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"Ich habe es satt"-Interview mit Antônio Andrioli

„Ich habe es satt, dass in Brasilien Indigene, Kleinbauern und Landlose von ihrem Land vertrieben werden, damit mehr Soja angebaut werden kann.“ -

Interview mit Antônio Andrioli, Vize-Rektor der Universidade Federal da Fronteira Sul (UFFS), geführt von Angela Müller

 

Von Gastautoren am

Antonio Andrioli auf der "Wir haben es satt" Demonstration 2018

Angela Müller: Am Samstag findet in Berlin die „Wir haben es satt“ Demo statt. Was bedeutet Dir die Bewegung?

Antônio Andrioli: Ich war letztes Jahr auf der Demo dabei und konnte vor dem Brandenburger Tor eine Botschaft zur Situation von Landwirtschaft und Politik in Brasilien vortragen. Ich hoffe, dass alle Bauern der Welt die industrielle Landwirtschaft satt haben, denn sie zerstört die Natur und die Grundlage der bäuerlichen Landwirtschaft. Sie lässt einer nachhaltigen, gesunden und sozial gerechten Lebensmittelproduktion keine Chance. Ich halte diese Demo und die damit zusammenhängende Bewegung für ein klares Zeichen, dass es möglich ist, im Einklang mit der Natur gutes Essen für alle zu produzieren.

Die Landwirtschaft hat meiner Ansicht nach nur eine Zukunftsperspektive, wenn sie bäuerlich, lokal und ökologisch gestaltet wird. Auch das Engagement gegen Glyphosat, Agrargifte generell und Gentechnik ist für mich sehr wichtig. Ich wünsche mir außerdem, dass Solidarität eine wichtige Rolle spielt. Denn das gute Lebensniveau in Europa basiert auf der Ausbeutung von Mensch und Natur in anderen Teilen der Welt. Ich habe es satt, dass in Brasilien Indigene, Kleinbauern und Landlose von ihrem Land vertrieben werden, damit mehr Soja angebaut werden kann. Soja, das letztendlich als Eiweiß für die billige Fleisch- und Milchproduktion auch in Europa dient.

Die Frage der Solidarität gewinnt an Bedeutung, seit Jair Bolsonaro Präsident wurde. Schon vor Beginn seiner Amtszeit hat er die Nachrichten beherrscht, nun regiert er per Dekret. Wie hast Du die vergangenen Monate seit seiner Wahl erlebt?

Es ist eine Mischung aus Enttäuschung und Empörung. Enttäuschung, weil ich nicht dachte, dass so viele den Parolen und Lügen des Wahlkampfes glauben würden. Darunter auch Menschen, deren Lebensqualität sich durch die Sozialprogramme der vorherigen Regierungen verbessert hatte. Diese Programme sollen jetzt abgebaut werden, was die  soziale Ungleichheit verstärken wird.

Die Empörung steigert sich noch. Denn viel bedrückender als die angekündigten Vorhaben und die ersten Dekrete ist die große Zustimmung in der Bevölkerung. Die glaubt anscheinend fest daran, dass durch Privatisierungen, den Abbau des Sozialstaates und Repression die Wirtschaft wieder wachsen wird. Diese Illusion scheint weltweit zuzunehmen und ist in Brasilien auch unter den ärmsten Schichten der Gesellschaft vorhanden, die - enttäuscht, hoffnungslos und entpolitisiert - nur weiter zu verlieren haben.

Die agrarökologische Bewegung dagegen ist voller Sorge und Angst. Was hat sie von der neuen Regierung mit der Agrarministerin Tereze Cristina, auch „Muse des Giftes“ genannt, zu erwarten? Und welche Entwicklungen zeichnen sich bei der Gentechnik ab?

Das Ministerium für Agrarentwicklung wurde bereits unter Temer gestrichen. Das Umweltministerium existiert zwar noch, wird aber sehr stark mit dem Landwirtschaftsministerium kooperieren. Es ist eigentlich nicht neu für Brasilien, dass das Agrarministerium so mächtig ist. Es setzt die Interessen der Großgrundbesitzer, der Agrarindustrie, um. Diese stellt nach wie vor den der größten Block im Parlament und ist jetzt auch an der Regierung beteiligt.

