Es ist alarmierend, dass die Zahl der Hungernden seit fünf Jahren wieder ansteigt. Die Zunahme des Hungers wirft die internationale Staatengemeinschaft zurück, und jetzt wirkt die Corona-Pandemie auch noch wie ein Katalysator und verstärkt den Hunger. Bauern können ihre Produkte durch den Lockdown nicht mehr vermarkten, Millionen von Schülern fehlt das Schulessen und damit die einzige Mahlzeit am Tag. Die Armen in den Städten, die schon bisher von der Hand in den Mund gelebt hatten, haben jetzt gar kein Einkommen mehr und können sich kaum noch etwas zu essen kaufen. Damit wird ein teuflischer Kreislauf in Gang gesetzt. Ein durch Mangelernährung und Untergewicht geschwächtes Immunsystem kann sich viel schlechter gegen das Corona-Virus wehren. Durch die mangelnden Abwehrkräfte und zudem unhygienische Bedingungen durch Wassermangel und schlechte Wohnverhältnisse kann das Virus sich rasant verbreiten und schnell tödlich wirken. Es muss von allen mehr gegen diese Abwärtsspirale getan werden, denn Hunger ist kein Schicksal. Dass die Zahlen seit fünf Jahren wieder steigen, muss die Staatengemeinschaft endlich aufrütteln. Sie muss den Aufbau nachhaltiger und krisenfester Agrar- und Ernährungssysteme zur Top-Priorität machen und mehr investieren. Die Welt soll bis zum Jahr 2030 von der Geißel des Hungers befreit werden. Dieses Versprechen der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung gilt noch immer!
An den Hauptursachen für den Hunger hat sich in den letzten Jahren nichts wesentliches verändert, heißt es im Welternährungsbericht, der am 13. Juli 2020 in New York vorgestellt wurde. Kriege und Konflikte, Klimawandel und die wirtschaftliche Depression in vielen Staaten treiben die Zahl der Hungernden weltweit weiter nach oben. 2019 sind insgesamt rund 690 Millionen Menschen chronisch unterernährt gewesen, das sind zehn Millionen mehr als 2018 und 60 Millionen mehr als vor fünf Jahren. Am zahlreichsten sind die Hungernden in Asien, der schnellste Zuwachs entfällt derweil auf Afrika. Der Welternährungsbericht geht davon aus, dass durch die Corona-Pandemie dieses Jahr weitere 83 Millionen, oder im schlimmsten Fall bis zu 132 Millionen zusätzlich an Hunger leiden werden.
Mehr Augenmerk auf gesunde Ernährung
Der Bericht betont die hohe Bedeutung einer vielfältigen und gesunden Ernährung bei der Bekämpfung von Hunger und Mangelernährung. Aber drei Milliarden Menschen können sich Mahlzeiten mit Gemüse, Obst, Milch und Eiweißprodukten gar nicht leisten. Der Bericht schätzt, dass dieser Ernährungsstil fünfmal mehr kostet als die kohlenhydratreiche Ernährung, die zwar satt macht, der es aber an wichtigen Nährstoffen mangelt. Andererseits können durch gesunde Ernährung Gesundheitskosten eingespart werden, was dies wieder ausgleicht.
Corona erschwert den Kampf gegen den Hunger
Durch die Coronapandemie wird die Reform des globalen Ernährungssystem noch schwerer werden und es ist fraglich, ob das gemeinsam gesteckte Ziel noch erreicht wird: dass bis zum Jahr 2030 niemand mehr hungert. Es bringt aber kaum was, sich nur auf dieses Ziel zu fokussieren, es braucht einen mehrdimensionalen Ansatz und mehr Kooperation zwischen den verschiedenen Sektoren. Denn die Coronapandemie zeigt auch deutlich, wie alle Lebensbereiche aufs Engste miteinander verbunden sind: Ernährung, Hygiene, Gesundheit, die Auswirkungen des Klimawandels oder wirtschaftliches Wohlergehen und ein funktionierendes Gemeinwesen. So kann der Hunger auf der Welt nur dann reduziert werden, wenn zum Beispiel auch Gesundheitsprobleme gelöst werden. So bekommen viele Kinder wegen verunreinigtem Wasser Durchfall und können ihre Nahrung nicht verwerten. Das zeigt: Eine bessere Wasserversorgung reduziert Krankheiten und Hunger. Auch müssen unbedingt und zügig Maßnahmen gegen den Klimawandel ergriffen werden, damit Dürren oder Überschwemmungen nicht die Ernten vernichten. Und den Kleinbauern in den armen Ländern des Südens muss finanziell und technisch beigestanden werden, damit sie sich an die Folgen des Klimawandels mit verbesserten Anbaumethoden anpassen können. Sonst wird der Klimawandel alle Anstrengungen im Kampf gegen den Hunger konterkarieren. Ebenso ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass für Kriegs-und Konfliktgebiete Lösungen gefunden werden müssen: dort ist die Zahl der Hungernden besonders groß.
