Der digitale Handel ist seit langer Zeit Bestandteil von Handelsabkommen. Entsprechende Regelung findet sich sowohl in bilateralen als auch multilateralen Verträgen. Den Anfang macht die WTO. Die Welthandelsorganisation verabschiedete bereits bei ihrer ersten Ministerkonferenz, 1996 in Singapur, den dazu bislang umfassendsten Vertrag: das Informationstechnologieabkommen ITA (Information Technology Agreement). Beim ITA handelt es sich um ein so genanntes plurilaterales Abkommen unter dem Dach der WTO, da sich seine Gültigkeit nicht auf alle WTO-Mitgliedstaaten erstreckt, sondern nur auf die Unterzeichnerstaaten. Mittlerweile haben 81 Staaten das ITA unterzeichnet.
„Erreichen maximaler Freiheit für Produkte der Informationstechnologie im Welthandel" lautet das oberste Ziel des ITA. Der Vertrag schreibt den Abbau von Zöllen auf informationstechnologische Güter vom PC bis zum Handy vor. Im Rahmen der 10. WTO-Ministerkonferenz 2015 in Nairobi wurden über 200 neue Produkte in das Abkommen übernommen. Sie umfassen einen Wert von 1,3 Billionen US-Dollar.
Auswirkungen des ITA auf Globalen Süden
Welchen Auswirkungen haben das ITA und die dort vereinbarten Zollsenkungen auf Null? Bei der Beantwortung der Frage müssen wir unterscheiden zwischen den Tech-Konzernen und Konsumenten einerseits – und den Staaten andererseits. IT-Konzerne, die bei der Herstellung von Tablets oder GPS-Geräten zu den Marktführen gehören, profitieren von der Abschaffung der Zölle. Eine Nichterhebung von Zöllen auf die international gehandelten Produkte reduziert deren Kaufpreise und erhöht damit die Verkaufszahlen von Microsoft, Apple und Co.. Während die Tech-Konzerne steigende Umsätze verzeichnen, erfreuen sich die Konsumenten daran, ihr Handy zu einem günstigeren Preis erwerben zu können.
Staaten hingegen müssen eine andere Rechnung aufmachen. Die fehlenden Zolleinnahmen gehen zu Lasten ihres Staatshaushalts. Die Einnahmenverluste durch den Wegfall der Zölle sind vor allem für die Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (Least Developed Countries – LDCs) problematisch, da ihre Staatshaushalte teils in hohem Maße von Zöllen abhängen. So liegt der geschätzte Anteil der Zölle an den gesamten Steuereinnahmen in Togo, Benin, Sierra Leone oder Mali bei über 40 Prozent.
Industriestaaten drängen auf permanentes Zollverbot…
Bislang handelt es sich um ein zeitlich befristetes Zollmoratorium. Bei jeder der WTO-Ministertagungen, die im zwei Jahres Turnus stattfinden, müssen die Mitgliedstaaten einer Verlängerung der Zollreduzierung zustimmen. Die Industrieländer, in denen die großen IT-Konzerne ansässig sind, drängen seit geraumer Zeit darauf, es in ein unbefristetes, permanentes Moratorium umzuwandeln.
… Entwicklungsländer halten dagegen
Bei den Entwicklungsländern stößt dieses Vorhaben auf viel Kritik. Fehlende Staatseinnahmen ist nur eines ihrer Gegenargumente. Zölle können auch ein wichtiges wirtschaftslenkendes Instrument sein. Allen voran haben die Staaten Südostasiens vorgemacht, wie Entwicklungsländern eine nachholende Industrialisierung gelingen kann. Südkorea und Singapur waren u. a. deswegen so erfolgreich, weil sie ihre – noch im Aufbau befindlichen – neuen Industrien vor ausländischer Konkurrenz schützten – indem sie Außenzölle auf jene Importe erhoben, die sie zukünftig im eigenen Land selbst produzieren wollten. Erst als ihre Unternehmen international wettbewerbsfähig waren, gingen sie mit diesen Schutzzöllen runter.
Hinsichtlich der Perspektiven für den Aufbau eigener Märkte in Ländern des Südens fragt das South Centre, eine Beratungsorganisation der Entwicklungsländer, deswegen sorgenvoll: „Wenn Zölle nicht länger relevant sind, weil die Konsumentinnen und Konsumenten digitale Produkte kaufen, die nicht mehr den Zoll passieren, was bedeutet das für die lokalen und regionalen Märkte, die wir aufzubauen versuchen?“ Die regionalen afrikanischen Märkte etwa seien für afrikanische Industrieunternehmen unverzichtbar, da sie einen Großteil ihrer an Wertschöpfung reichen Produktion in Afrika absetzen. Sichere Absatzkanäle seien deswegen eines der wichtigen Motive für den Aufbau der afrikanischen Freihandelszone CFTA (Continental Free Trade Area). Gibt es keinen adäquaten Außenschutz zur Steuerung des elektronischen Handels mit digitalen Produkten, könnte ein Teil dieser Bemühungen scheitern.
