Palästina ist mit anhaltenden negativen Folgen für Wirtschaft, Gesundheitssystem und Arbeitsmarkt von der COVID-19 Pandemie betroffen. Welches sind die größten Herausforderungen für Frauen in diesen Krisenzeiten?
Randa Siniora: Die größte Herausforderung ist die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Haushalte durch die Pandemie in Verbindung mit zunehmender geschlechtsspezifischer Gewalt. Die palästinensische Gesellschaft ist ausgesprochen patriarchalisch. Die Normen und Verhaltensweisen, die sie prägen, führen zu großer Ungleichheit von Männern und Frauen. Während des Lockdown haben sowohl Männer als auch Frauen, die häufig im schlecht bezahlten informellen Sektor beschäftigt sind, ihre Arbeit verloren. Dadurch gerieten viele Familien in wirtschaftliche Not, was zu einer Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder geführt hat.
Die Situation für Frauen ist sehr schwierig. Sie müssen vielfältige gesellschaftliche Einschränkungen in Kauf nehmen. Der Lockdown hat ihre Situation verschärft. Zunehmende Anspannung und wirtschaftlicher Druck haben dazu geführt, dass eine steigende Anzahl von Männern ihre Frustration an Frauen und Kindern ausgelassen haben. Betroffene Frauen konnten der Gewalt nicht entkommen, denn wegen des Lockdown war es nicht möglich, das Haus oder die Wohnung zu verlassen. Da ihre Ehemänner, Brüder und Väter sich ständig zu Hause aufhielten, fehlte vielen Frauen sogar die nötige Privatsphäre, um per Telefon oder Internet Hilfe zu suchen. Für Frauen ohne Zugang zum Internet war das noch schwieriger. Außerdem sorgten sie sich um die Sicherheit ihrer Kinder. Viele Frauen fühlten sich deshalb in einem Teufelskreis von Gewalt gefangen, der auch nach den inzwischen erfolgten Lockerungen nicht so einfach durchbrochen werden kann.
Auch die Gerichte haben während des Lockdown nicht gearbeitet. Was hat ihre Schließung für Frauen bedeutet?
Siniora: Lassen Sie mich zunächst feststellen, dass die bestehenden Gesetze überholt sind und das Rechtssystem Frauenrechte nicht begünstigt. Trotzdem hat die Schließung der Gerichte viel Leid für Frauen und Kinder gebracht, denn laufende Fälle wurden nicht verhandelt und neue nicht angenommen. Das bedeutete beispielsweise, dass von Gewalt betroffene Frauen keine Scheidung einreichen konnten. Auch Sorgerechtsfälle wurden nicht entschieden. Außerdem war es unmöglich für geschiedene Frauen, die Unterhaltszahlungen säumiger Väter einzuklagen. Ihre wirtschaftliche Situation wurde zunehmend verzweifelter. Zahlreiche Väter nutzen die Situation, um gerichtlich vereinbarte Besuchsregelungen zu ignorieren. Entweder kümmerten sie sich gar nicht um ihre Kinder oder sie holten sie ab und brachten sie nicht zu ihrer Mutter zurück.
Außer der Schließung der Gerichte führten die COVID-19 Einschränkungen zur Aussetzung von Haftstrafen, die normalerweise zur Durchsetzung von Gesetzen, Vorschriften und gerichtlichen Verfügungen verhängt werden. Die Ausbreitung des Virus in den Gefängnissen sollte auf diese Weise verhindert werden. So berichteten einige Frauen von Fällen häuslicher Gewalt, in denen die Polizei, die vor Ort gerufen wurde, den Täter gar nicht oder nur einige Stunden festgehalten hat. Unter normalen Umständen werden Männer, die Gewalt ausüben wenigstens über Nacht ins Gefängnis gebracht. Die Aussetzung dieser Maßnahme erzeugte ein Gefühl der Straflosigkeit und führte bei einigen Männern zu gesteigerter Gewaltausübung.
Wie hat sich WCLAC auf die veränderte Situation reagiert?
Siniora: Als erstes hat unser Team angefangen, online zu arbeiten. Unser Hilfstelefon sowie die Hilfstelefone anderer Organisationen sind jeden Tag 24 Stunden erreichbar gewesen. Wir haben Verbindungen zu unseren Sozialarbeiterinnen und Anwältinnen eingerichtet, die für Unterstützung und Beratung zur Verfügung standen. Weiterhin haben wir unsere Dienstleistungen über die lokalen Medien bekanntgemacht und unsere Mitarbeiterinnen in Online-Beratung geschult. Wir haben unsere Aufklärungsarbeit über Frauenrechte und häusliche Gewalt im Rahmen verschiedener Kampagnen in den sozialen Netzwerken und anderen Medien fortgesetzt. Außerdem haben wir den Schutz von Betroffenen häuslicher Gewalt in den Frauenhäusern gewährleistet und uns für die Wiedereröffnung der Gerichte eingesetzt. Die anhaltende Verletzung des Humanitären Völkerrechts durch die israelische Besetzung, die sich auch in Zeiten der Pandemie fortsetzte, haben wir ebenfalls thematisiert.
Was bedeutet die Pandemie für den Fokus und die Zukunft der Arbeit von WCLAC?
Siniora: Die Pandemie bedeutet einen Rückschlag für unsere Arbeit, aber ihr Fokus verändert sich dadurch nicht. Der Kampf für Veränderung ist lang. WCLAC wird ihn weiterhin durch individuelle Beratung von Frauen, die von Gewalt betroffen sind, sowie gesellschaftliche Aufklärung für die Gleichberechtigung der Geschlechter und Frauenrechte unterstützen. Unsere politische Arbeit ist auf die Erzielung der Gleichberechtigung der Geschlechter ausgerichtet. Die während COVID-19 erfolgte Zunahme von geschlechtsspezifischer Gewalt hat erneut gezeigt, dass wir einen besseren Schutz für Frauen und eine geschlechtsbewusste Gesetzgebung brauchen. Wir wollen uns deshalb noch stärker als bisher für Verbesserungen im neuen Gesetz zum Schutz der Familie einsetzen, dass im palästinensischen Kabinett debattiert wird. Die Verletzung des humanitären Völkerrechts durch die israelische Besatzung und die Auswirkungen besonders auf Frauen wird ebenfalls weiterhin auf unserer und der Agenda anderer palästinensischen Frauenorganisationen bleiben.