Schon unter Lula und Roussef stellte sich die Frage, ob eine Koexistenz zwischen kleinbäuerlicher Familienlandwirtschaft und Agrobusiness möglich ist. Die Agrarreform betrifft auch die Wirtschaft insgesamt, denn Großgrundbesitzer produzieren hauptsächlich für den Export. Eine Umverteilung des Landes an bäuerliche Betriebe könnte die Arbeitslosigkeit bekämpfen und den Binnenmarkt ankurbeln.

Jetzt ist zu erwarten, dass alle Programme zur Förderung von Familienlandwirtschaft, Agrarreform, Ernährungssicherheit, Umwelt und Agrarökologie einfach abgebaut werden. Selbst erfolgreiche Programme wie „Null Hunger“, das durch den Aufkauf von Lebensmitteln auch den Bauern zu Gute kommt, sind davon betroffen. Nur noch exportorientierte Landwirtschaft  soll unterstützt werden. Dazu sind der Import von Agrargiften, die bisher verboten sind, und die Zulassung neuer gentechnisch veränderten Pflanzen sehr wahrscheinlich. 

Nichtregierungsorganisationen sollen in Zukunft vom Regierungssekretariat kontrolliert werden. Welche Bedrohungen siehst Du für die sozialen Bewegungen?

Schon unter Temer wurde versucht, Aktivisten und soziale Bewegungen strenger zu kontrollieren. Einige sollten gar als krimineller Organisationen eingestuft werden.

Bolsonaros Dekret zielt stark auf die Demarkierung von indigenem Land ab und sorgte auch im Ausland für prompte Reaktionen. Es ist verfassungswidrig, aber momentan werden hier Gesetze entweder geändert oder neu interpretiert. Selbst die Judikative als Institution steht unter großem Vertrauensverlust.

Wenn Bolsonaro tatsächlich umsetzen wird, was er im Wahlkampf ankündigte, dann haben wir mit einer neuen Welle von Repression zu tun. Wir drücken die Daumen, dass er seine Versprechen nicht halten wird. Aber die sozialen Bewegungen werden es wohl sehr schwer haben und große Unterstützung von außen brauchen, ähnlich wie in den Zeiten der Militärdiktatur. Die wichtigsten Organisationen und Bewegungen im Lande wehren sich bereits gemeinsam gegen das Dekret und werden weiter dagegen Widerstand leisten.

Letztes Jahr sind so viele Menschen bei Landkonflikten ums Leben gekommen, wie noch nie. Dieses Jahr hat mit neuen Vertreibungen und auch Tötungen begonnen. Die Landlosenbewegung MST, die mit legalen Mitteln eine Umverteilung des Landes bewirkt,  wird als Terrororganisation bezeichnet.

Die Landlosenbewegung ist die größte politische Kraft in der brasilianischen Zivilgesellschaft und leistet demokratischen Widerstand gegen die autoritäre Regierung. Die Bekämpfung der MST ist daher eine logische politische Maßnahme.

Schon in den ersten Tagen wurde die Agrarreform komplett gestoppt und die zuständigen Regierungsvertreter kündigten an, dass es mit der MST keinen Dialog oder Verhandlungen mehr gäbe. Wir rechnen mit Repression, Zwangsräumungen und Vertreibungen. Der Widerstand geht aber weiter. Alle fortschrittlichen Kräfte, die in Brasilien und weltweit die MST unterstützen, bilden eine Einheit.     

Im Wahlkampf hat Bolsonaro gesagt, es gäbe keinen Zentimeter Land mehr für die Indigenen. Die Indianerschutzbehörde FUNAI wurde bereits aus dem Justizministerium herausgelöst und dem Landwirtschaftsministerium unterstellt. Ziel ist, dass Indigene ihr Land verkaufen können, um neue Agrarflächen zu erschließen.

Schon unter Dilma Roussef wurden Demarkierung und Anerkennung von indigenem Land vernachlässigt.  Jetzt ist das Agrarministerium dafür zuständig und die Flächen sollen für Landwirtschaft genutzt werden. Bisher schützten die Indigenen die Regenwälder, nun kann die Abholzung weiter zunehmen. Das Ganze ist also eng mit der verantwortungslosen Umweltpolitik der Regierung verbunden.

Bäuerinnen hier im Süden Brasiliens befürchten eine Verschlimmerung der Trockenheit, wenn durch die Abholzung am Amazonas der Wasserkreislauf unterbrochen wird.

