Heute ist internationaler Weltflüchtlingstag. Jeder Mensch hat das Recht, das Land in dem er sich befindet, zu verlassen. Doch legale Wege bleiben vielen versagt. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Vereinigten Staaten und Länder wie beispielsweise Australien setzen immer stärker auf technische und militärische Aufrüstung des Grenzschutzes und entziehen sich ihrer menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtungen. Millionen von Menschen werden so auf lebensgefährliche Migrationsrouten oder Fluchtwege und damit in die Illegalität gezwungen. Flüchtende und Migrant_innen sitzen in libyschen „Flüchtlingscamps“ fest, ertrinken im Mittelmeer oder werden von sudanesischen Spezialtruppen (Rapid Support Forces) gewaltsam an einer Weiterreise gehindert. Entführung, Versklavung, Vergewaltigung und Mord gehören zum Alltag auf den Routen der Flucht, ob innerhalb Afrikas oder auf dem Weg von Zentralamerika zur Grenze der Vereinigten Staaten.
Weltweit so viel Menschen auf der Flucht wie noch nie
Derzeit befinden sich laut Angaben des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht, das sind so viele, wie noch nie. Nur wenige schaffen es, die Landesgrenzen zu überqueren, die meisten Geflüchteten leben als Binnenvertriebene innerhalb des eigenen Landes.
Die mit diktatorischer Gewalt niedergerungenen Proteste des „Arabischen Frühlings“ ab 2011, sowie die darauffolgenden kriegerischen Konflikte in Syrien, Afghanistan, Irak aber auch die anhaltenden Konflikte zum Beispiel im Südsudan haben das globale Fluchtgeschehen maßgeblich verändert. Während zwischen 1990 und 2010 die Zahl der Flüchtlinge von 18,5 auf 16,3 Millionen zurückging, zählte UNHCR jüngst 25,9 Millionen Menschen, die als Flüchtlinge ihr Land verlassen haben. 2015 erreichten über eine Million Schutzsuchende Europa, hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan dem Irak, aber auch aus Ländern mit andauernden und wieder auflebenden Konflikten wie Eritrea und dem Sudan. Schutz und Versorgung sind bis heute in den Kriegsgebieten teilweise gar nicht möglich, politische Lösungen sind kaum in Sicht.
Die derzeitige europäische Antwort heißt Abschottung, Rückführung und eine massive Verschlechterung der Lebensbedingungen von Schutzsuchenden in Deutschland (Gesetz Geordnete Rückkehr). Schutz und menschenrechtliche Verpflichtungen, wie sie in der Genfer Flüchtlingskonvention oder Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgeführt sind, werden zunehmend ausgehöhlt. Um die Migration nach Europa zu verhindern, wurden bereits seit 2008 mit dem Rabat-Prozess und dem Khartoum-Prozess von 2014 Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern abgeschlossen, mit dem Ziel, Flüchtlinge und Migrant_innen möglichst in oder in der Nähe ihrer Herkunftsländer an einer Weiterreise zu hinden. Dazu gehören Länder wie Äthiopien, Sudan, Eritrea, Somalia und Kenia sowie die Transitländer Libyen, Ägypten und Tunesien. Auch das Abkommen zwischen der EU und der Türkei ist ein prominentes Beispiel für fragwürdige „Deals“ mit Regierungsvertretern, die selber wegen Menschenrechtsverletzungen, Repression und mangelnder Pressefreiheit in der Kritik stehen. Europäische Mitgliedstaaten bieten Investitionen und Visaerleichterungen, im Gegenzug sollen teils autoritäre Regime die Weiterreise nach Europa verhindern. Die Mitgliedstaaten der EU unterstützen sie zudem bei der Ausbildung der Grenzschützer und gewähren Ausstattungsbeihilfen.
Dass dabei die Einhaltung von Menschenrechten eine untergeordnete Rolle spielt, haben die Berichterstattung über die Menschenrechtsverletzungen der libyschen Küstenwache und über die Zustände in den libyischen Flüchtlingscamps schmerzlich deutlich gemacht. Boote mit Geflüchteten werden auf dem Mittelmeer zerstört, Schiffbrüchige zurück nach Libyen gebracht, in den Camps drohen ihnen Folter und Erpressung. Gleichzeitig wird die Seenotrettung von Bootsflüchtlingen immer schwerer. Bis heute weigern sich die europäischen Mitgliedstaaten, gerettete Schiffbrüchige aufzunehmen und streiten darum, welches Land denn nun die Überlebenden aufnimmt. Denn offiziell muss das Land, das die Schutzsuchenden als erstes betreten haben, auch für sie verantwortlich sein. Das hat zu Konflikten geführt, die Küstenländer fühlen sich im Stich gelassen, binneneuropäische Länder wie Österreich und Ungarn weigern sich, an gerechteren Verteilungsmechanismen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten teilzunehmen. Die Folge dieser Politik: Die Küstenwachen retten keine Bootsflüchtlinge mehr und überlassen die Aufnahme der libyschen Küstenwache, damit die Gestrandeten nicht nach Europa kommen.
