Der scheidende Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, hat es beim Sondergipfel der Staats- und Regierungchefs der EU in Sibiu (Rumänien) am 7. Mai auf den Punkt gebracht: es gehe um die "Weltpolitikfähigkeit" der EU. Die Agenda dafür soll erst beim Gipfeltreffen im Juni beschlossen werden. Aber jetzt schon ist klar, dass es um eine "strategische Agenda" gehen wird, die von der Kommission identifizierte zentrale Herausforderungen, z.B. den Schutz vor Terrorismus, den Umgang mit "illegaler Migration" und Digitalisierung zum Inhalt haben wird. Wenig später erklärte der Rat der EU am 13. Mai in einer Schlussfolgerung die Sahelregion zu einer "strategischen Priorität", und derzeit wird eine Intensivierung der Zusammenarbeit mit den Außen- und Verteidigungsministern der G5-Sahel-Staaten vorbereitet. Diese sind schon seit Monaten mit dem Aufbau von EU-geförderten Eingreiftruppen befasst. Kurz vor Beginn der Wahlen zum Europäischen Parlament ist es auch für die EU-BürgerInnen höchste Zeit, sich zu fragen, wie sie sich die "Weltpolitikfähigkeit" der EU vorstellen, welche Art von Nachbarschaftspolitik sich daraus ableitet, und welche KandidatInnen dafür passend erscheinen.
Die historische Leistung der EU: Frieden in den eigenen Reihen
Die Europäische Union hat als wirtschaftliches und politisches Kooperationsprojekt zum Frieden und zur Aussöhnung unter den Mitgliedstaaten maßgeblich beigetragen. Im Zuge der Süd- und Osterweiterung hat sie auf den Umbau von Institutionen und Rechtsstaatlichkeit hingewirkt und damit auch friedensstiftende Wirkung entfaltet. Auch für Menschen, die sich im Globalen Süden für Entwicklung, Frieden und Menschenrechte engagieren, wurde die EU zu einem wichtigen Bezugsrahmen, weil sie sich jenseits nationaler Interessen entwicklungspolitisch engagierte und Mittel für die Förderung von Zivilgesellschaft, demokratische Institutionen, Rechtsstaatlichkeit und zivile Konfliktbearbeitung bereitstellte. Wenn die EU diese Politikdimension ausbauen und sich als Brückenbauerin und wirtschaftliche Kooperationspartnerin verstehen würde, könnte sie auch auf globaler Ebene als „Friedensprojekt“ wirken. Allerdings wurden mit den Entwürfen der Kommission für den neuen EU-Finanzrahmen 2021-27, die dem Parlament aktuell zur Beratung vorliegen, die Weichen teilweise neu gestellt.
Ausbau der militärischen Dimension untergräbt Friedenspolitik
Seit einigen Jahren kann man auf EU-Ebene eine deutliche Hinwendung zur militärischen Dimension beobachten. 2017 beschlossen die Mitgliedstaaten, sich in einer „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) in der Rüstungsbeschaffung abzustimmen, was sie mit einer Steigerung von Effizienz begründeten, während sie sich aber gleichzeitig zur stetigen Erhöhung ihrer Verteidigungshaushalte verpflichteten. Gleichzeitig begann die EU, den Aufbau militärischer Eingreifverbände in den Sahelstaaten (G-5-Sahel) zu unterstützen und legte Programme zur militärischen und polizeilichen „Ertüchtigung“ (d.h. Ausbildung und Ausrüstung von „Sicherheitsapparaten“ in Drittstaaten) auf, die vielfach mit Abkommen über Migrationskontrolle verknüpft wurden. Für solche Maßnahmen wurden auch zivile Instrumente, etwa das bewährte „Instrument für Stabilität und Frieden“ (IcSP), umfunktioniert. Im Haushalt 2021-27 sollen schließlich 13 Mrd. € für einen „Verteidigungsfonds“ (zur Subventionierung der Rüstungsindustrie) und 6,5 Mrd. € für „Militärische Mobilität“ (zur Entlastung der NATO) aus dem EU-Gemeinschaftshaushalt investiert werden. All diese Ausgaben erfolgen zusätzlich zu den nationalen Verteidigungsbudgets der Mitgliedstaaten. Im Bereich der zivilen Krisenprävention und Friedensförderung sind derartige Aufwüchse nicht erkennbar, vielmehr droht eine Reduzierung der Mittel von 2,3 Mrd € (2014-20) auf weniger als 1 Mrd Euro (2021-27), wenn es nach im Sommer 2019 vorgelegten Pänen der EU-Kommission geht, die dem EP zur Entscheidung vorliegen. Im Mehrjährigen Finanzrahmen der EU für den Zeitraum 2021-27 möchte die EU-Kommission bewährte eigenständige Instrumente für Entwicklung, Frieden und Menschenrechte in ein neues Außeninstrument („Neighbourhood, Development and International Cooperation Instrument“, NDICI ) überführen. Darin soll der Europäische Entwicklungsfonds aufgehen, der bislang jenseits des Gemeinschaftshaushalts von den Mitgliedstaaten bereitgestellt wurde. Außerdem sollen darin weitere Instrumente zusammengefasst werden, die im bisherigen Finanzrahmen (2014-20) als eigenständige Fördertöpfe geführt wurden, darunter das Development Cooperation Instrument (DCI), die Europäische Nachbarschaftsinitiative (ENI), das Instrument für Demokratie und Menschenrechte (EIDHR), und das Instrument für Stabilität und Frieden (IcSP). Damit sind weitere Umfunktionierungen für außen- und sicherheitspolitische Ziele vorprogrammiert.
