Ein entwicklungspolitischer Freiwilligendienst ist zuallererst ein Lerndienst. Es geht weniger darum, Entwicklungsarbeit zu leisten und ein Projekt zu managen, als darum, Erfahrungen zu sammeln und den kulturellen Austausch zu fördern. Das wurde mir vor der Ausreise immer wieder erklärt – und trotzdem bin ich losgeflogen mit dem Ziel, die Welt zu verändern.
Jetzt, wieder heile zurück in Deutschland, ist mir klar, dass ich mit meinem Engagement in Sambia auf jeden Fall etwas geleistet habe. Doch die größte Veränderung ist mit mir passiert.
Es lässt sich einfach sagen und viel schwieriger beweisen, aber ich denke, ich bin selbstbewusster geworden und offener anderen gegenüber und gelassener in der Art und Weise, wie ich meine Arbeit tue. Letzteres ist euch vielleicht aufgefallen, schließlich ist es schon sehr lange her, dass ich einen Blogbeitrag veröffentlicht habe, und die Bilder sind auch noch nicht hochgeladen. Sorry dafür.
Außerdem glaube ich, dass ich ein größeres Verständnis für andere Leute entwickelt habe. Denn erstmals habe ich erlebt, was es heißt, kulturelle Unterschiede zu haben und ganz anders aufgewachsen zu sein. Und ich habe gelernt, wie es ist, anders zu sein und zur Minderheit zu gehören.
Mein Freiwilligendienst war beinahe perfekt organisiert. Jedes Jahr entsendet Brot für die Welt etwa dreißig Freiwillige in fünf verschiedene Länder. Das ist nicht viel. Aber dafür werden die Einsatzstellen und die Bewerber genau unter die Lupe genommen. Die Brot-für-die-Welt-Mitarbeitenden achten darauf, dass bei den zukünftigen Freiwilligen ausreichende Sprachkenntnisse vorhanden sind und (in den meisten Fällen) vorherige Auslandserfahrung. Sie wählen die Leute aus, die ihnen robust genug erscheinen, an einem solchen Auslandsjahr teilzunehmen. Denn ein einjähriger Freiwilligendienst am anderen Ende der Welt ist immer eine Herausforderung.
Für alle Freiwillige gibt es mehrere Ansprechpartner, um eine gute Betreuung während des Auslandsaufenthaltes zu gewährleisten. Das bedeutet, dass in jeder Partnerorganisation im Zielland ein Mentor oder eine Mentorin bestimmt wurde, der oder die sich um die Freiwilligen kümmert und sie im Alltag und bei der Arbeit unterstützt. Außerdem ist in jedem Zielland ein/e Landesmentor/in für die jungen Leute zuständig. Das sind im Idealfall Deutsche, die zentral im Land wohnen und von den Freiwilligen angesprochen werden können, falls Schwierigkeiten mit der Partnerorganisation auftreten. Zu guter Letzt haben die Freiwilligen auch die Möglichkeit, sich direkt an Mitarbeitenden von Brot für die Welt zu wenden.
Der Freiwilligendienst begann für mich mit dem Vorbereitungsseminar in Berlin: Es war ein großartiger Start. Zweieinhalb Wochen lang bereiteten wir dreißig Brot-für-die-Welt-Freiwilligen uns auf unseren Auslandsaufenthalt vor. Wir hörten Erfahrungsberichte von zurückgekehrten Freiwilligen, erfuhren von der Schwierigkeit, sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden, und von Krankheiten und anderen Gefahren, die auf uns zukommen könnten. Wir übten Kommunikation und Konfliktlösung und machten einen kleinen Exkurs zum Thema „Gender“. Am Ende des Seminars waren wir zu einer Gruppe zusammengewachsen, erschlagen von Informationen und voller Lust auf das Abenteuer Freiwilligendienst.
