maia Chitaia. Aktuell sind im Georgischen Parlament aber nur 16 % der Abgeordneten weiblich, immerhin um 3 % mehr als in der vorangegangenen Legislaturperiode. Im letzten Jahrzehnt brachte das georgische Parlament mehrere richtungweisende Gesetze auf den Weg:u. a. 2006 das Gesetz gegen häusliche Gewalt, ebenfalls 2006 das Gesetz gegen Menschenhandel, und 2010 wurde das Gesetz für Geschlechtergleichheit neu beschlossen.
Über 200 Interviews
Der Befund, wonach Gesetze auf dem Papier nicht zwangsläufig bedeuten, dass sie den Weg in die Umsetzung finden, wird von vielen Frauenrechtsaktivistinnen geteilt. Die gesellschaftliche Realität ist härter, als die relativ fortschrittlichen Gesetze vermuten lassen. Nur eine Minderheit kennt die Gesetze überhaupt, die Frauen auf ihrem Weg zur Gleichberechtigung helfen könnten. Je abgelegener die Region und das Dorf, desto mehr finden sich Frauen mit viel Arbeit, wenig Mitsprache und einer Fülle von einschränkenden Normen wieder. Dass der Ehemann seine Ehefrau schlägt, ist nicht die Ausnahme, sondern die Norm. Der Unterschied zwischen der Hauptstadt Tbilisi mit ihrem Flair einer westlichen, quirligen und aufstrebenden Weltstadt und einem Bergdorf in Swanetien ist groß. In abgelegenen Dörfern ist bittere Armut anzutreffen.
Die Online-Plattform Women of Georgia hat in den letzten zwei Jahren mehr als 200 Frauen interviewt: landauf, landab, arme und reiche Frauen, junge und alte Frauen, erwerbstätige Frauen, Alleinerzieherinnen und geschiedene Frauen, Frauen, die migrieren, um ihre Familie zu erhalten, Frauen mit Behinderungen, Binnenflüchtlinge aus Abchasien und Südossetien, Witwen, heterosexuelle, lesbische Frauen und Transfrauen, azerische und armenische Frauen wurden zu ihrem Leben befragt. Viele von ihnen mussten allen Mut zusammennehmen, um zu sprechen, etliche schreckten davor zurück, ihren Bericht auf Facebook veröffentlicht zu sehen. Die Plattform ist ein Sprachrohr für Frauen, sagt Maia. Sie soll die Möglichkeit bieten, dass Frauen für sich selbst sprechen, in aller Vielfalt. Frauen sind keine homogene Gruppe. Niemand könne für alle Frauen sprechen. Eine weitere Funktion habe die Plattform: Die persönliche Erfahrung hat eine politische Bedeutung, die Geschichten der Frauen sind nicht nur individuelle Geschichten, nicht nur Belletristik, nicht nur Kunst. Sie bringen soziale Tatbestände auf eine politische Ebene, und Politiker_innen, Parteien, Regierung könnten davon lernen.
Gesetze auf dem Papier
Die Kluft zwischen brauchbaren Gesetzen und mangelhafter Umsetzung ist kein georgisches Spezifikum. Warum die Kluft aber hier so groß ist, könnte daran liegen, dass Georgiens Regierung, sämtliche Parteien und die Mehrheit der Bevölkerung großes Interesse an einer politischen und ökonomischen Annäherung an die EU haben. Die EU wiederum, ebenso wie die USA, betrachtet Georgien als strategischen Partner im Südkaukasus. Das beiderseitige Interesse wurde 2014 nach jahrelangen Verhandlungen durch die Unterschrift des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Georgien besiegelt. Das 700 Seiten starke Abkommen beinhaltet umfassende Vorgaben der EU vor allem zu wirtschaftlich neoliberalen Szenarien, aber auch zu ‚soft skills‘ wie demokratische Werte und Geschlechtergleichheit. Politische Partizipation von Frauen, Dialog mit der Zivilgesellschaft inklusive Frauenorganisationen, Gesetze zu Geschlechtergleichheit und dazugehörige Umsetzungspläne sind auf geduldigem Papier geschrieben und dienen großteils dazu, den EU-Anforderungen und deren jährlichen Prüfungen Genüge zu tun, um nicht die Unterstützungsgelder zu verlieren.
Konformismus, Nationalismus, „Traditionen“
Unterhaltungen mit Georgier_innen drehen sich rasch um „unsere Kultur und Tradition“, die vorsieht, dass Frauen mit „ritterlichem Respekt“ behandelt werden – besonders wenn sie Mütter sind. Es wird gerne auf Tamar Mepe (d. h. König (!) Tamar) verwiesen, jene Frau, die von 1184 bis 1213 über das Land herrschte, und Georgien zur größten geografischen Ausdehnung führte. Georgier_innen sprechen mit Stolz über die 3.000 Jahre alte Geschichte des Landes, die komplizierte Sprache, das gute Essen, die Erfindung des Weines, die schönen Kirchen, die großzügige Gastfreundschaft und die Liebe zur Familie. Bald kommt dann die Rede auch auf die klaren Vorstellungen von den „natürlichen“ Aufgaben der Frauen und Männer: Es wird auf jeden Fall geheiratet, der Mann erhält die Familie, die Frau gebärt Kinder. Erst bei drei fängt man zu zählen an.