Das wird einen großen Einfluss auf das Klima im ganzen Land und auch weltweit haben.

Es ist aber auch eine Frage der Menschenrechte. Die Ureinwohner und ihre Lebensform sind durch die brasilianische Verfassung geschützt und als Minderheiten anerkannt. Wie die Schwarzen stehen ihnen z.B. Quoten an staatlichen Universitäten zu, und sie werden bei bestimmten Regierungsprogrammen bevorzugt.

Der Kampf für die Erhaltung dieser historischen Errungenschaften und für den Schutz ihrer Lebensräume ist jetzt entscheidend. Es geht um ihre Existenz und die darf nicht für die Ausweitung der Agrarproduktion geopfert werden.

Bolsonaro sieht es als gerechtfertigt an, dass Frauen weniger als Männer verdienen. Die neue Familienministerin will ein Land in dem „Mädchen rosa und Jungs blau tragen“.

Die Aussage der Ministerin betrachten viele als Ablenkungsmanöver. So viele Reden sind von Hass, Unvernunft und Vorurteilen geprägt, dass man eine Strategie dahinter vermuten kann. Während die Bevölkerung die absurdesten Parolen diskutiert, werden gleichzeitig die schlimmsten Maßnahmen für das Parlament vorbereitet. Auch wenn der Diskurs zur Ablenkung dient, passt er zum Vorhaben. Es sind nur zwei Frauen im Kabinett und die positionieren sich gegen Genderfragen. An den Schulen soll die Diskussion über Gleichberechtigung von Frauen einfach abgeschafft werden. Die Zustimmung zum Präsidenten zeigt, dass Genderfragen - selbst unter Frauen – verhasst sind.

Man sollte nicht unterschätzen, dass die Regierung mit der Hetzerei gegen Menschenrechte und Geschlechtergerechtigkeit die evangelikalen Kirchen auf ihrer Seite hat. Deren Vertreter haben im Parlament weiter zugelegt. Frauen werden zusammen mit Homosexuellen, Schwarzen, Indigenen, Landlosen und Kleinbauern am meisten unter dieser Regierung leiden.

Ich habe hier erlebt, dass Familien entzweit sind und im Streit über Bolsonaro nicht mehr miteinander sprechen, dass sich Menschen aus sozialen Gruppen zurückziehen, weil sie die rechten Parolen nicht mehr ertragen. Wie steht es um das menschliche Miteinander?

Am meisten wundert mich, dass sich viele Leute darüber freuen, dass es im Lande wieder rückwärtsgehen wird. Viel mehr Menschen als man vermutet, ärgern sich über die Sozialprogramme der vorherigen Regierungen, haben Hassbilder und hoffen, dass die privilegierten Schichten weiter priorisiert werden, auch wenn sie selbst gar nicht dazu gehören.

Brasilien galt als gutes Beispiel des menschlichen Zusammenlebens mit einer diversifizierten Gesellschaft. Dieses schöne Bild wurde nun zerstört. Die Polarisierung in der Bevölkerung ist gewachsen und es gibt keine Aussicht, dass sich dieses verringern wird. Im Gegenteil: Konflikte und Gewalt nehmen jetzt schon zu. Weiter zuspitzen wird sich das, wenn Waffenbesitz erleichtert wird und Polizisten nach der Tötung von Verdächtigten juristisch unbehelligt bleiben. Nach meiner Ansicht steht uns ein sehr kompliziertes und chaotisches Szenario bevor.

Die UFFS steht als öffentliche Universität, die freies Denken fördert, in der Schusslinie. Was hat sich schon geändert und welche Probleme erwartest Du?

Die UFFS wurde auf Druck der wichtigsten sozialen Bewegungen gegründet. Diese bestimmen auch bei der Hochschulpolitik und Leitung mit. Wir sind einzigartig, weil wir hauptsächlich mit Absolventen öffentlicher Schulen arbeiten.  Und weil wir Zukunftsthemen wie z.B. Agrarökologie, Ernährungssouveränität, ländliche Bildung, Menschenrechte und öffentliches Gesundheitswesen unterrichten. Damit stehen wir im Widerspruch zur neuen Regierung und werden heftig angegriffen.