Das Vorbereitungsseminar schenkte mir etwas, das mir durch das Jahr half wie nichts anderes: Sicherheit. Ich wusste, ich hatte einen Mentor in der Partnerorganisation und eine engagierte Landesmentorin aus Deutschland, die in Sambias Hauptstadt Lusaka wohnt. Sollte das alles nichts helfen, gab es vertrauenswürdige Ansprechpersonen bei Brot für die Welt. Und: Niemand würde mich zwingen, den Freiwilligendienst durchzuziehen. Im Zweifelsfall bliebe mir immer noch die Ausreise und Rückkehr nach Deutschland.
Von Anfang an fiel es mir recht leicht, mich in Sambia zurechtzufinden. Ich arbeitete bei einer kleinen sambischen Nichtregierungsorganisation in einem Gender-Projekt. Die Einsatzstelle lag in einer ländlichen Region und gemeinsam mit Marcel, einem anderen Brot-für-die-Welt-Freiwilligen, hatte ich zwei Arbeitsbereiche: die Zusammenarbeit mit umliegenden Schulen und die Koordination des Aufbaus eines Jugendzentrums – jeweils mit den Schwerpunkten Gender, Sexualität und HIV-Prävention.
Englisch zu sprechen stellte für mich keine Schwierigkeit dar und ich kam damit problemlos durch den Alltag und die Arbeit. Ich verstand mich mehr als gut mit Marcel, mit dem ich zusammen in einem sehr gut ausgestatteten Haus wohnte. Die Einheimischen waren fast ausnahmslos sehr freundlich zu mir. Trotzdem würde ich sagen, dass ich nie richtig angekommen bin in Sambia. Ich habe mich dort nicht zu Hause gefühlt.
Das mag an vielem liegen – zuallererst an mir selbst. Mir fällt es generell nicht leicht, mich anderen gegenüber zu öffnen und Freundschaften zu schließen. Hier kam hinzu, dass die meisten Menschen einen ganz anderen Hintergrund haben. Gemeinsame Interessen und Gesprächsthemen zu finden gestaltete sich oft schwierig.
Auf jeden Fall liegt es auch an der Arbeit. Marcel und ich arbeiteten sehr eng zusammen und blieben oft auch in der freien Zeit unter uns. Zu den meisten Mitarbeitern hatten wir nur oberflächlich Kontakt, sodass wir sie und ihre Familien gar nicht näher kennen lernten. Der Grund dafür war vor allem, dass nur wir beide für den Bau des Jugendzentrums verantwortlich waren, mit dem unsere Kollegen nichts zu tun hatten. Umgekehrt bekamen wir auch nur wenige Einblicke in deren Arbeit.
Was mir auch gefehlt hat, waren Gleichaltrige, mit denen man etwas unternehmen konnte. Einerseits haben tatsächlich wenige Leute in meinem Alter in der Gegend gewohnt – beziehungsweise ich habe wenige kennen gelernt. Nicht alle sprechen gut Englisch und die besser gebildeten jungen Leute studieren oft weit entfernt in der Stadt. Andere sind bereits verheiratet und müssen sich um ihre Familie kümmern. Andererseits gab es auch kaum etwas zu unternehmen. Manchmal bin ich mit jemandem in meinem Alter spazieren gegangen. Aber bis in die vier Kilometer entfernte Ansammlung von Geschäften, „Township“ genannt, wollte ich dann doch meistens nicht laufen. Für Shopping-Tours auf dem Markt fehlte eh meistens das Geld. Restaurants, Kinos oder Ähnliches gibt es dort auf dem Land sowieso nicht.
Trotz meiner guten Englischkenntnisse blieb auch oft eine Sprachbarriere zwischen mir und der einheimischen Bevölkerung bestehen. Denn die regionale Sprache und allgemeine Umgangssprache ist Tonga. Und sobald mehrere Sambier am Gespräch beteiligt waren, unterhielten sie sich in Tonga. Ich mache ihnen da keinen Vorwurf. In ähnlichen Situationen, wo fast ausschließlich Deutsche anwesend sind, falle ich auch sehr schnell in meine Muttersprache zurück.