Migrationsabwehr und "Ertüchtigung" auf Kosten von Entwicklung und Nachbarschaftspolitik?
Die EU-Kommission möchte die Finanzarchitektur der Union möglichst flexibel gestalten, so dass zivile und entwicklungspolitische Mittel auch für eine Verstärkung von Grenz- und Migrationskontrolle genutzt werden können. Die Themen „Migration“ und „Ertüchtigung“ (englisch: „Capacity Building for Development and Security“) nehmen im neuen Außeninstrument "NDICI" prominenten Raum ein. Mit der „Versicherheitlichung“ der Nachbarschafts- und Entwicklungspolitik und durch Militärhilfe für Diktaturen, die bei der Vorverlagerung der EU-Grenzen helfen, setzt die Union jedoch ihre Glaubwürdigkeit als "Wertegemeinschaft" für Menschenrechte, Demokratie und Frieden aufs Spiel. So ist zu befürchten, dass die Entwicklungspolitik kurzfristigen außen- und sicherheitspolitischen Eigeninteressen der Mitgliedstaaten (z.B. Migrationsabwehr) untergeordnet und nicht mehr auf besonders bedürftige Regionen, sondern auf Länder ausgerichtet wird, die für Migrationsabwehr relevant erscheinen und in der Vorverlagerung der EU-Grenzen auf den afrikanischen Kontinent kooperieren. Auch "Sicherheit" hat einen zentralen Stellenwert, die jedoch zunehmend militärisch definiert wird. Auch die Unterstützung von Armeen in Drittstaaten soll künftig aus dem Gemeinschaftshaushalt der EU finanziert werden. Mit der Zusammenfassung der bisherigen Instrumente wird einer großen Intransparenz Tür und Tor geöffnet, weshalb kirchliche Hilfswerke und NGO-Netzwerke dafür plädieren, deren Eigenständigkeit zu erhalten und entwicklungspolitische Mittel eindeutig an ODA-Kriterien (die OECD-Bestimmungen für offizielle Entwicklungszusammenarbeit) zu binden. Zudem fordern die NGOs, die EU solle ihre Ausgaben für die Prävention von Gewaltkonflikten und zivile Friedensförderung mindestens verdoppeln. Darüber hinaus gibt es den Appell, militärische Ausrüstungs- und Ausbildungsmaßnahmen an strenge menschenrechtliche Kriterien zu binden und sicherzustellen, dass das Verbot von Rüstungstransfers in Diktaturen und Spannungsgebiete nicht unterlaufen wird. Es kann nicht sein, dass die EU aus einem Budget MenschenrechtsaktivistInnen und Initiativen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützt und aus einem anderen Haushaltstopf Militärhilfe an fragwürdige Regime leistet, die eben diese AktivistInnen unter Druck setzen und kriminalisieren.
Die Stärken der EU liegen in der zivilen, diplomatischen und wirtschaftlichen Dimension
Um auf globaler Ebene friedenspolitische Wirkung zu entfalten, müssten sich die EU und ihre Mitgliedstaaten stärker denn je darum bemühen, Demokratisierung zu unterstützen, Zivilgesellschaft zu fördern, Brücken zu bauen, Friedensprozesse durch Mediation, Diplomatie und Dialog zu begleiten, und diese mit entwicklungspolitischen und wirtschaftlichen Anreizen zu flankieren. Außerdem müsste die zivile Dimension der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ dringend ausgebaut werden. Noch immer fehlt es auf EU-Ebene an einem verlässlichen Pool von Expertinnen und Experten für zivile Missionen, etwa zum Aufbau von Institutionen der Streitschlichtung und zur Verbesserung des Justizwesens. Das EU-Parlament hat sich in einer Entschließung im März 2019 ausdrücklich für den Aufbau von EU-Kapazitäten für Konfliktverhütung und Mediation ausgesprochen (12.3.2019). Zudem haben sich die Mitgliedstaaten der EU durch eine Entschließung des Ministerrats verpflichtet, ihr Engagement für die Bereitstellung von Personal und Ressourcen für zivile EU-Missionen zu verstärken. Diese Texte enthalten wichtige Ansatzpunkte für eine Stärkung der zivilen Kapazitäten und für Maßnahmen zur Prävention von Gewaltkonflikten. Aber leider handelt es sich dabei bislang allein um Appelle und Absichtsbekundungen, die noch an keiner Stelle mit den erforderlichen Finanzmitteln unterlegt wurden. Darin liegt eine zentrale Herausforderung für das neue Parlament.
