Die aktualisierte Studie „Verschwindenlassen in Mexiko – ein systematisch begangenes Verbrechen“ zeigt, dass das Verbrechen an den 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa kein Einzelfall in Mexiko ist. Der Fall erhielt große internationale Aufmerksamkeit und wurde dadurch eines der bekanntesten Beispiele für Verschwindenlassen in Mexiko. Nun gibt es neue Erkenntnisse über die Gründe des Verschwindenlassens der 43 Studenten und weitere Zweifel am bisher von der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft veröffentlichten Tathergang.
Neuen Wind in die Untersuchungen des Falls bringen Ermittlungen US-amerikanischer Behörden in Chicago gegen das Drogenkartell Guerreros Unidos, die von einer der wichtigsten mexikanischen Tageszeitungen, Reforma, am 13. April 2018 veröffentlicht wurden. Belegt ist nun, dass es einen engen Telefonaustausch innerhalb des Drogenkartells Guerreros Unidos zwischen Mitgliedern in den USA und Mexiko am Tag des Verschwindenlassens der 43 Studenten und in den darauffolgenden Tagen gab. Darin wird deutlich, dass diese die 43 Stundenten entführt haben, in dem Glauben, es handele sich um den Angriff eines anderen Kartells. Laut der Nachrichten könnten in dieser Nacht nicht nur die 43 Studenten sondern bis zu 17 weitere Personen verschwunden sein. Die Blackberry-Nachrichten, die von US-amerikanischen Ermittlungsbehörden abgefangen wurden, liefern außerdem endgültige Beweise zu einer Route des Drogenschmuggels zwischen Chicago und Iguala, Guerrero. Diese Verbindung wurde bereits von der unabhängigen Expertenkommission (GIEI), die den Fall Ayotzinapa untersuchte, vermutet. Außerdem belegt der Nachrichtenaustausch die enge Zusammenarbeit der Organisierten Kriminalität mit Polizeieinheiten in Guerrero.
Der Druck auf die mexikanische Staatsanwaltschaft wächst
Teile der Nachrichten kannte die mexikanische Staatsanwaltschaft bereits. So hatte die Polizei unter anderem festgestellt, dass mindestens fünf Telefone der Studenten noch nach dem 26. September 2014 mit Anrufen bzw. Nachrichten aktiv waren – eines von ihnen sogar bis April 2015. Jedoch vernachlässigte die Staatsanwaltschaft die kriminologischen Untersuchungen der Beweise und ging den Spuren nicht nach. Dank der Arbeit der unabhängigen Expertenkommission (GIEI) wurde die Ermittlungslinie überhaupt öffentlich bekannt. Die Familienangehörigen der 43 Studenten und ihre Anwälte bestärkten nun ihre Forderungen, den Hinweisen nachzugehen und den Fall vollständig aufzuklären bzw. die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die Opfer angemessen zu entschädigen. Sie könnten weitere wichtige Erkenntnisse über den Verbleib der Verschwundenen liefern. Derweil wird in den USA acht der führenden Köpfe des Kartells Guerreros Unidos der Prozess wegen illegalem Kokain- und Heroinschmuggel gemacht. Teil der Schmuggelroute waren öffentliche Reisebusse, wie sie auch von den Studenten von Ayotzinapa benutzt wurden.
Folteraussagen als „Beweise“
Nur rund einen Monat zuvor hatte das Hochkommissariat für Menschenrechte in Mexiko einen Bericht heraus gebracht, der schwere Foltervorwürfe im Fall Ayotzinapa erhebt. Mindestens 34 der mittlerweile 129 Inhaftierten sind demnach nachweislich gefoltert worden. Der Bericht untergräbt weiterhin die bereits wissenschaftlich widerlegte, aber offizielle Version des Tathergangs. Die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft (PGR) hatte wiederholt geäußert, dass die Studenten von Mitgliedern des Drogenkartells Guerreros Unidos getötet und auf einer Müllhalde verbrannt worden seien. Zeugenaussagen hatte die sogenannte „historische Wahrheit“ gestützt. Doch genau diese ist nun aufgrund der Nachweise über Folter der Inhaftierten noch unglaubwürdiger. Bereits die GIEI hatte in ihrem Bericht diese „historische Wahrheit“ widerlegt und Folter an den Verhafteten dokumentiert.
Neues Gesetz gegen Verschwindenlassen
Das Schicksal der 43 Studenten bleibt auch nach den neusten Erkenntnissen ungewiss. Der Fall Ayotzinapa ist einer von vielen Fällen des Verschwindenlassen in Mexiko. Mit mittlerweile über 34.000 verschwunden gelassenen Personen wächst der Druck seitens der Familienangehörigen auf die mexikanische Regierung. Trotz der hohen Zahl der Verschwundenen, wurden im Zeitraum zwischen 2001 und Januar 2018 nur 10 Menschen wegen Verschwindenlassen verurteilt. Über zwei Jahre lang rang die Zivilgesellschaft um ein Gesetz mit Vertreter*innen der Exekutive und Legislative. Ende 2017 erließ diese ein Gesetz gegen das Verschwindenlassen durch den Staat und durch Einzelpersonen. Mit dem neuen Gesetz bekommen besonders die Opfer des Verschwindenlassens Rechte. Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzes liegt auf die Suche nach den verschwundenen Personen. Weiterhin umfasst das Gesetz die strafrechtliche Regelung für Täter. Die internationale Gemeinschaft ist aufgerufen die Zivilgesellschaft beim Monitoring der Umsetzung des Gesetzes gegen Verschwindenlassen zu unterstützen. Ob das progressive Gesetz positive Wirkung auf das Phänomen Verschwindenlassen und die Aufklärung der Einzelschicksale hat, bleibt abzuwarten.
Aktuelle Hintergrundinformationen zu „Verschwindenlassen in Mexiko“
Seit 2011 unterstützt Brot für die Welt die Arbeit von Partnerorganisationen mit Familienangehörigen verschwundengelassener Personen in Mexiko und Zentralamerika. Zusammen mit 15 anderen Organisationen ist Brot für die Welt in der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko (DMRKM) aktiv und hat gemeinsam mit Misereor und der DMRKM die bundesdeutschen Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert. Die 2015 veröffentlichte Studie „Verschwindenlassen in Mexiko – ein systematisch begangenes Verbrechen“ wurde Anfang 2018 neu überarbeitet und liefert wichtige Hintergrundinformationen zum Thema. Sie beschreibt, wer Opfer und Täter sind und weist auf die Systematik der Verbrechen hin. Es bettet den Fall Ayotzinapa in ein weit verbreitetes und bisher kaum bekämpftes Verbrechen ein. Am Ende der Studie finden sich Empfehlungen an die mexikanische und deutsche Regierung sowie an die Europäische Union. In ihnen wird auf die strukturellen Probleme wie Straflosigkeit eingegangen, die das Verschwindenlassen in diesem Ausmaß erst ermöglichen.