Das Centro Humboldt ist eine der größten Nicht-Regierungsorganisationen Nicaraguas und die wohl wichtigste im Umweltbereich. Die dreißigjährige Arbeit und das internationale Ansehen haben das Zentrum bisher wohl davor bewahrt, trotz regierungskritischer Positionen geschlossen zu werden. Die Partnerorganisation von Brot für die Welt hat einen Beobachterstatus bei der UN-Klimakonferenz. Der Verantwortliche für den Bereich Klimawandel ist Alejandro Alemán. Auf lateinamerikanischer Ebene koordiniert Alemán das Climate Action Network (CAN). Das Interview mit ihm führte Gerold Schmidt am 6. Oktober 2019 am Rande des Forums Verwundbares Zentralamerika in San José, Costa Rica. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, dass die COP25 von Santiago de Chile nach Madrid verschoben wird und die diesjährige Weltklimakonferenz nicht in Lateinamerika stattfindet.
F: Alejandro, welche Themenpalette deckt das Centro Humboldt mit seiner Arbeit ab? Wie sieht diese Arbeit im Kontext von Klimawandel und Klimakrise aus?
A: Unter dem Motto ‚Zusammen für eine nachhaltige Umwelt‘ arbeiten wir zu fünf Schwerpunkten: erneuerbare Energien, Extraktivismus, Wasserressourcen, integrales Risikomanagement und Klimawandel. Unser Team aus dem Bereich Klimawandel ist fast komplett auf dem Forum Verwundbares Zentralamerika präsent. In Nicaragua arbeiten wir viel vor Ort, in den Territorien, wie wir sagen. Alle unsere Themen haben mit der Verwundbarkeit von Bevölkerungsgruppen zu tun. Das umfasst nicht nur die extraktiven Industrien, sondern ebenso die erneuerbaren Energien, die allgemeine Umweltpolitik. Wir arbeiten mit Bevölkerungsgruppen, die traditionell von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen worden sind.
F: Auf dem Forum wird viel von den kleinbäuerlichen und indigenen Gemeinden als besonders vulnerable Gruppen gesprochen. Welche Rolle spielen diese Gruppen aus der Perspektive des Centro Humboldt im Kontext von Klimawandel und Klimaschutz?
A: Die Lebensgrundlage der indigenen und kleinbäuerlichen Bevölkerung hängt von ihren natürlichen Ressourcen und dem Klima ab. Traditionell haben die ökonomischen Aktivitäten dieser Gemeinschaften geringe negative Auswirkungen auf die Umwelt. Ganz im Gegenteil. Der Schutz und die Wiederinstandsetzung der natürlichen Ressourcen durch indigene, kleinbäuerliche und andere lokale Gruppen in den Territorien sind Aspekte, die zuletzt stärkere Wertschätzung erfahren haben. Die Bedrohungen kommen von außen. Es handelt sich um Interessen, die mit Vorhaben ökonomisch mächtiger Gruppen in unseren Ländern zu tun haben. Oft sind diese verknüpft mit den Interessen des transnationalen Kapitals, das ein Auge auf unsere Region gerichtet hat. Dabei geht es fast immer um die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Ressourcen, die für die Lebensgrundlage unserer bäuerlichen Gemeinschaften wichtig sind.
F: Wie passen die Interessen und Interventionen von außen, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, mit dem Konzept der Klimagerechtigkeit zusammen. Wie definiert das Team des Centro Humboldt die Klimagerechtigkeit?
A: Klimagerechtigkeit ist ein sehr weiter Begriff. Aus unserer Perspektive heißt Klimagerechtigkeit: Die weltweit größten Verschmutzer müssen die größte Verantwortung für den Klimawandel und seine Phänomene übernehmen. Sie verfügen sie über mehr Mittel und Kapazitäten, um die Herausforderungen des Klimawandels anzugehen. Sie dürfen sich nicht weiter dahinter verschanzen, den Ökonomien von Entwicklungs- und Schwellenländern Verpflichtungen und Verhaltensmuster aufzuerlegen. Das hat nichts mit Klimagerechtigkeit zu tun. Die hauptverantwortlichen Ökonomien und deren Akteure stehen in der Pflicht. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass es sich nicht ausschließlich um Entscheidungen von Regierungen handelt. Notwendig ist eine stärkere Einbeziehung von Akteuren des Privatsektors. Die Klimadringlichkeit muss zur Dekarbonisierung und zur Veränderung in den Konsum- und Produktionsmustern weltweit führen. Das ist ohne das aktive Zutun des Privatsektors nicht möglich.