Kooperative Sicherheit statt militärische Aufrüstung
„Sicherheit“ muss partnerschaftlich gedacht und darf nicht in erster Linie militärisch verstanden werden. Frieden lässt sich nur mit gesamteuropäischer und globaler Perspektive gestalten. Das gilt zum Beispiel für die Nachbarschaftspolitik nach Osten, etwa mit Blick auf Konflikte im Kaukasus und in der Ukraine. Dafür bietet die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein bewährtes System kooperativer Sicherheit, das Vertrauensbildung unterstützt, das Schiedsgerichtsverfahren sowie diplomatische Instrumente zur Krisenverhütung, Konfliktbearbeitung und Rüstungskontrolle vorhält. Nicht Investitionen in Militärbündnisse und Erhöhung der Verteidigungsausgaben, sondern die Vereinten Nationen und die OSZE bei ihren Friedensbemühungen zu unterstützen, ist das Gebot der Stunde. Durch effizienteres Wirtschaften und Begrenzung der Verteidigungsausgaben könnten Mittel dafür freigesetzt werden, Friedenspolitik auf europäischer und globaler Ebene - darunter auch UN-Missionen - aktiv mitzugestalten.
Entwicklungsgelder erhöhen und Nachbarschaftspolitik fair gestalten
So könnten sich die EU-Mitgliedstaaten auch endlich zielstrebig dem Ziel annähern, 0,7 % ihrer Wirtschaftsleistung in Entwicklungszusammenarbeit zu investieren und sich ernsthaftan der Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) der VN beteiligen. Das SDG 16 beispielsweise fordert dazu auf, auf die Reduzierung aller Formen von Gewalt auf globaler Ebene hinzuwirken, Ausbeutung und Menschenhandel zu unterbinden, illegale Waffenströme und Kriegsfinanzierung einzudämmen, Rechenschaft über alle Investitionen abzulegen, Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene zu fördern, und Institutionen zu stärken, die den Schutz der Grundfreiheiten garantieren. Daran mitzuwirken erfordert von der EU und ihren Mitgliedstaaten Solidarität und ein Umdenken im Sinne des Konzepts der „menschlichen Sicherheit“ und „menschlichen Entwicklung“, das im UN-Kontext entwickelt wurde. Dafür bedarf es nicht nur einer besseren Abstimmung in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, sondern vor allem einer insgesamt kohärenten Politik auch in den Bereichen Landwirtschaft, Klima, Wirtschaft und Handel.
"Weltpolitikfähigkeit" muss sich am globalen "Gemeinwohl" orientieren
Im protestantischen und ökumenischen Kontext wird seit langem über die Gestaltung eines "gerechten Friedens" nachgedacht, der auf der lokalen und internationalen Ebene errungen und im Sinne von globaler Solidarität und Bewahrung der Schöpfung gestaltet werden muss. Die katholische Kirche hat dafür den Begriff "Weltgemeinwohl" geprägt und fasst darunter "globale Entwicklung in sozialer, ökonomischer und ökologischer Verantwortung". Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass ohne Recht und Gerechtigkeit kein Frieden und ohne Frieden keine wirtschaftliche Entwicklung denkbar sind. Am globalen Gemeinwohl orientierte Politik darf sich nicht nur um den eigenen Wohlstand sorgen, sondern muss auch die Auswirkungen des eigenen Handelns und Wirtschaftens andernorts in den Blick nehmen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen die eigenen Anteile an den globalen Strukturen des Unfriedens erkennen und schnellstmöglich überwinden. Das ist die Voraussetzung für glaubwürdige Krisenprävention. Dazu gehört, Unternehmen so zu kontrollieren, dass sie nicht durch unbedachte Direktinvestitionen oder Missachtung von ökologischen Rechten, Land-, Arbeitnehmer- oder Menschenrechten Lebensgrundlagen zerstören. Dazu gehört auch, die Rüstungsindustrie in ihre Schranken zu verweisen und den gemeinsamen Standpunkt der EU, der eine Lieferung von Waffen in Krisen- und Spannungsgebiete untersagt, endlich in nationales Recht umzusetzen und besser zu kontrollieren. Und dazu gehört, last but not least, eine glaubwürdige Klimapolitik zu etablieren und den CO2-Ausstoß zu drosseln. In all diesen Feldern könnte die EU beweisen, dass es ihr ernst ist mit einer globalen Präventionspolitik und dass sie den Ursachen von Gewaltkonflikten auf den Grund geht. Mit einer fairen Handelspolitik und der Öffnung ihrer Märkte für Agrarerzeugnisse müsste sie dann auch eine solidarische Nachbarschaftspolitik mit den nordafrikanischen Ländern gestalten.