Und hinter all den Schwierigkeiten schwebte immer ein Gedanke: Ich bin nur ein Jahr hier. Anfangs spornte mich dieser Gedanke an. Aber als die Monate vergingen und ich den Leuten immer noch nicht näher gekommen war, fiel es mir immer schwerer, mich zu motivieren. Ich habe mich angestrengt. Ich habe mich bemüht, mich zu integrieren – mal mehr, mal weniger. Aber obwohl ich auf das Leben in einer anderen Kultur vorbereitet wurde und ich viele Leute um mich hatte, die mich unterstützten – die mir Tonga beibringen wollten oder mal vorbeikamen, um sich zu unterhalten – hatte ich Probleme bei der Integration, welche gegen Ende April in starkes Heimweh mündeten.
Mir wurde klar, dass mich niemand aus Deutschland mehr besuchen kommen würde und ich keine konkreten Pläne für die verbleibende Zeit hatte. Diese neigte sich langsam dem Ende entgegen und ich war immer noch nicht richtig in Sambia angekommen. Gleichzeitig fühlte es sich an, als sei es bis zur Rückkehr nach Deutschland noch unendlich lange hin. Alles, was ich wollte, war, meine Familie und Freunde wiederzusehen. Und vielleicht mit ihnen zusammen ins Kino zu gehen.
Zu dem Zeitpunkt wurde mir eine Sache deutlich bewusst: Dass ich eine Heimat habe, in die ich zurückkehren kann. Und dass es vielen Menschen anders geht. In den vergangen Jahren – oder eher im Jahr 2015, bevor die Fluchtrouten alternativlos geschlossen wurden – kamen sehr viele Menschen nach Deutschland. Viele flohen aus den Kriegsgebieten in Syrien und im Irak, andere aus Eritrea oder Somalia, wieder andere aus dem Iran oder Afghanistan oder aus dem so häufig vergessenen Jemen – ebenfalls ein Bürgerkriegsland. Diese Menschen machten sich auf nach Deutschland, ohne zu wissen, was sie dort erwarten würde. Sie verkauften ihr Hab und Gut, liefen hunderte Kilometer zu Fuß und vertrauten sich dubiosen Schleuserbanden an, in der Hoffnung, dass es ihnen in Deutschland weniger schlecht als in ihrer Heimat gehen würde. Dass sie immerhin am Leben bleiben würden.
Diese Menschen hatten keine Vorbereitung. Für sie gab es keinen Sprachkurs, keine Organisation, die sie erwartete, keine Ansprechpartner, weder in der Heimat noch im Zielland.
Als ich nach Sambia ging, hatte ich eine ungefähre Ahnung, was mich erwarten würde – trotz der oft bemühten Metapher vom „Sprung ins kalte Wasser“. Und ich wusste, dass ich den Freiwilligendienst jederzeit würde abbrechen und nach Deutschland zurückkehren können. Die Flüchtlinge haben diese Sicherheit nicht. Die meisten von ihnen wissen nicht einmal, ob sie überhaupt je wieder nach Hause zurückgehen können. Sie springen ohne jede Ahnung, was sie nach dem Fall erwartet.
Mir ist bewusst geworden, wie schwierig diese Unsicherheit psychisch ist. Was mir durch meine Heimweh-Phase geholfen hat, war der Kontakt nach Hause. Zu hören, dass es meiner Familie und meinen Freunden gut geht und sie sich auf meine Rückkehr freuen, hat meine Stimmung angehoben und dazu geführt, dass ich mein Heimweh in den Griff bekam und begann, das Wiedersehen zu planen. Die Flüchtlinge hingegen können nicht auf Unterstützung von zu Hause zählen. Im Gegenteil, sie müssen damit klarkommen, dass ihre Verwandten in der Heimat wahrscheinlich in Lebensgefahr schweben. Noch dazu müssen sie die belastenden Ereignisse der Flucht verarbeiten. Und das alles, während sie versuchen, sich in einem anderen Land und einer anderen Kultur einzuleben. Ich habe im Selbstversuch erlebt, wie schwierig es ist, eine fremde Sprache zu lernen und Anschluss an die einheimische Bevölkerung zu finden. Ich musste auch lernen, damit umzugehen, wie es ist, ein Außenseiter in einer Gesellschaft zu sein. Aber es war ein Selbstversuch unter optimalen Rahmenbedingungen.