Ein Teil der Klimagerechtigkeit und der damit zusammenhängenden Diskussion bezieht sich auf den internationalen Bankensektor. Welche Art von Projekten fördert das multilaterale Bankenwesen? Die Weltbank zum Beispiel. Die regionalen Entwicklungsbanken. Der ganze private ausländische Bankensektor. Selbst die nationalen Banken unserer Region spielen dabei eine Rolle, der Finanzsektor als Ganzes. Die Frage ist doch, wohin werden die Geldmittel geleitet? In diesem Sinn muss weltweit der Finanzsektor dekarbonisiert werden.
F: Bisher fließt viel internationales Geld in Großvorhaben. Megaprojekte beeinträchtigen oft die Verfügungsgewalt von indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinschaften über ihr Land und ihre Lebensräume. Auf dem Forum Verwundbares Zentralamerika fällt dafür in der Regel der Begriff der Territorien. Wie kann das Recht auf ein Territorium garantiert werden? Durch Gesetze oder letztendlich nur durch Proteste der organisierten Dorfgemeinden und der Zivilgesellschaft?
A: Da muss beides zusammenkommen. Aber ich wiederhole: Es gibt eine Verantwortung der internationalen Gemeinschaft und vor allen Dingen der multilateralen Finanzinstitutionen. Viele der Megaprojekte hängen von multinationalen und bilateralen Finanzquellen der internationalen Kooperation ab. Ein größeres Verantwortungsbewusstsein des öffentlichen und privaten internationalen Bankensektors ist wesentlich. Natürlich spielen die Organisation und Mobilisierung der örtlichen Gemeinden, ihr Kenntnisstand eine wichtige Rolle. Genauso aber die nationalen Rechtsrahmen. Ob es verbriefte Rechte auf Land gibt oder nicht.
F: Sie haben auf dem Forum dargelegt, wie wenig praktische Bedeutung bisher die NDC, die national festgelegten Beiträge für Adaptations- und Vermeidungsmaßnahmen, in der zentralamerikanischen Region haben. Woran liegt das?
A: Es besteht Unklarheit über die Finanzierung und die NDC werden als eine Last angesehen. Wir sagen: Die auf der COP 21 in Paris vereinbarten nationalen Beiträge müssen nicht notwendigerweise eine Last sein. Vielmehr handelt es sich um eine Chance, nationale Wirtschaftssysteme zu transformieren. Sie bieten die Möglichkeit, auf die Agenda einer nachhaltigen Entwicklung zu reagieren, die im UNO-Rahmen vereinbart wurde. Wir haben die 17 nachhaltigen Entwicklungsziele (SDG) der Vereinten Nationen. Eine Verankerung der national festgelegten Beiträge in den nationalen Entwicklungsplänen könnte auch helfen, die SDG zu erreichen. Auch in unserer Region. Doch davon sind wir im Moment weit entfernt.
F: Das Centro Humboldt hat seinen Sitz in Nicaragua. Was sind die jetzt schon sichtbaren Schäden im Land, die der Klimawandel verursacht hat? Welches sind die größten zukünftigen Bedrohungen durch die Klimakrise?