Ein herrschendes Ideal ist es, dass Frauen früh heiraten. Laut UNICEF (2016) werden in Georgien 14 % der Mädchen unter 18 Jahren verheiratet. Mit dieser Rate, die in Wirklichkeit höher liegen könnte, rangiert Georgien weltweit im traurigen Spitzenfeld bei der Kinderheirat. Früh heiraten heißt, die Schulausbildung abzubrechen, Kinder zu gebären, keine Zeit für die eigene Entwicklung und wenig Vorstellung von partnerschaftlichen Beziehungen zu haben. „Früh heiraten heißt mundtot machen“, sagt eine der Interviewpartnerinnen der Plattform Women of Georgia. Sie wurde selbst als 16-Jährige gekidnappt. Als sie sich gegen die Entführer wehrte, wurde sie geschlagen und gezwungen, ihren Eltern zu beteuern, dass sie diesen Mann heiraten wolle. Bis 2016 war die Zustimmung der Eltern laut Gesetz ausreichend. Die aktuelle gesetzliche Regelung schreibt nun das Mindestalter von 18 Jahren vor. Eine Heirat unter 18 Jahren benötigt die Zustimmung eines Gerichts, und eine Eheschließung mit Mädchen unter 16 Jahren ist ausnahmslos verboten.
Das Land ist klein, es leben hier 3,9 Mio. Menschen, um 1,5 Mio. weniger als Anfang der 1990er Jahre. Die Einflüsse des Westens, aber auch der muslimischen Nachbarländer, der drohende Zugriff Russlands auf georgische Territorien, all das droht Kultur und Tradition zu verändern – und wer soll das wollen? Konformismus und eine nationalistische Vorstellung des „wir“ und der „anderen“ helfen der georgischen Mehrheitsgesellschaft, Veränderungen hintan zu halten. Dass sich die Gesellschaft in den vergangen zwei Jahrzehnten trotzdem rasant verändert hat, ein Drittel der Familienerhalter_innen weiblich sind, junge Frauen im Bildungsbereich ihre männlichen Kommilitonen überholt haben und immer mehr Frauen über eine Lebensgestaltung abseits der Norm nachdenken, wird wenig beachtet oder als bedauerliche Abweichung gesehen.
Mutig, offen, empowernd
In den Statements auf der Online-Plattform Women of Georgia stehen eher die schwierigen Situationen im Vordergrund. Wobei es besonderen Mut verlangt, manche Themen anzusprechen, denn die Interviews sind nicht anonym. Einige Frauen wagen es sogar, über sexuelle und häusliche Gewalt zu sprechen, sagt Maia Chitaia: „In unserer Gesellschaft gilt ein Nein nicht als Nein. Wir haben einen völlig anderen Ansatz: Männern wird gesagt, dass sie aggressiv und durchsetzungsfähig sein sollen. Dass sie aus dem Fenster springen sollen, wenn die Tür versperrt ist. Ihnen wird gesagt, wenn Frauen nein sagen, wollen sie doch. Als es 2013 erstmals eine Statistik zu Femiziden gab und diese zeigte, dass in diesem Jahr 27 Frauen ermordet wurden, ging ein Raunen durchs Land. Häusliche Gewalt ist ein Problem, meinten nun doch einige. Ich frage mich, ob Frauen als Staatsbürgerinnen, als menschliche Wesen betrachtet werden. Wenn eine Frau wegen eines Konflikts umgebracht wird, wenn das unsere Kultur ist, dann haben wir ein Problem.“
Die Interviews würden auch zur Bewusstseinsbildung beitragen. Begriffe wie „häusliche Gewalt“ oder gar „sexuelle Gewalt“ sind manchmal zu abstrakt – durch die Beschreibungen der Frauen werden diese Wörter konkret, und Frauen und Männer verstehen besser, worum es geht. Wobei der Weg dahin, sexuelle Gewalt zu verstehen, noch ein weiter ist. Wenn Frauen darüber öffentlich berichten, häufen sich, im Gegensatz zu anderen Themen, die ablehnenden Kommentare, sagt Maia Chitaia: „Noch stärkere Ablehnung gibt es, wenn lesbische oder Transfrauen an die Öffentlichkeit gehen. Da brechen Shitstorms los. Das darf es offenbar in unserer Gesellschaft nicht geben. Es ist ein Prozess, wir sind nicht am Ziel, wir sind am Weg. Es gibt viele ermutigende Momente, viel mehr als entmutigende. Wir sehen, wenn eine Frau zu sprechen beginnt, ermutigt das andere.“
Text: Gundi Dick
Fotos: Women of Georgia
Beitrag zum ersten Mal in der Frauen*solidarität Nr. 143 erschienen. (Auszug mit Genehmigung)