Der Band ist Ergebnis eines friedensethischen Diskursprojekts, das sich dem „Gerechten Frieden“ widmet, in Anlehnung an die EKD-Friedens-denkschrift von 2007. Die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) hat dafür einen mehrjährigen Forschungs- und Konsultationsprozess gestartet, der vom Rat der EKD, der Evangelischen Friedensarbeit und der Militärseelsorge unterstützt wird. Friedensforscher-Innen und PraktikerInnen aus dem kirchlichen und kirchennahen Kontext treffen sich regelmäßig in den Räumen des Heidelberger Instituts, um über Gewalt, Frieden und Recht, sowie politisch-ethische Herausforderungen zu diskutieren. Weitere Bände sind im Rahmen der Publikationsreihe "Politisch-Ethische Herausforderungen" geplant und teilweise auch schon erschienen.
Globale Herausforderungen
In dem nun erschienenen dritten Band (hg. von Ines-Janine Werkner, FEST, und Martina Fischer, Brot für die Welt) werden eingangs globale Herausforderungen und Friedensgefährdungen analysiert. Die seit 1990 formulierten Hoffnungen auf einen "liberalen Frieden" haben sich nicht erfüllt und Strategien, Frieden durch Transformation nach westlichem Vorbild zu schaffen sind vielfach gescheitert. Die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten sind ungelöst. Krieg wurde auch in Europa wieder zu einem Mittel der Außenpolitik und Geopolitik erlebt eine Renaissance. Ines-Jacqueline Werkner beschreibt das bedrohliche „Säbelrasseln“, das sich zwischen den Großmächten USA und Russland entwickelt, und den Rückfall in ein „Denken nuklearer Eskalationsdominanz“. Dazu kommen Konflikte in der Mittelmeer-Region und der Krieg in Syrien, der sich zu einem Stellvertreterkrieg zwischen östlichen, westlichen und arabischen Mächten entwickelte, sowie offene und eingefrorene Konflikte in und um Europa, etwa in der Ukraine, im Kaukasus und im westlichen Balkan. Zur Frage, wie diese eingehegt und konstruktiv bearbeitet werden können, liefern die nachfolgenden Beiträge keine eindeutigen Politikempfehlungen, sondern eher konzeptionelle Denkanstöße. Sie stellen verschiedene Konzepte vor und diskutieren ihre Stärken und Schwächen.
„Friedenslogik“ vs. „Sicherheitslogik“
Sabine Jaberg untersucht die Unterschiede zwischen Friedenslogik und Sicherheitslogik. Sie zeigt auf, dass eine Friedenslogik erhebliche Vorzüge gegenüber einer Sicherheitslogik besitzt. Das Denken in Sicherheitskategorien führe dazu, sich vornehmlich für den Fall der Konfrontation zu wappnen, Gefahren abzuwehren, und tendiere daher zur Eskalation von Konflikten. Um das zu vermeiden, sollte eine „friedensverträgliche Sicherheit“ konzipiert und in ein „partnerverträgliches Bezugssystem eingeordnet werden“. Wer sich dem Thema so nähere, denke vom Frieden und nicht von der Ausnahme (der gewaltsamen Konfrontation) her. Das setzt voraus, dass „Bumerang-Effekte“ vermieden werden (zum Beispiel Waffenhilfe), und dass man einem engen Sicherheitsverständnis folgt, um die „Versicherheitlichung“ weiter Politikbereiche zu verhindern. Demnach macht es „einen Unterschied (…), ob Frieden aus einer Sicherheitsperspektive zugerichtet oder Sicherheit aus einer Friedensperspektive entfaltet wird“. Ein starker Frieden verlangt nach Einschätzung der Autorin, „Gewaltfreiheit als unhintergehbares Dogma zu begreifen“ (S. 37).
Kooperative Sicherheitssysteme
Die meisten AutorInnen des Bandes gehen davon aus, dass kooperative Sicherheitssysteme und Interaktion geeigneter sind, gewaltsame Eskalationen von Konflikten zu vermeiden, als Abschottung oder Konfrontation. Eine Ausnahme bildet Matthias Dembinskis Beitrag zum pluralen Frieden, der sich vorstellen kann, dass unter bestimmten Umständen „Dissoziation“ („gelungene Abgrenzung“) einen Frieden - im engen Sinne der Abwesenheit von Gewalt - eher sichern kann als eine intensivierte Kooperation; das gelte, wenn sich Wertekonflikte als zu tiefgehend erweisen oder wenn Strategien der Kooperation und Annäherung versucht wurden und offenkundig gescheitert sind. Allerdings fehlt es bislang an empirischen Untersuchungen, die diese Annahme erhärten.
