Selbstbewusst steht die 15-jährige Layal vor dem Publikum. Ihr Manuskript hat sie auf einem Notenhalter vor sich abgelegt. Dann setzt die junge Frau an und die Worte sprudeln aus ihr heraus. Die Zeilen scheinen Zustimmung zu finden, denn häufig nicken die Anwesenden beifällig. Layal beendet das Gedicht mit bebender Stimme und sichtlich berührt. Rafeef Ziadah, eine junge kanadisch-palästinensische Poetin, erzählt in ihrem Werk von den Nöten und Traumata, mit denen die Menschen in den Flüchtlingscamps im Libanon täglich zu kämpfen haben: „Ich wünschte, ich könnte barfuß in jedes Flüchtlingscamp laufen, alle Kinder in den Arm nehmen und ihre Ohren zuhalten, so dass sie nie wieder, für den Rest ihres Lebens, das Geräusch der Bomben hören müssen. […] Wir Palästinenser erzählen vom Leben, nachdem sogar unser letzter Himmel besetzt wurde.“ Layal, eine junge Palästinenserin, ist hier aufgewachsen: in „Ain al-Hilweh“, dem größten palästinensischen Flüchtlingscamp im Libanon. 80.000 Menschen müssen sich hier einen Lebensraum von 1,5 Quadratkilometern teilen. Da die Fläche des Camps nicht erweitert werden kann, wird provisorisch in die Höhe gebaut. Sonnenlicht dringt kaum in die engen Gassen, Stromleitungen hängen offen über den Straßen, Wasserleitungen schlängeln sich entlang der Häuserwände. Zusätzlich zu den palästinensischen Bewohnern und Bewohnerinnen suchen immer mehr Flüchtlinge aus Syrien, meist mit palästinensischen Wurzeln, Zuflucht in Ain al-Hilweh. 25.000 Menschen müssen zusätzlich versorgt werden, was die Verantwortlichen von der UNWRA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, auf eine harte Probe stellt. Die UNWRA leistet Nothilfe im Camp und ist zum Beispiel für die Verteilung der Essenrationen zuständig. Neben der schlechten Infrastruktur sind fehlende Einkommensquellen und eine hohe Schulabbrecher-Quote die größten Probleme für die Camp-Bewohner. Hier setzt die Arbeit der Organisation Nashet an, einem palästinensisch-libanesischen Verein, der seit 2012 von Brot für die Welt unterstützt wird. Nashet bietet Kindern und Jugendlichen Zuflucht, hilft bei den Schularbeiten und bietet Freizeit-Projekte an. Als die Palästinenser 1948 von ihrem Land im Norden des heutigen Staatsgebiets Israels vertrieben wurden oder vor dem Krieg 1967 fliehen mussten, ließen sich viele Menschen in dem angrenzenden Libanon nieder. Offiziell sind in dem kleinen Land am Mittelmeer heute etwa 450.000 palästinensische Flüchtlinge registriert, die Hälfte von ihnen leben in zwölf über das ganze Land verteilten Camps. Die Palästinenser leben im Libanon, wie auch in allen anderen Ländern, als Staatenlose und sind im Alltag mit zahlreichen Einschränkungen konfrontiert. So dürfen sie weder Besitz erwerben, haben kaum Zugang zum staatlichen Rechtssystem und können eine Vielzahl von Berufen nicht ausüben. Die Rate der extrem armen palästinensischen Flüchtlinge ist im Libanon am höchsten, mehr als die Hälfte von ihnen ist ohne Arbeit. Unterstützung für Talente und Ziele Oft verlassen die Kinder vorzeitig die Schule, um zusätzliches Geld für die Familie zu verdienen. Die 15-jährige Layal ist sich jedoch sicher: sie will die Schule unter keinen Umständen abbrechen. „Ich will nicht, dass es mir so geht, wie vielen anderen, die keine Arbeit finden. Mein Traum ist, Schriftstellerin werden.“ Sie liebt es, Gedichte und Geschichten zu schreiben. Ihr Vorbild ist Mahmud Darwisch, der wohl berühmteste palästinensische Poet. In seiner Dichtung beschäftig er sich auch mit dem Verlust der palästinensischen Heimat und seinem Leiden im Exil. Junge Camp-Bewohner und Bewohnerinnen wie Layal kennen die geliebte Heimat Palästina nur aus Erzählungen – dennoch geben sie die Hoffnung auf Rückkehr nie auf. Bei Nashet findet Layal wertvolle Unterstützung für ihre Talente und Ziele. Hier tragen sie die Gedichte vor und zeigen ihre neueste Tanzchoreografie. Das Angebot der Organisation ist vielfältig: Theater, Malerei, Lyrik sowie Nachhilfe in den gängigen Schulfächern gehören dazu. In Rollenspielen im Rahmen eines „Mädchenparlaments“ schärfen die Jugendlichen ihr politisches Bewusstsein. Es gibt darüber hinaus auch psychologische Unterstützung der Jugendlichen und ihrer Eltern. Doch ein wichtiger Teil der palästinensischen Kultur darf auch bei Nashet nicht fehlen: der Folkloretanz Dabke. Die Mädchen und Jungen erzählen mit strahlenden Augen von ihren wöchentlichen Dabke-Unterrichtsstunden. Neben all den Schwierigkeiten, denen sie im Alltag ausgesetzt sind, finden sie im Dabke einen Ausgleich, „den man durch nichts ersetzen kann“, schwärmt Layal. Und dann fängt die Gruppe an zu tanzen in ihren prachtvollen Gewändern. Viele Jugendliche und andere Camp-Bewohner haben sich in dem Gemeinschaftsraum von Nashet versammelt und klatschen fröhlich zum Dabke-Rhythmus. Layal gehört auch zur Tanzgruppe. Ihre dunklen Augen strahlen. Sie ist zuversichtlich, dass ihre Wünsche in Erfüllung gehen, trotz der schwierigen Lebensumstände außerhalb dieses sicheren Ortes, mitten in Ain al-Hilweh, das direkt übersetzt „das schöne Auge“ heißt.