Die Covid-19-Pandemie hat der Tendenz zur Abschottung, welche die Politik der EU-Mitgliedstaaten schon seit Jahren prägt, zusätzliche Wucht verliehen. Mit dem Einsatz von FRONTEX-Einheiten wurden die Außengrenzen nahezu hermetisch abgeriegelt. In Griechenland wurde das Asylrecht faktisch außer Kraft gesetzt und die Genfer Flüchtlingskonvention ausgehebelt. Initiativen zur Evakuierung der Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln, zu denen Hilfsorganisationen aufgerufen haben, sind dringend erforderlich. Selbst die Initiative in einer „Koalition der Willigen“ eine begrenzte Zahl von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen in den EU-Ländern aufzunehmen, geriet ins Stocken. Dass im Zuge einer Pandemie die europäische Migrationspolitik reformiert und die bekannten Differenzen aufgelöst würden, konnte man kaum erwarten. Diese dürfen aber nicht dazu führen, dass die EU mehr als 40.000 MigrantInnen auf den griechischen Inseln schutzlos und ohne medizinische Infrastruktur sich selbst überlässt.
Während sich die Bereitschaft zur gemeinsamen Bewältigung humanitärer Herausforderungen in engen Grenzen hält, wird der Ausbau militärischer Kapazitäten zur Sicherung der Außengrenzen und für Einsätze auf dem afrikanischen Kontinent in erstaunlicher Einmütigkeit vorangetrieben.
EU-Mission „IRINI“: Militärpräsenz und Migrationsabwehr im Mittelmeer
So wurde am 1. April 2020 eine neue EU-Militärmission „IRINI“ im Mittelmeer beschlossen, welche die bisherige Operation „Sophia“ ablösen soll. Sie wird mit ähnlichen Mandaten ausgestattet wie die Vorgängermission. Vorrangig soll sie das von den Vereinten Nationen gegen Libyen verhängte Waffen- und Öl-Embargo überwachen, Menschenschmuggel unterbinden und gegen Schlepper vorgehen. Damit die im Kontext von IRINI im Mittelmeer kreuzenden Schiffe nicht in die Verlegenheit kommen, in Seenot geratene Flüchtlinge retten zu müssen, sollen nun andere Routen befahren werden. Gleichzeitig wird im Rahmen der neuen Mission auch weiterhin die libysche Küstenwache durch die EU-Staaten „ertüchtigt“ (ausgestattet und trainiert), die Menschen auf afrikanisches Gebiet zurückbringt und in den vergangenen Jahren eklatante Menschenrechtsverletzungen an Geflüchteten verübte. Die Namensgebung für die EU-Mission - abgeleitet vom griechischen Wort für „Frieden“ - erweist sich also in mehrfacher Hinsicht als Euphemismus. Solange die EU-Mitgliedstaaten sich nicht auf eine humane Politik einigen können, die es Menschen, die vor Bürgerkriegen flüchten, gestattet, in Europa Asyl zu beantragen, wird Seenotrettung eine wichtige – menschenrechtlich und friedenspolitisch gebotene - Aufgabe der europäischen Zivilgesellschaft bleiben.
Ausbau von Interventionskapazitäten mit Blick auf die Sahelregion
Im Schatten der globalen Gesundheitskrise werden auch Militärkooperationen vorangetrieben, die sich auf Interventionen jenseits der EU-Grenzen richten. Elf Mitgliedstaaten beschlossen im März die Aufstellung einer militärischen Spezialeinheit „Takuba“ zur Bekämpfung extremistischer Milizen in Mali. Zu den Unterzeichnern gehören Deutschland, Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Norwegen, die Niederlande, Portugal, Tschechien, Großbritannien und Schweden. Die Unterstützung Deutschlands sei vorerst vor allem politischer Natur, so heißt es - die Bundeswehr ist in Mali bislang im Rahmen von UN- und EU-Missionen im Einsatz. „Takuba“ soll aus mehreren Hundert Personen bestehen und im Sommer 2020 unter französischer Leitung in der Region Liptako den Einsatz beginnen. Diese sollen auch die französische Mission "Barkhane" in der Sahel-Zone sowie eine von der EU unterstützte gemeinsame Truppe von fünf Sahelstaaten (G 5-Sahel) unterstützen. Die Entsendung einer weiteren militärischen Interventionstruppe erfolgt in einer Zeit, in der nach einem Jahrzehnt regionaler und internationaler militärischer Einsätze vielfältiger multinationaler Streitkräfte neben den Truppen der Sahelstaaten kaum Erfolge erzielt wurden und die Akzeptanz internationaler Einmischung bei der Bevölkerung der betroffenen Länder immer mehr schwindet.
„Weder sind die gewalttätigen Extremisten verschwunden, noch hat sich die Sicherheitslage in den betroffenen Ländern verbessert. Die Zahl der Todesopfer in diesen Konflikten und der Menschen, die flüchten oder gewaltsam vertrieben werden, ist dagegen kontinuierlich gestiegen,“
so Hans-Joachim Preuss, der die Lage in der Region für die Friedrich-Ebert-Stiftung analysiert. Hier besteht die Herausforderung also nicht nur in der Unterstützung zur Bewältigung der vielfältigen humanitären Krisen in der Region, die sich mit der Corona-Pandemie noch verstärken. Sie liegt auch in der Konzeption einer Nachbarschafts- und Entwicklungspolitik, die sich von der Migrationsagenda löst und wirtschaftliche Perspektiven eröffnet. Darüber hinaus bedarf es einer Neudefinition von Sicherheitspolitik, die sich nicht in erster Linie auf militärische Potenziale stützt, sondern die vor allem die Afrikanische Union (AU) und deren Stärken im Bereich der Diplomatie und Mediation konsequent einbezieht.