Die Rolle des „Vertrauens“ für internationale Zusammenarbeit
Pascal Delhom beschäftigt sich mit der Rolle des Vertrauens für eine Sicherheitspolitik der Kooperation und Ines-Jacqueline Werkner mit dem Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“. Beide sehen als Voraussetzung für friedliche internationale Beziehungen die Fähigkeit, die eigenen Sicherheitsbedürfnisse nicht absolut zu setzen, sondern auch die Bedürfnisse und Interessen des anderen mit zu berücksichtigen. Beide betonen die Notwendigkeit der Vertrauensbildung und der Erwartungsverlässlichkeit als Voraussetzung für kooperative (also nicht konfrontative) Formen des Umgangs zwischen Staaten in sicherheitspolitischen Fragen. Das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit hat, wie Werkner aufzeigt, während des Ost-West-Konflikts wesentlich zur Entspannung und Vertrauensbildung in Deutschland und Europa beigetragen. Eine Renaissance wäre in der aktuellen Situation wünschenswert. Allerdings ist noch nicht klar, wie man es von einer bipolaren auf eine multipolare Weltordnung oder auf das spannungsvolle Verhältnis zwischen den USA, der EU und Russland übertragen kann. Delhom zufolge stellt Vertrauen in die andere Seite immer ein „Wagnis“ dar, weil es sich auf eine „doppelte Asymmetrie“ gründe oder sogar mit erheblichen einseitigen Vorleistungen verbunden sein könne (wie zum Beispiel die Entscheidung von Michael Gorbatschow für den bedingungslosen Rückzug aller Mittelstreckenraketen aus Europa 1997). Jedoch sei es aus friedenspolitischer Sicht notwendig, dieses Wagnis einzugehen.
Empathiefähigkeit: Voraussetzung für solidarische Politik
Anknüpfend an diese Überlegungen schlägt Martina Fischer in ihrem Synthesebeitrag vor, den Kategorien „Vertrauen“ und „Kooperation“ unbedingt auch „Empathie“ hinzuzufügen. Empathiefähigkeit bilde eine wesentliche Voraussetzung für einen zivilisierten Umgang mit Konflikten in der Staaten- und Gesellschaftswelt. Um ihre inneren und externen Konflikte ohne Rückgriff auf Gewalt und erfolgreich zu bewältigen, benötigten Staaten oder Gruppen die Bereitschaft zur kompromissorientierten Konfliktfähigkeit und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Auch eine Politik, die sich am "gerechten Frieden" orientiert, benötige Empathie, damit überhaupt Normen wie Solidarität und Gerechtigkeit ausgebildet werden können. Nur auf dieser Grundlage können Maßnahmen für Gewaltprävention, zur Bewältigung von Kriegsursachen und zur Unterstützung von schutzsuchenden Menschen glaubwürdig gestaltet werden. Der Beitrag weist darauf hin, dass in der christlichen Ethik Frieden und Gerechtigkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Gerechtigkeit werde jedoch nicht nur als Norm, sondern auch im Sinne einer „sozialen Praxis der Solidarität“ verstanden, die sich „vorrangig den Schwachen und Benachteiligten zuwendet“ und sich „im Gebot der Nächsten-, ja Feindesliebe“ erfüllt (siehe EKD-Friedensdenkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“, Hannover 2007, Ziff. 77).
Die EU: Ein Friedensprojekt mit großem Reformbedarf
Martina Fischer zeigt in ihrem Beitrag zur EU-Politik auf, dass die Union in wichtigen Politikbereichen, vor allem an der Schnittstelle Migration, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik Empathie zunehmend vermissen lässt. Die EU, die als Wertegemeinschaft für Demokratie, Frieden und Menschenrechte antrat, verrate im Zuge einer Politik der Abschottung und Grenzverlagerung die Schutzverantwortung gegenüber Geflüchteten und damit auch die liberalen Normen. Solange die Mitgliedstaaten nicht bereit seien, den afrikanischen Ländern gegenüber faire Handelsbeziehungen und eine veränderte Agrarpolitik zu etablieren und solange sie mit dem Ziel der Migrationsabwehr Gewaltapparate ausrüste, die Menschenrechte mit Füßen treten, laufe diese Politik dem Anspruch eines gerechten Friedens zuwider. Es deute vieles darauf hin, dass sich die EU zunehmend von „Friedenslogik“ verabschiedet und stattdessen primär von einer „Sicherheitslogik“ leiten lässt, die vorrangig polizeilich und militärisch verstanden wird. Die Europäische Union (EU) wurde vielfach und auch in der Friedensdenkschrift der EKD als „Friedensprojekt“ charakterisiert. Zweifellos hat sie zum friedlichen Integrationsprozess souveräner Staaten maßgeblich beigetragen. Die Herausforderung besteht aktuell nicht nur darin, ihren inneren Zusammenhalt zu festigen und die bisherigen Integrationsleistungen gegen extremistische und populistische Angriffe zu verteidigen, sondern gleichzeitig auch ihre internationale Friedensfähigkeit zu stärken und sie zu befähigen, einen angemessenen Umgang mit Spannungen und Wohlstandsgefällen in der Nachbarschaft zu finden.