Indiens Erfahrungen mit dem ITA
Als Lehrbeispiel für die entwicklungspolitischen Risiken des ITA gilt Indien. Indien gehört zu den Ländern, die das Information Technology Agreement 1996 unterzeichneten. Aufgrund der darin vereinbarten Zollbeseitigungen litt das Land jedoch unter Importfluten multinationaler Konzerne der Telekommunikation und Unterhaltungselektronik, die zunehmend Billigware aus China einführten und indische Hersteller und Zulieferer verdrängten. Die IT-Importe trugen zum hohen Leistungsbilanzdefizit des Landes bei. Aus diesem Grund blieb Indien 2015 auch der Novellierung des ITA-Abkommens fern, welches die Liste der zu liberalisierenden Güter noch einmal erweiterte.
Um die heimische Industrie zu schützen, erhöhte Indien 2017 und 2018 die Zölle auf Smartphones und andere informationstechnologische Güter. Dagegen protestierten die EU, die USA und Japan; sie sehen darin einen Verstoß gegen Indiens ITA-Verpflichtungen. Die USA erwägen deswegen eine WTO-Klage . Indien indes verteidigte sich mit demselben Argument, das auch die Afrikanische Gruppe (der alle afrikanischen WTO-Mitglieder angehören) in den handelspolitischen Debatten um E-Commerce ins Feld führt: Innovationen wie moderne Smartphones oder Wearables wie Aktivitätstracker oder Smartwatches existierten noch nicht, als das erste ITA verhandelt wurde. Deswegen dürften sie auch nicht unter das Abkommen fallen.
Fazit
Während die Tech-Konzerne aus den USA, China und weiteren Staaten Asiens von der Liberalisierung des Handels mit IT-Produkten profitieren, verzeichnen die Länder des Globalen Südens eine ganze Reihe von negativen Folgen: Das Zollmoratorium reduziert ihre Staatseinnahmen, führt zu Defiziten in ihren Handelsbilanzen und gefährdet ihre Bemühungen eigene funktionierende Märkte für digitale Produkte aufzubauen, einschließlich dem berechtigten Anliegen, regionale Freihandelszonen erfolgreich zu gestalten.
Handelspolitische Spielräume erweitern!
Der ‚Trade and Development Report‘ der UNCTAD (2018) warnt davor, in bi- und multilateralen Handelsabkommen übereilt Regeln zu erlassen, die eine weitere Liberalisierung des digitalen Handels vorantreiben. Zur Begründung nennt die UNCTAD vor allem zwei Argumente: Erstens, so lehrten die Erfahrungen, gehe eine Liberalisierung von Handelsbeziehungen stets zu Lasten der Länder und Regionen, die sich auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau befinden. Zweitens seien die langfristigen Auswirkungen der Digitalisierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum absehbar. Eine voreilige Festlegung auf eine bestimmte Handelspolitik könnte deshalb Handlungsräume schließen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt gesehen und genutzt werden.
Bislang erlaubt das Handelsrecht den Schutz der eigenen Wirtschaft nur unter sehr strikten Konditionen. Nach Ansicht von Brot für die Welt und seinen Partnerorganisationen sollten zukünftig die Anwendungsvoraussetzungen des Handelsrechts dahingehend erweitern werden, dass Staaten auch dann Schutzmaßnahmen ergreifen dürfen, wenn sie dazu dienen, eine auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnittene Wirtschaftspolitik zu betreiben.
Außerdem dürfen keine handelsrechtlichen Vereinbarungen getroffen werden, die die Erhebung von Zöllen oder anderen wirtschaftslenkende Politiken verbieten. Das Anfang 2019 in Kraft getretene transpazifische CPTPP-Abkommen, dem elf Staaten, darunter sechs OECD-Länder (Japan, Kanada, Neuseeland, Australien, Chile, Mexiko) angehören ist insofern ein Negativbeispiel für einen fairen Handel. Gleiches gilt für das am 25. September 2019 abgeschlossene Handelsabkommen zwischen den USA und Japan, welches am 1. Januar 2020 in Kraft treten könnte. Solche Regelungen schränken den politischen Gestaltungsspielraum von Staaten in unzulässigem Maße ein und schicken Entwicklungs- und Schwellenländer bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf die Verliererstraße.