Flucht- und Migration durch Hunger
Hunger ist immer noch ein ländliches Problem und verschärft den Urbanisierungsdruck. 80 Prozent der Hungernden in den Ländern des Südens leben auf dem Land und überwiegend von der Landwirtschaft. Das heißt, die Gestaltung der Agrar- und Ernährungssysteme und auch der Stadt-Land-Beziehungen in diesen Ländern spielen eine entscheidende Rolle. Hunger ist eine wichtige Flucht- und Migrationsursache. Aber diesen strukturellen Hunger zu beseitigen ist sehr schwer. Obwohl im Jahre 2008 und 2009 die Zahl der Menschen, die hungern, mit einer Milliarde ihren höchsten Stand erreichte und diese Krise in aller Munde war, wurden die mehrdimensionalen und strukturellen Ursachen des Hungers in den letzten zehn Jahren nicht beseitigt. Wenngleich alle Programme darauf hinweisen, dass besseres Saatgut, weniger Landraub, mehr Umweltschutz, effiziente Infrastruktur und Märkte mit stabilen Preisen Grundvoraussetzungen sind, um den Hunger wirksam zu bekämpfen, wurde in diese Richtung zu wenig unternommen. Dies hat existenzielle Auswirkungen auf die Lebenssituation der Menschen.
Wirksame Programme im Kampf gegen Hunger längst bekannt
Wirksame Rezepte und Programme im Kampf gegen Hunger, Mangel- und Fehlernährung sind bekannt. Die Welternährungsberichte der letzten Jahre haben sie ausführlich beschrieben. Was die Berichte jedoch nicht thematisieren: Die bestehenden wirtschaftlichen und politischen Systeme und die Eliten, die davon profitieren, stellen immer noch ihre Interessen und ihre Gewinne über das Recht auf Nahrung und den Erhalt der Umwelt. Traditionelle und indigene Gemeinschaften werden von ihrem Land vertrieben; Handelsabkommen umgesetzt, die zu wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse der Armen nehmen; die Natur durch intensive Agrarnutzung und durch den Rohstoffabbau weiter zerstört. Agrarkonzernen gelingt es immer mehr, Essen und Nahrung auf eine rein handelbare Ware zu reduzieren. Im ländlichen Raum manifestiert sich das Versagen der globalen Ernährungssysteme vor allem durch die Übernutzung von Land, Wasser oder durch den Verlust der Biodiversität. Dies treibt die kleinbäuerlichen Familien in die Enge. In den Städten sind die starke Zunahme von ernährungsbedingten Krankheiten, Mangelernährung und Fettleibigkeit Indikatoren dieser Fehlentwicklung.
Agrarökologie bietet Lösungen im Kampf gegen den Hunger
Die Zivilgesellschaft hat in den letzten Jahren Vorschläge für alternative Agrarsysteme entwickelt, um das globale Ernährungssystem umzubauen. Eine systematische Umstellung der Agrarproduktion, der Verteilung der Nahrungsmittel und des Konsumniveaus steht an, um die Zahl der Hungernden zu reduzieren und das Recht auf Nahrung zu verwirklichen. Die Agrarökologie ist das Kernelement dieses Ansatzes. Sie ist in der Praxis erprobt, aber leider noch nicht "Mainstream", zum Teil wird dies auch von den Agrarkonzernen massiv bekämpft. Agrarökologie basiert auf der Vielfalt und der Multidimensionalität von Agrarsystemen. Im Mittelpunkt steht dabei ein ganzheitlicher Ansatz, der die Erfordernisse der landwirtschaftlichen Familienbetriebe, der Gemeinden und der Ökosysteme berücksichtigt, um lokale Bedürfnisse zu befriedigen. Ziele sind dabei die Stärkung lokaler Strukturen, höhere Erträge, mehr Ertragsstabilität und weniger Abhängigkeit, um die Gefahr der Verschuldung einzudämmen. Zusätzlich können agrarökologische umweltschonende Anbausysteme negative Effekte des Klimawandels reduzieren.
Der Welternährungsbericht „State of Food Security and Nutrition in the World“ (SOFI) wird gemeinsam vom Welternährungsprogramm (WFP), der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dem Kinderhilfswerk UNICEF und dem Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) herausgegeben.