A: Ich würde lieber von Umweltschäden sprechen. In Nicaragua gibt es eine beschleunigte Invasion der Biosphärenreservate. Das Verhalten der Regierungsbehörden angesichts dieser Problematik ist absolut passiv. Ein hervorstechendes Beispiel sind die Territorien des Reservates Indio Maíz im Südosten des Landes. Ein weiteres Beispiel ist das Biosphärenreservat Bosawás. Seit Kurzem hat die Präsenz bewaffneter Gruppen in Bosawás Aufmerksamkeit hervorgerufen. Diese Gruppen attackieren die indigenen Dorfgemeinden. Es hat dort Morde gegeben. Die Situation besteht schon länger, ist aber in den vergangenen Wochen besonders sichtbar geworden. Der Niedergang der Biosphären ist ein Thema, das unserer Meinung nach unbedingt angesprochen werden muss. Der riesige Brandherd im Reservat Indio Maíz Anfang April 2018 hat zum Ausbruch der politischen Krise im selben Monat beigetragen.
Unserer Meinung nach hätte die Reaktion der Regierung in sofortigen Schutzmaßnahmen für das Reservat bestehen müssen. Es war ein Notstand. Aber das Gegenteil geschah. Es gab eine gewalttätige Reaktion gegen diejenigen, die protestierten, um die Regierung zu einem überzeugenden Eingreifen zum Schutz der Reservate zu bewegen. Das Verhalten führte zu einer landesweiten Empörung und akkumulierte weitere Spannungen. Das alles kam in der sozialen Explosion im April 2018 zum Ausdruck, der Hauptauslöser die Sozialversicherungsreform war. Die Antwort bestand in noch mehr Repression, mehr Gewalt. Wir haben heute bis zu 70 000 nicaraguanische Vertriebene, die sich in Costa Rica befinden. Nicht wenige dieser Flüchtlinge kommen aus der Gemeinschaft der Umweltaktivist*innen. Sie sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen, weil sie Inhaftierung oder sogar ihre Ermordung befürchten mussten.
Was ich damit sagen will: Wir können das Problem der teilweisen Zerstörung der Biosphärenreservate, den beschleunigten Niedergang der natürlichen Ressourcen und der Lebensgrundlagen, von denen die Dorfgemeinden abhängen, sowie den globalen Klimawandel nicht losgelöst von der soziopolitischen Krise in Nicaragua sehen.
F: Wie ist es überhaupt möglich bei einer solch angespannten Lage für Klimapolitik zu mobilisieren?
Solange die soziale, politische und humanitäre Krise andauert, hat der Umgang mit den natürlichen Ressourcen leider keine Priorität auf der Agenda der Entscheidungsträger in Nicaragua. Derzeit geht es den Regierungsmitgliedern in erster Linie darum, sich an die politische Macht zu klammern - koste es was es wolle. In diesem Kontext hat die Umweltagenda nicht unbedingt Konjunktur. Abgesehen vom Diskurs: der ist ausgearbeitet und hört sich schön an. Im Rahmen der UNO-Konvention über den Klimawandel ist der Delegierte aus Nicaragua einer der Protagonisten, wenn es um Klimagerechtigkeit geht. Da wird das weltweite kapitalistische System verurteilt, das den Niedergang der natürlichen Ressourcen befördert. Da wird die Marginalisierung der Gemeinden beschrieben. Doch wenn wir uns der Realität des Landes zuwenden, spiegelt sich diese Kritik auf internationaler Ebene weder in der internen Wirtschafts- und Umweltpolitik noch in der Sozialpolitik wider.
Trotz des internationalen Diskurses ist der Weg verschlossen, dem Schutz der Biosphärenreservate, der Wassereinzugsgebiete, der Mangrovenwälder und anderer Ökosysteme interne Ressourcen und Anstrengungen zu widmen. Unser Forum sollte ursprünglich in Nicaragua stattfinden. Wir haben es in Costa Rica durchgeführt, weil die Möglichkeit, die Umwelt- und Klimadebatten zu diskutieren und offen anzusprechen, in Nicaragua nicht gegeben war. Das Risiko war uns zu hoch. Es gibt kein Gesetz, das diese Debatte verbietet. Es gibt in Nicaragua einen zweiköpfigen Mechanismus, der dafür sorgt [Alemán vermeidet es im Interview, Präsident Daniel Ortega und seine Ehefrau Rosario Murillo namentlich zu nennen].