Ausbau der internationalen Rechtsordnung
Die Vereinten Nationen (VN) haben als System kollektiver Sicherheit bedeutsame völkerrechtliche Grundlagen und Übereinkünfte zur Friedenssicherung geschaffen. Sie stellen gegenüber ihrem Vorläufer, dem Völkerbund, einen deutlichen Fortschritt dar, wie der Beitrag von Hans-Joachim Heintze aufzeigt. Er kommt zu dem Schluss, dass sich die Ausführungen der EKD-Denkschrift zur Bedeutung der VN für eine globale Friedens-ordnung weiterhin als absolut relevant erweisen. Er analysiert sowohl die Erfolge als auch die Dilemmata und Begrenzungen des UN-Systems und liefert zahlreiche fundierte Argumente, mit denen man dem verbreiteten Trend zum „UN-bashing“ entgegenwirken kann. Heintze erinnert daran, dass die UN-Charta die Mitgliedstaaten zur friedlichen Streitbeilegung verpflichtet und ausdrücklich diplomatische Wege (Gute Dienste und Mediation) und juristische Mittel dazu vorsieht. Sanktionen und militärische Zwangs-maßnahmen werden allenfalls als letztes Mittel – also im Ausnahmefall – in Erwägung gezogen. Bezüglich der – häufig kritisierten – Vetoposition der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats schlussfolgert Heintze, nicht das System sei falsch, denn es entspringe der Erkenntnis, dass der Weltfrieden nicht gegen Großmächte gesichert werden kann, sondern nur mit ihnen. Ein Problem bestehe aber darin, dass diese das System nicht – wie zugesagt – im Interesse des Weltfriedens sondern vielfach zur Durchsetzung ihrer nationalen Interessen nutzten. Dabei haben sie in Kauf genommen, die UN-Charta zu verletzen, und dem System kollektiver Sicherheit zuwider gehandelt.
Vereinte Nationen reformieren
Der Sonderstatus der fünf Großmächte als ständige Mitglieder im Sicherheitsrat sei historisch gerechtfertigt gewesen, so Heintze. Dieser müsse heute jedoch der geänderten globalen Kräftekonstellation angepasst werden. So sei es auch nicht mehr hinnehmbar, dass ein ganzer Kontinent, wie Afrika, überhaupt nicht als ständiges Mitglied im Rat repräsentiert sei, ebenso wenig wie Indien, das mehr als eine Milliarde Menschen repräsentiert, und Lateinamerika. Trotz aller Defizite bildeten die VN ein unverzicht-bares System kollektiver Sicherheit. Als Staatenorganisation können sie jedoch nur so friedensfördernd tätig werden, wie die Staaten dies zulassen. Umso mehr Bedeutung kommt der Zivilgesellschaft zu, die die Staaten immer wieder an ihre Versprechen aus dem Gründungsvertrag, erinnern muss, um zukünftige Generationen vor Kriegen zu bewahren.
VN-Regionalorganisationen stärken
Zugleich hat das UN-System diverse Regionalorganisationen (wie zum Beispiel die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE) generiert (diese behandelt Heinz Gärtner in dem Band). Als eine von den Vereinten Nationen anerkannte Regionalorganisation nach Kapitel VIII der UN-Charta übernimmt sie wichtige Funktionen im Krisenmanagement, so in der Frühwarnung, Wahlbeobachtung, Schaffung von Rechtsstaatlichkeit sowie im Kampf gegen Extremismus und organisiertes Verbrechen und im Aufbau von Polizei. In der Tat lieferte die OSZE seit Beginn der 1990er Jahre eindrucksvolle Beispiele für Gewaltprävention und zivile Konflikt-bearbeitung, indem sie z.B. die friedliche Loslösung der baltischen Länder von der ehemaligen Sowjetunion unterstützte. Auch in der Ukrainekrise kam ihr eine wichtige Funktion bei der Schaffung vertrauensbildender Maßnahmen und Rüstungskontrolle zu. Auch die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 würdigt die Rolle der OSZE für eine europäische Friedensordnung. Die Kapazitäten der OSZE müssten im Rahmen einer europäischen Friedensordnung massiv ausgebaut werden, denn schließlich bildet sie – gemeinsam mit dem Europarat und der EU – einen wesentlichen Pfeiler für Frühwarnung und Nachkriegskonsolidierung. Auch die Verantwortung Europas sieht die Denkschrift untrennbar mit den Normen und Prinzipien der VN verbunden (EKD 2007, Ziff. 139).