Ich habe also viele Dinge gelernt während des Freiwilligendienstes. Eines davon ist, dass Integration Zeit und gegenseitige Hilfe und einen Willen auf beiden Seiten benötigt, damit sie gelingen kann. Dazu gehört auch der Wille, Menschen persönlich kennen zu lernen und nicht nur in Schubladen zu stecken. Dadurch, dass ich von einem Großteil der Sambier zuallererst als weiße Europäerin ausgemacht wurde, war es noch einmal schwieriger, persönliche Kontakte zu knüpfen. Genauso können wir nicht alle Flüchtlinge in eine Schublade packen, sondern müssen jeden Einzelnen als Individuum betrachten.
Davon abgesehen hat bei mir selbst der Wille zur Integration häufig geschwächelt. Ich konnte mich ja auf Englisch verständigen, wozu dann Tonga lernen? Zumal das nur eine von vielen sambischen Sprachen ist. Wieso sollte ich jetzt die Nachbarn besuchen, wenn es gerade so gemütlich auf dem Sofa ist? Ich weiß ja eh nicht, worüber ich mich mit denen unterhalten soll. Und außerdem: Es ist ja nur ein Jahr.
Es war nur ein Jahr. Bisher das prägendste meines ganzen Lebens – und, trotz all der Schwierigkeiten, sicherlich auch eines des schönsten. Ich habe wundervolle Erinnerungen an die Eröffnung des Jugendzentrums und an die glücklich spielenden Kinder dort. An Gespräche auf der Veranda einer Nachbarin, wo sich jeden Tag viele unterschiedliche Leute treffen und unterhalten. Und natürlich erinnere ich mich auch gerne an Ausflüge und Urlaubsreisen, die ich unternommen habe: zu den Victoriafällen vor und nach der Regenzeit, Silvester auf Sansibar und Safari mit dem Geräusch brüllender Löwen in der Dämmerung.
Es war ein Jahr, das mir gezeigt hat, wie unterschiedlich die Menschen sind. Wie unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Herangehensweisen prägen. Oder wie oft Kommunikation an Kleinigkeiten scheitert.
Und auch ein Jahr, in dem ich gelernt habe, dass Freundschaften zu den wichtigsten Dingen im Leben gehören. Dass ich die Unterstützung durch meine Familie benötige – und dass ich mich immer auf sie verlassen kann. Und dass meine Heimat am Ostufer der Kieler Förde liegt, dass ich Meer und Wind und Wälder und Regen brauche und ein Zuhause, zu dem ich immer zurückkehren kann.
Mit diesem Text schließe ich meinen Blog ab. Er soll der letzte Artikel sein.
Zum Schluss möchte ich mich bei allen Leuten bedanken, die mich während des Freiwilligendienstes – und auch davor und danach – unterstützt haben. Danke an alle Leute, die gelegentlich in meinen Blog geschaut haben, an alle, die sich mal bei mir gemeldet oder meine Eltern nach mir gefragt haben. Und auch vielen Dank für die Kommentare zu einzelnen Blogbeiträgen!
Es hat mir in Sambia sehr geholfen zu wissen, dass so viele Leute zu Hause ein so großes Interesse an meinen Erlebnissen auf der anderen Seite der Welt gezeigt haben. Ich hoffe, ich konnte euch mithilfe des Blogs einen kleinen Einblick in das Leben in Sambia vermitteln.
Text und Bild: Janne Schlag