Wir haben keine Kommunikation mit den Regierungsautoritäten. Die einzige Möglichkeit dazu gäbe es, wenn die Umweltbewegung Teil der politischen Regierungsstrukturen würde. Zumindest aus unserer Sicht wären dort aber Debatte und Kritik nicht möglich. Die Struktur ist vertikal. Wer aus dieser vertikalen Struktur ausschert, wird im offiziellen Diskus als ‚Putschist‘ bezeichnet. Nur auf offizieller Linie liegen zu dürfen, bietet aus unserer Sicht keinen legitimen Raum für die Partizipation.
An erster Stelle muss stehen, dass die Bürger*innen die Möglichkeit haben, ihre elementaren Rechte auszuüben. Eine nachhaltige Entwicklung ohne Grundrechte ist nicht möglich. Das fängt mit dem Recht auf Leben und Freiheit an.
F: Über die nationalen Besonderheiten hinaus setzen das Forum Verwundbares Zentralamerika und das Climate Action Network Lateinamerika, das Sie derzeit koordinieren, eindeutig darauf, sich auf supraregionaler Ebene Gehör zu verschaffen? Welche Erfolgschancen haben diese Anstrengungen?
A: Was unser aktuelles Forum angeht, würde ich folgende Resultate in den Mittelpunkt stellen: Wir haben es geschafft, den Austausch von weit mehr als 200 Personen aus über 100 zentralamerikanischen Organisationen zu den Perspektiven und Aktionen der Klima-Agenda in der Region zustande zu bringen. Wir haben unser Positionspapier im Konsens verabschiedet. Die PreCOP, die Vorbereitungskonferenz für den Klimagipfel, die hier in Costa Rica stattfindet, ist die sofortige Gelegenheit, unsere Positionen den politischen Entscheidungsträgern der internationalen Delegation zu übergeben. Wir hoffen, die PreCOP vor Ort wird uns einen leichteren Zugang zu den internationalen Verhandlungsebenen geben.
Auf dem eigentlichen Klimagipfel Anfang Dezember in Santiago de Chile werden auch die verwundbaren Bevölkerungsgruppen ein Thema sein. Das ist für unsere Region wichtig. Wir müssen es schaffen, uns dort einzubringen. Auch aus diesem Grund haben wir auf unserem Forum die engere Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft im Süden des Kontinentes gesucht. Im Moment bedeutet das vor allem die Kooperation mit den chilenischen Organisationen. So werden wir auf dem Parallelgipfel der Zivilgesellschaft in Santiago de Chile eingebunden sein. Wir arbeiten an der „Carta de Santiago“ mit. Dieses Dokument soll auf dem Klimagipfel die Perspektiven und Prioritäten der lateinamerikanischen Zivilgesellschaft hinsichtlich der Klimakrise mit einer Stimme vorstellen.
In diesem Kontext ist ebenfalls das Climate Action Network zu sehen. Als Centro Humboldt koordinieren wir es im Moment auf lateinamerikanischer Ebene. Zu uns gehören etwa 25 über den Kontinent verteilte repräsentative Organisationen. Wir arbeiten an weiterer Vernetzung. Die Absicht, die wir als Climate Action Network mit dem Forum Verwundbares Zentralamerika teilen, ist das einheitliche Auftreten als Block der lateinamerikanischen Zivilgesellschaft auf der COP 25. Nur so werden wir wahrgenommen werden.
Unter uns macht sich generell eine Sorge breit: der geringe politische Wille der Regierungen auf dem Kontinent, die Vereinbarungen von Paris auf nationaler Ebene zu erfüllen. Die Klimawissenschaft wird nach wie vor nicht genügend ernst genommen. Wir fordern die wichtigsten Ökonomien des Kontinentes auf, die Wissenschaft anzuhören und ihre Politik an den Berichten des zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) auszurichten. In Südamerika machen es die politische Situation in Brasilien und die Krise in Venezuela nicht einfacher. Zusammengefasst: Wenn wir angesichts des politischen Panoramas auf dem Kontinent etwas erreichen wollen, bleibt uns als Zivilgesellschaft gar nichts anderes übrig, als zusammenzurücken.