PolitikerInnen wählen, die keine Mühen scheuen ...
In diversen Mitgliedsländern sind populistische EU-Kritikerinnen auf dem Vormarsch, die sich paradoxerweise gleichzeitig um Sitze im EU-Parlament bewerben. Sie zeichnen gern ein Zerrbild der Union, indem sie diese als einheitlichen Akteur beschreiben, der weit weg von den Bürgerinnen und über deren Köpfe hinweg entscheidet. Tatsächlich aber ist "die EU" kein eigenständiger Akteur, sondern einfach eine supranationale Organisation, die sich aus den vielfältigen Interessen der Mitgliedstaaten und unterschiedlichen Entscheidungsebenen (Rat und Parlament als gesetzgebende und Kommission als ausführende Instanz) zusammensetzt und nach dem "Subsidiaritätsprinzip" funktioniert. Auch wenn man sich mehr Mitspracherechte des Parlaments in vielen Fragen wünschen würde, muss man zugeben, dass dieses wichtige Kontrollfunktionen über die Ausgaben ausübt und höchst transparent arbeitet. Alle relevanten Zusammenkünfte im EP, nicht nur die Plenartagungen, sondern auch alle Ausschuss-Sitzungen werden im "life-stream" übertragen und können von den EU-BürgerInnen am heimischen PC verfolgt werden. Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten wird exakt erfasst und namentlich dokumentiert. Kaum ein/e nationale/r Volksvertreter/in unterliegt einer so umfassenden Beobachtung. Das gibt den WählerInnen die Möglichkeit nachzuvollziehen, wie sich Abgeordnete, die einen Sitz im EP innehaben und erneut zur Wahl antreten, bei relevanten Entscheidungen verhalten haben (beispielsweise zu enticklungs- und friedenspolitisch relevanten Verordnungen). Man kann also jeden einzelnen Kandidaten und jede Kandidatin auf ihre "Weltpolitikfähigkeit" und friedenspolitische Eignung hin prüfen.
... und ihre Hausaufgaben machen
Aber nicht nur das Abstimmungsverhalten sollte ausschlaggebend sein, sondern auch, ob Abgeordnete regelmäßig ihre "Hausaufgaben" erledigen und sich aktiv mit Änderungsvorschlägen einbringen. Die bloße Ablehnung von Texten, die dem EP vorgelegt werden, fällt Rechts- wie LinkspopulistInnen gleichermaßen leicht. Aber sie scheuen meist die Mühen, die damit verbunden sind, unliebsame Textentwürfe konstruktiv zu verändern um negative Entwicklungen abzuschwächen. Politikfähigkeit erweist sich aber darin, auch komplexe Sachverhalte zu durchdringen, Gesetzesvorhaben mit Sachkompetenz umzugestalten und dafür BündnispartnerInnen zu finden. Es lohnt sich, genau hinzuschauen. Man sollte nur KandidatInnen mit Stimmen zu belohnen, die sich diesen Mühen unterziehen, und die "Weltpolitikfähigkeit" im Sinne von "Friedensfähigkeit" verstehen.
NGOs aus diversen EU-Ländern richteten im Vorfeld der EU-Wahl einen Aufruf an das EP mit dem Titel „Rettet das Friedensprojekt Europa“ . 108 NGOs haben diesen inzwischen unterzeichnet und 12.000 Unterschriften von Einzelpersonen gesammelt. Noch bis zur Wahl am 23. bis 26. Mai sind EU-BürgerInnen eingeladen, den Aufruf unter www.rettetdasfriedensprojekt.eu zu unterzeichnen. Gleichzeitig haben ExpertInnen aus der ökumenischen Bewegung Wahlprüfsteine entwickelt, die friedenspolitische Fragen und Kriterien an Parteien und KandidatInnen enthalten.