Das Mittelmeer - die tödlichste Grenze der Welt
Im Jahr 2018 ertranken im Schnitt jeden Tag sechs Menschen bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren. Insgesamt starben 2018 mindestens 2.275 Menschen, zwischen Libyen und Europa bezahlte jeder 15. Flüchtling und Migrant den Überquerungsversuch mit dem Leben. Die Menschen fliehen weiter, sie nehmen nur noch gefährlichere Fluchtrouten. Menschenrechtsanwälte werfen den EU-Staaten Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor und haben Anzeige vor dem Internationalen Strafgerichtshof erstattet. Die EU Flüchtlingspolitik sei für das Flüchtlingssterben verantwortlich, das Mittelmeer dadurch zur tödlichsten Grenze der Welt geworden, die mehr als 10.000 Menschen auf dem Gewissen habe. Zwei Faktoren heben sie hervor: Die Ablösung der italienischen Seenotrettungsoperation „Mare Nostrum“ durch die Frontex-Operation „Triton“ im Jahr 2014 habe die Zahl der Toten deutlich erhöht und die Kooperation mit der libyschen Küstenwache habe zur Internierung von tausenden Flüchtlingen in den Folterlagern geführt.
Und trotzdem wird der humanitäre Imperativ, Menschen in Not zu retten, in den öffentlichen und politischen Debatten immer bedeutungsloser. Nicht nur die Reform des europäischen Asylsystems wird blockiert, auch die Aufnahme und Verteilung von Überlebenden von Schiffbruch wird ausgesessen. Bis heute gibt es zwischen den EU-Staaten keine Einigung darüber, eine gemeinsame zivile europäische Seenotrettungsmission ins Mittelmeer zu entsenden. Vergessen wird: Die Seenotrettung ist essentielle humanitäre Pflicht. Das internationale Völkerrecht, das Seerecht und die europäische Menschenrechtskonvention verpflichten zur Rettung.
Stattdessen setzen die EU-Staaten auf die Verhinderung und Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung. Nichtstaatliche Seenotrettungsorganisationen werden immer stärker kriminalisiert, sie bekommen Strafen auferlegt und werden aufgrund vorgeschobener Gründe an ihrer Arbeit gehindert. Ein Beispiel ist das Rettungsschiff Juventa, deren Kapitän_innen des Schleusertums bezichtigt wurden und denen jahrelange Haftstrafen drohen. In Italien droht Innenminister Salvini mit Strafen von bis zu 50.000 EUR für die Anlandung schiffbrüchiger Flüchtlinge und Migrant_innen. Die Sea Watch 3 kämpft mit Auflagen und Sanktionen, um weiterhin Menschen retten zu können.
Dass diese Sanktionierungen vor allem auf die Verletzung der Menschenrechte hinauslaufen, zeigt die ansteigende Todesrate auf dem Mittelmeer. Es müssen dringend alternative Fluchtwege eingerichtet werden und humanitäre Visa und Wiederansiedlungsprogramme erstellt werden, aber auch Möglichkeiten zur regulären Arbeitsmigration für Drittstaatsangehörige müssen eingerichtet werden.
Gemeinsam für sichere Häfen in Europa - von Palermo bis Hamburg
Notwendig ist eine menschenrechtsorientierte europäische Flucht- und Migrationspolitik, die völkerrechtlichen Verpflichtung gerecht wird und insbesondere mit Blick auf Schutz und Aufnahme zu mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der europäischen Union beiträgt. Auch die zivile Seenotrettung von Schutzsuchenden auf dem Mittelmeer gehört dazu. Dass die derzeitige Flüchtlingspolitik auch in der Öffentlichkeit immer mehr auf Unverständnis stößt, beweist das Engagement von Politiker_innen, Städten, Kommunen und zahlreichen zivilgeseschaftliche Organisationen. Im April dieses Jahres sprachen sich Brot für Welt, Diakonie, ProAsyl und weitere zivilgesellschaftliche Organisationen und Verbände in einem offenen Brief für einen Notfallplan für Schiffbrüchige aus. Seitdem ist viel passiert: In einem „Osterappell“ haben Parlamentarier_innen aus fünf Fraktionen ähnliche Forderungen gestellt, auf dem „Seebrücke-Kongress – Sichere Häfen. Leinen los für kommunale Aufnahme“ haben 60 Kommunen erklärt, sie seien bereit, als „sicherer Hafen“ Bootsflüchtlinge aufzunehmen. Wie die Juristin Helene Heuser feststellt: Städte und Gemeinden könnten auch die Lücken im Flüchtlingsschutz füllen. Weder das nationale noch das See- oder EU-Recht kenne ein "Recht auf Zuflucht". Im Mittelmeer gebe es dadurch "ganz klar eine Notsituation", für die sich niemand zuständig sehe.
Bei einem Besuch der Sea Watch 3 vor zwei Wochen hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, gemeinsam mit dem Oberbürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, den "Palermo-Appell" inititiert, in dem sie gemeinsam mit vielen Verantwortlichen aus Kommunen, Kirchen und der Zivilgesellschaft die Bundesregierung zum Handeln auffordern. Gefordert wird nicht nur die Entkriminalisierung der Seenotrettung, sondern auch die Entsendung staatlicher Rettungsschiffe sowie eine politische Notlösung in Form eines vorübergehenden Verteilungsmechanismus , der von einer Koalition der Willigen getragen wird. Auch die Kooperation mit autoritären Regimen und die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache müsse entsprechend des Appells sofort beendet werden
Ohne legale Einwanderungswege nach Europa und einer menschenrechtsorientierten Flüchtlingspolitik allerdings werden sich Menschen weiterhin auf todbringende Flucht- und Migrationsrouten begeben und ihr Leben bei der Überfahrt nach Europa riskieren. Die Bilder und Berichte über das Massengrab Mittelmeer werden nicht enden und die Zahl der Toten wird weiter steigen.