Letzte Woche bin ich von einer einwöchigen Reise durch Zentralsyrien zu unseren Partnern der Diakonie Katastrophenhilfe und von einem Treffen mit Syrern in Amman zurückgekehrt. Die häufigste Frage an mich seitdem: Wie sicher ist Syrien eigentlich? Könnten die Flüchtlinge langsam nicht schon langsam zurückkehren? Zugegeben: ich habe mich nicht mit Assad oder Vertretern seiner Regierung getroffen. Aber mit hunderten Menschen in einer Reihe von Slums, Dörfern und Städten in den Landkreisen Lathakia, Hama, Homs und im Tal der Christen sowie mit Menschen, die aktuelle Kontakte in verschiedene Regionen Südsyriens haben.
Mein Eindruck? Sicherheit ist vielschichtig und relativ! Die meisten denken dabei vor allem an die Abwesenheit von Gewalt. Also: Sind Krieg und ist die Bedrohung durch Terrorismus nicht weitgehend beendet, oder ist nicht wenigstens die Lage schon an vielen Orten befriedet? Syrien ist wie ein Flickenteppich: Von Ort zu Ort ist die Situation mit Blick auf die Kampfhandlungen unterschiedlich. Aber wo genau verläuft die Grenze zwischen Ort zu Ort? Das bleibt unsicher. Eigentlich haben wir uns in Gegenden bewegt, in denen seit einer Weile offiziell keine Kampfhandlungen mehr stattfinden. Manche bei uns würden sie „sicher“ nennen. Doch trotzdem hallten in den Straßen von Homs Gewehrsalven und trotzdem zwang uns Gefechtslärm im ländlichen Hama, länger in einem Kloster zu verweilen. Und trotzdem konnten wir Damaskus nicht in Richtung unserer Projektregion im Süden Sweida passieren, weil die Straße da vorbei führt, von wo aus am geplanten Reisetag die Offensive der Regierung auf Ost-Ghuta erfolgte.
Sicherheit von Leib und Leben sieht anders aus
Eigentlich galt auch Damaskus als sicher. Und trotzdem ist das Büro unserer Partner in den letzten Wochen dreimal von Ost-Ghuta aus mit Raketen beschossen worden – zum letzten Mal diesen Samstag. Das Kriegsgeschehen ist noch ständig im Fluss, Befriedungen immer nur vorübergehend. Im Jahr 2017 wurden noch einmal 1,8 Mio. Menschen neu vertrieben! Ohne einen umfassenden Friedensschluss zwischen allen nationalen und internationalen Kriegsakteuren weichen die Rebellen immer nur in andere Gebiete aus und mischen sich internationale Kriegsakteure in immer andere Fronten ein, oder eröffnen sie, um ihre nationalen Sicherheits- oder geostrategischen Interessen durchzusetzen. Die Bevölkerung in allen von uns besuchten Gegenden hält den Kopf eingezogen und „traut dem Frieden“ zu Recht nicht. Und traut auch ihren Nachbarn nicht, aus deren Dörfern sie beschossen wurden. Sicherheit von Leib und Leben sieht anders aus.
Tausende Menschen haben nicht einmal ein Dach über dem Kopf
Für Menschen in allen Regionen gemeinsam gilt: Sie leiden darunter, dass es infolge der gewaltigen Zerstörungen von Häusern und Infrastruktur auf Grund von Kämpfen, aber auch von purem Vandalismus zu wenig intakten Wohnraum gibt. Sie leiden auch darunter, dass sie - zum Teil mehrfach – fliehen mussten oder gewaltsam vertrieben wurden. Nun leben sie irgendwo in Nachbarregionen bei Verwandten, in Klöstern oder öffentlichen Gebäuden oder in slumartigen Unterkünften. Oder sie leben in anderen Landesteilen, wo Wohnraumverknappung zu horrenden Mietpreisen geführt hat. Millionen Menschen in Syrien haben kein eigenes Dach über dem Kopf, 750.000 Menschen leben sogar in sogenannten „Last Resort Camps“. Das bedeutet, sie haben nicht einmal ein Dach, sondern nur eine Plane über dem Kopf.
Insgesamt wurden 6,1 Millionen Menschen intern vertrieben - täglich kommen ungefähr 6.000 dazu. Das sind viel mehr als es syrische Flüchtlinge außerhalb des Landes gibt: 5,3 Millionen Menschen sind in Nachbarländern geflüchtet. Auch sie leben in extrem prekären Verhältnissen. Solange es in Syrien keine würdigen Wohnverhältnisse gibt– wie sollen da Menschen von außen zurückkehren können? Ganz davon abgesehen, dass die große Zahl der jungen Männer unter den Flüchtlingen nicht wird zurückkehren können. Solange gekämpft wird laufen sie noch immer in Gefahr, zwangsrekrutiert zu werden oder dafür bestraft zu werden, sich der Rekrutierung entzogen zu haben. Ohne landesweiten Frieden und Versöhnung wird keiner von ihnen zurückkehren können und wollen. Und Freiwilligkeit ist die anerkannte Voraussetzung dafür, dass Flüchtlinge zurückkehren.
Wer heute Waffenruhe verkündet, kann sie morgen brechen
Zumal sich die Lage morgen schon wieder ändern kann, da zu den hervorstechenden Merkmalen dieses Krieges Unübersichtlichkeit und Unsteuerbarkeit gehört. Wer heute die Waffenruhe verkündet, kann sie morgen schon wieder brechen. Mag sein, dass sich angesichts der Vielzahl der nationalen und internationalen Akteure und ihrer widerstrebenden Interessen kaum noch einer vorstellen kann, wie es zu einem nationalen Friedensschluss kommen kann. Davon zu reden, dass Frieden und Sicherheit in einzelnen Landesteilen auch ohne einen umfassenden Friedensschluss eintreten könnten, ist allerdings mehr als absurd.
Für Menschen in allen Regionen gilt ebenfalls: Sie leiden an den Folgen einer Kriegswirtschaft mit dazu gehörigem Mangel an Arbeitsplätzen und Einkommensmöglichkeiten. Sie leiden auch an einer gewaltigen Inflation, ohne dass Renten und Löhne gleichermaßen mitansteigen. Nicht zuletzt leiden sie ebenfalls an seelischen Traumatisierungen, körperlichen Verletzungen und erhöhter Anfälligkeit für Krankheiten.
Ernährungssicherheit, sicherer und würdiger Wohnraum, ein gesichertes Einkommen und ein sicherer Zugang zu medizinischer Versorgung - über diese Basis alltäglicher Sicherheit verfügt die Mehrheit der Menschen im heutigen Syrien nicht. 85 Prozent der syrischen Bevölkerung lebt in Armut, 69 Prozent sogar in extremer Armut. Syrien braucht Frieden im umfassenden Sinn - militärisch, politisch, sozial und wirtschaftlich – bevor die Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, freiwillig zurückkehren wollen und können.