Bereits unter Temer sind die Finanzmittel stark reduziert worden und dies wird sicherlich so weiter gehen. Neue Aufgaben werden wir nicht mehr anpacken können. Auch an der UFFS wurde versucht Studentenversammlungen zu verbieten, die akademische Freiheit von Professoren einzuschränken, Themen wie Gender, Demokratie, und Menschenrechte zu diffamieren, sowie Diskussionen über Faschismus zu verhindern. Für die bevorstehenden Wahlen zu Rektorat und Leitung befürchten wir eine Einschränkung der in der brasilianischen Verfassung verankerten politischen Autonomie. Neu gewählte Rektoren sollen nun nach politischen Kriterien nominiert werden.

Außerdem ist zu erwarten, dass Quoten, Stipendien und Beihilfen für Benachteiligte abgeschafft sowie fortschrittliche Schwerpunkte in Frage gestellt werden und die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen und NGOs kontrolliert wird.

Uns interessiert auch, was die neue Situation für dich persönlich und als Vize-Präsident bedeutet.

Ich bin überzeugt, dass Bildung zu Entwicklung beitragen kann und dafür ist eine Universität sehr wichtig. Seit 10 Jahren, schon als Teil der Gründungskommission, geht es mir um Chancengleichheit, Demokratisierung und Nachhaltigkeit.

Bis 2016 hatten wir die Unterstützung der Regierung. Wir dachten, zusammen mit der brasilianischen Gesellschaft, unsere Utopien verwirklichen zu können. Nun werden Vorurteile und Lügen gegen mich und die Universität verbreitet. Da wir eng mit den sozialen Bewegungen verbunden sind, werden auch wir kriminalisiert. Politisches und soziales Engagement wird als Schande betrachtet, die Wissenschaft abgelehnt. Auch intern wachsen rückschrittliche Strömungen, was sich wahrscheinlich bei den Uni-Wahlen zeigen wird. Die Opposition gegen Agrarökologie und das öffentliche Gesundheitswesen nimmt zu. Sich anzupassen ist im Trend.

Ob wir es in dem schwierigen Kontext überstehen werden ist offen, aber wir versuchen es! Wir werden weiter freies Denken fördern, innovativ sein und Widerstand leisten.

Die Deutschstämmigen in Brasilien haben überwiegend für Bolsonaro gestimmt. Dass in Deutschland große Sorge und Bestürzung über seine Wahl verbreitet ist, löst hier Verwunderung aus. Was können wir in Europa tun?

Deutschland und Brasilien sind wichtige Partnerländer. Daher sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Demokratie, Umweltschutz und Menschenrechte in Brasilien eingehalten werden. Ich halte es für fraglich, ob eine Regierung, die so offensichtlich gegen Demokratie, Frieden und Menschrechte Stellung bezieht, von demokratischen Regierungen anerkannt werden sollte. Im schlimmsten Fall könnten auch Handelsbeziehungen abgebrochen werden.

Nichtregierungs- und besonders Menschenrechtsorganisationen müssen meiner Meinung nach sofort reagieren. Kirchliche Organisationen haben einen wichtigen Einfluss auf die brasilianische Politik und viel Erfahrung aus den Zeiten der Militärdiktatur.

Die Sojaproblematik verbindet uns. Wie kann die deutsche Landwirtschaft bzw. europäische Agrarpolitik positive Einflüsse auf die Bauernfamilien in Brasilien haben?

Auch für die deutsche Landwirtschaft ist das Modell der Abhängigkeit von Importen aus Brasilien schädlich.  Daher ist die Solidarität von Bauern und Zivilgesellschaft besonders wichtig.

Ein sehr konkreter Schritt wäre es, die Importe von pestizidverseuchtem und mit ungerechten Arbeitsverhältnissen produziertem Soja zu reduzieren. Denn sie führen zu Abholzung von Wäldern und zur Vertreibung von Bauern wie Ureinwohnern. Es ist wichtig Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in der Sojaproduktion zu dokumentieren und die Zivilgesellschaft aufzuklären.

Die Menschen in beiden Ländern müssen sich solidarisch im gemeinsamen Kampf gegen die Macht der Agrarindustrie verbinden. Die UFFS kann dabei durch ihre Vernetzung mit Wissenschaftlern, Aktivisten und den wichtigsten sozialen Bewegungen eine wichtige Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Dich persönlich und für Dein Land!

Das Interview führte Angela Müller, Paraná, Brasilien

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Kleinbäuerin Claudine Hashazinyange mit Avocados vom Baum ihres Schwiegervaters.

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