Die Programmdirektorin für Zentralamerika und Mexiko, Marcia Aguiluz, erklärt im Interview die Bedeutung der Menschenrechtsarbeit für die Region.
Welche Rolle spielt die Arbeit des Interamerikanischen Menschenrechtssystems in Lateinamerika?
Wenn die Justiz im eigenen Land versagt, ist die Interamerikanische Menschenrechtskommission meist die letzte Hoffnung für Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Ihre Arbeit ist unglaublich wichtig. Wir unterstützen sie bei der Begleitung von Einzelfällen mit Rechtsberatung, Lobbyarbeit und öffentlichen Kampagnen, wir geben den Opfern eine Stimme. Bislang haben wir an rund 300 Fällen gearbeitet und vertreten damit fast 10.000 Opfer von Menschenrechtsverletzungen in ganz Lateinamerika. Dazu zählen sowohl Einzelpersonen, als auch Gruppen, die Kollektivrechte einfordern. Wir werden immer dann aktiv, wenn es sich um Musterverfahren oder Präzedenzfälle handelt, die die Gesetzgebung in den einzelnen Ländern beeinflussen und politische und soziale Veränderungen über den Einzelfall hinaus bewirken. Die sogenannte Strategische Prozessführung geht über das Gerichts- oder Beschwerdeverfahren hinaus und bezieht auch die Wissenschaft, Medien, Politik und Zivilgesellschaft mit ein.
Wie unterstützt CEJIL die Durchsetzung der Menschenrechte?
Nichtregierungsorganisationen sind oftmals die einzigen Akteure, die sich für die Rechte der Zivilgesellschaft einsetzen, ihre Arbeit ist von grundlegender Bedeutung. Anders als in Europa gibt es in vielen Ländern Lateinamerikas keinen „neutralen“ Staat, der die Einhaltung der Menschenrechte als seine Pflicht ansieht oder dessen Wirken darauf abzielt, die Würde und die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Der Wortlaut der Verfassung und der Gesetze ist meist vorbildlich, aber ihre Anwendung ist mangelhaft. Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Menschenrechtsverletzungen sind in Lateinamerika immer noch an der Tagesordnung, Frauen und Menschenrechtsverteidiger*innen sind besonders häufig von Übergriffen und Gewalt bedroht. Es geht aber auch um den Schutz von indigenen Völkern, die Rechte von LGTB-Personen, die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen sowie den Zugang zu Arbeit und Gesundheitsvorsorge. Hier herrscht immer noch Diskriminierung und soziale Ungleichheit. In Mexiko ist die Lage aktuell besonders dramatisch, Folter, Verschwindenlassen und außergerichtliche Hinrichtungen sind nur ein Teil der schweren Menschenrechtsverletzungen, die jeden Tag im Land passieren.
Wo sehen Sie die größten Hürden für Menschenrechtsarbeit in Lateinamerika?
Ein großes Problem ist die institutionelle Schwäche, aber Korruption und Straflosigkeit in Verbindung mit wirtschaftlichen Interessen sowie eine Kaste korrupter Politiker, die sich in erster Linie für den Erhalt ihres eigenen Status quo interessieren und aus diesem Grund in der Regierung sitzen. Ein Großteil der Korruption wird auch durch Firmen gedeckt, die wiederum einen Kuhhandel mit der Justiz betreiben. Ein weiteres Phänomen sind reaktionäre rechte Strömungen, die innovative Gesetzesentwürfe kritisieren und Stimmungsmache in den Medien betreiben, wie aktuell in Brasilien, Costa Rica oder Guatemala. Sie werden durch extrem konservative Kreise mit politischem Einfluss finanziert, die eine große Entscheidungsmacht besitzen. Dies schafft ein ungleiches Kräfteverhältnis gegenüber der Zivilgesellschaft, die in ihrem Spielraum immer weiter eingeschränkt wird. Die Korruption untergräbt aber auch die Demokratie an sich. Die Menschen zweifeln an der Glaubwürdigkeit von Politikern und Richtern. Wenn das politische System, das mich schützen soll, selbst korrupt ist, wenn es seine eigenen Gesetze nicht respektiert, warum sollte ich sie dann respektieren?
Dies alles schafft einen schwierigen Kontext, in dem die Menschenrechte per se gefährdet sind. Menschenrechtsverteidiger*innen werden stigmatisiert und bedroht, uns wird vorgeworfen, Kriminelle zu verteidigen oder den wirtschaftlichen Fortschritt zu behindern, beispielsweise wenn wirtschaftliche Interessen auf Territorien von Indigenen treffen. Die geringen uns zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel sind ein weiteres Problem. In einigen Ländern wie Nicaragua wird der Einflussbereich der NGOs massiv eingeschränkt, ihre Arbeit kontrolliert und an den Diskurs der Regierung angepasst.
Gibt es auch Erfolge zu verzeichnen?
Ja, natürlich. Ein großer Erfolg war beispielsweise der historische Prozess gegen den Diktator und ehemaligen Präsidenten von Guatemala, Efraím Rios Montt, der 2013 wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 80 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Oder die kürzlich vom Interamerikanischen Gerichtshof verhängten Schutzmechanismen für zwölf Gemeinden der Miskito-Indigenen an der Atlantikküste Nicaraguas, die jahrelang der Gewalt von Landbesetzern ausgesetzt waren. Für bedrohte Menschen haben wir außerdem ein Informationsnetzwerk von Ombudsstellen in Zentralamerika geschaffen. Es sind nur kleine Schritte, aber es sind Schritte nach vorne.