Einige Mütter tragen die Trauer über ihre verschwundenen Kinder mit einem „Marsch für die Verschwundenen“ in der Hauptstadt Mexiko City auf die Straße. Ihre Kinder gehören zu den ca. 35.000 offiziell registrierten Menschen, die man gewaltsam hat verschwinden lassen – unter Beteiligung oder mit Duldung staatlicher Akteure. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Man geht davon aus, dass in den letzten Jahren mehrere hunderttausend Menschen in Mexiko verschwunden sind. Seit Jahren suchen Mütter ihre Kinder auf eigene Faust. Die Behörden auf Kommunal-, Regional- und Bundesebene zeigen bisher wenig Interesse an Suche und Ermittlung. Die Mütter fühlen sich in ihrer Suche völlig alleine gelassen vom Staat. Schlimmer noch: Sie machen vielfach die Erfahrung, dass staatliche Behörden, sie bei ihrer Suche behindern, die Aufklärung von Fällen vereiteln, sie einschüchtern, ja gar bedrohen, damit sie die Suche einstellen. So wurde z.B. Müttern im Bundesstaat Veracruz, die einen anonymen Hinweis auf ein Massengrab in Colinas de Santa Fe erhalten und an die zuständige Behörde weitergegeben hatten, nach kurzer Suche und dem Fund von vier Leichen erklärt, mehr Menschen seien dort nicht begraben und sie sollten sich nun raushalten. Die Mütter – zusammengeschlossen in sogenannten Collectivos – machten auf eigene Kosten und eigene Faust mit den Grabungen weiter und fanden bis zum heutigen Tag die Gebeine von 280 Toten. Die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen. Die Frauen sind in diesen Dingen keine Expertinnen – mussten es aber zunehmend werden. Auf eigene hohe Kosten heuerten sie Geräte und Personal zur Bergung und forensische Experten für die Identifizierung an. Wie man heute weiß waren die Leichen über Monate mit Pickups und Polizeifahrzeugen in das Massengrab gebracht worden.
Die Suche geht über die Kräfte der Mütter
Für die Frauen geht das alles über ihre Kräfte. Die Suche beraubt sie ihrer finanziellen, physischen und psychischen Ressourcen und sie investieren ihre gesamte Zeit. Schlimmer noch: die Suche führt sie in die totale soziale Isolation. Die Behörden diffamieren die Verschwundenen mitsamt ihren Angehörigen als Komplizen des organisierten Verbrechens. Natürlich möchte da keiner mehr etwas mit ihnen zu tun haben, ihre Arbeitsstellen werden ihnen gekündigt. Ihre Diskriminierung und Stigmatisierung ist umfassend. Man versucht die Angehörigen und insbesondere die Mütter, mit allen Mitteln zum Aufgeben und Schweigen über das gewaltsame Verschwindenlassen ihrer Kinder zu bringen. Man versucht es mit Bestechungssummen. Man schüttet ihnen eine Tüte mit Knochen auf den Tisch, damit sie endlich Ruhe geben, weil der Fall ja nun aufgeklärt sei. Nur will die DNA – anders als die Behörden glauben machen wollen, eindeutig nicht zu ihren Kindern passen, wie unabhängige Forensiker feststellen. Leisten sie immer weiter Widerstand gegen das Totschweigen ihrer Kinder und pochen hartnäckig auf Aufklärung und Gerechtigkeit, dann bedrohen sie damit das Leben ihrer Familie: weitere Kinder verschwinden oder werden ermordet aufgefunden. Manche Frau auf diesem Marsch in Mexiko City trauert nicht nur um ein Kind, sondern um zwei, drei oder vier. Die Frau auf dem Bild, die ein Kreuz mit den Namen verschwundener Mädchen trägt, wurde wegen ihres Engagements bedroht, man werde ihr nun auch noch das allerliebste nehmen, wenn sie nicht endlich aufgebe. Wenige Tage später wurde ihr Sohn, Mitglied der mexikanischen Luftwaffe, mit eingeschlagenem Schädel vor der Küste aus einem Militär-Hubschrauber ins Meer geworfen.
Die Einschüchterung und Diffamierung gegen Mütter, die hartnäckig und öffentlich nach der Wahrheit suchen, verfehlen ihre Wirkungen auf den Rest der Gesellschaft nicht: Sie ist erfüllt von Angst, keiner will sich selbst in Gefahr bringen. Deshalb ist die Zahl derer, die am Muttertag hier in den Straßen der mexikanischen Hauptstadt mitmarschieren klein und die Bürgersteige am Rande der Strecke und des Kundgebungsplatzes sind wie leergefegt. Nicht hinschauen. Nicht darüber reden. Auch immer mehr Journalistinnen und Journalisten sind unter den Opfern und Menschenrechtsverteidiger waren ihres Lebens nie so unsicher wie in diesen Monaten.
Menschenrechtskrise in Mexiko
Mexiko durchlebt verstärkt seit 2006 eine Menschenrechtskrise. Die Gewaltakteure sind vielzählig. Staatsvertreter und Behörden vor allem auf Kommunal- und Regionalebene sowie das Militär mischen mit bei Menschenrechtsverletzungen und Morden, vertuschen oder schauen passiv zu und wenden die eigentlich vorhandenen Gesetze nicht an. Und man sagt ihnen allerlei Allianzen mit der organisierten Kriminalität, den Drogen- und Menschenhandelsbossen nach. Das ist nicht gerade typisch für einen demokratischen Rechtsstaat. Aber Deutschland und Mexiko feiern sich gerade als künftige starke Wirtschafts- und Handelspartner. Der deutschen Wirtschaft wird von Mexiko der Hof gemacht – siehe Handelsmesse Hannover. Will Deutschland den Preis für sein Engagement in Mexiko hoch setzen und dazu beitragen, dass alle mexikanischen Mütter wieder etwas zu feiern haben am Muttertag? Die Chancen für ein erfolgreiches Eintreten der Bundesregierung und der Deutschen Wirtschaft zum Schutz der Menschenrechte und einem Ende der Straflosigkeit stehen so gut wie lange nicht.
Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von Brot für die Welt, hat Anfang Mai mit einer Delegation für zehn Tage Mexiko besucht, um die Menschenrechtssituation zu bewerten. Die Delegation bereiste die Bundestaaten Guererro und Veracruz und sprach u.a. mit Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten in Ayozinapa.