Zivile Ansätze für Prävention und Friedenskonsolidierung stärken
Zu den Grundelementen des christlichen Verständnisses vom gerechten Frieden gehören der Schutz vor Gewalt, ein Leben in Würde, die Förderung der Freiheit, der Abbau von Not und das Recht. Dieses Motiv findet sich auch in der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 mit der Verknüpfung von Frieden mit Recht/Gerechtigkeit sowie menschlicher Sicherheit. Die EKD-Denkschrift versteht Frieden als gesellschaftlichen Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender politischer und sozialer Gerechtigkeit (EKD 2007, Ziff. 80). Gerechter Frieden in der globalisierten Welt setze „den Ausbau einer Rechtsordnung“ voraus, die „dem Vorrang ziviler Konfliktbearbeitung verpflichtet“ sei und „die Anwendung von Zwangsmitteln an strenge ethische und völkerrechtliche Kriterien binden“ müsse (EKD 2007, Ziff. 196, Hervorh. d. Verf.). Bedeutsam ist vor allem der Hinweis, dass staatliche Sicherheits- und Friedenspolitik von den Konzepten der „Menschlichen Sicherheit“ und der „Menschlichen Entwicklung“ her gedacht werden muss. (EKD 2007, Ziff. 197) Aus diesem Leitbild ergeben sich als politische Friedensaufgaben die Stärkung der VN und ihrer Regionalorganisationen und die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen, zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Friedenspolitische Beschlüsse der EKD-Synoden
Die EKD-Synoden haben in den vergangenen Jahren wichtige europapolitische Beschlüsse gefasst, die auf den Ausbau ziviler Krisenprävention und Friedensförderung zielen. Die 10. Synode in Würzburg schlug im November 2006 der deutschen Ratspräsidentschaft vor, alle Politikbereiche der EU darauf hin zu prüfen, „welche Bedeutung sie für ein integriertes Konzept der Krisenprävention und -bewältigung haben“, die „Unabhängigkeit ziviler von militärischen Mitteln“ zu gewährleisten und die „Kohärenz der Instrumente zur Krisenbewältigung“ sicherzustellen (EKD 2006). Die EU-Kommission wurde aufgefordert, „den Aufbau und die Institutionalisierung eines effektiven Instruments zur Koordinierung der zivilen Mittel zügig voranzutreiben“ (EKD 2006). Aktuell steht die Dynamik für den Ausbau dieser Instrumente aber weit hinter den Investitionen für militärische Zusammenarbeit zurück. Wenn es nach der EU-Kommission geht, soll mit dem neuen „Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-27“ bewährten Finanzierungsinstrumenten, die für die zivile Krisenprävention und Menschenrechts-politik eingerichtet wurden, die Eigenständigkeit entzogen werden. Ein 13 Mrd Euro schwerer Verteidigungsfonds soll die Rüstungsindustrie subventionieren und mit 6,5 Mrd Euro für „Militärische Mobilität“ soll die NATO entlastet werden. Europäische NGO-Netzwerke versuchen, dieser Dynamik noch entgegenzuwirken. Ihre Bemühungen müssen durch Dialoge mit ParlamentarierInnen und Regierungen in den Mitgliedstaaten unterstützt werden. Gleichzeitig wäre es wichtig, die Vorschläge zum Ausbau ziviler Instrumente für Krisenprävention und Friedensförderung zu präzisieren und zu konkretisieren. Kirchliche Würdenträger und Hilfswerke können mit Erfahrungen in der Friedensarbeit maßgeblich dazu beitragen, eine solche Diskussion vorzubereiten. Der Synodenbeschluss von 2006 bleibt daher höchst relevant und kann für die Bewertung der Politik der Union auch weiterhin einen klaren Orientierungsrahmen bieten.