Viele Fachleute und PolitikerInnen teilen die Einschätzung, dass der Welt die größte gesundheitliche, sozioökonomische und finanzielle Krise seit dem zweiten Weltkrieg droht. Über das Ausmaß der längerfristigen wirtschaftlichen Einbußen lässt sich bislang nur spekulieren. Doch schon jetzt wird deutlich, dass in den unterschiedlichsten Weltregionen jeweils die ärmsten Bevölkerungsteile in besonderer Weise unter den Folgen der Epidemie zu leiden haben. Selbst hierzulande kann man das beobachten: So lassen die Finanzpakete der Bundesregierung bislang Direkthilfen für Mini-Jobber vermissen, und wenn in Großstädten die Hälfte der „Tafeln“ ihre Arbeit einstellen müssen, ohne dass alternative Versorgungswege geschaffen werden, geraten Wohnungslose und andere Bedürftige in bedrohliche Notlagen. Inzwischen hat das Virus aber auch weniger begünstigte Weltregionen und damit unter anderem die afrikanischen Länder erreicht. Manche GesundheitsexpertInnen hoffen, dass es dort nicht so viele Todesopfer fordern werde wie in Europa, weil die Bevölkerungen im Durchschnitt jünger sind (50% sind jünger als 25 und nur 6 % über 65 Jahre alt). Jedoch befürchten Ärzte in einigen Ländern, die mit drastischen Ausgangssperren reagieren, dass Menschen auch mit anderen schwerwiegenden Erkrankungen immer weniger Chancen haben behandelt zu werden (so z. B. in Berichten aus Uganda). Und wenn die Pandemie eine neue Krise der Weltwirtschaft nach sich zieht, so werden die Auswirkungen auch den afrikanischen Kontinent, der schon jetzt mit einer Fülle von Problemen umgehen muss, zusätzlich in Bedrängnis bringen.
Die Pandemie trifft auf Hungerkrisen, fragile Staaten und Gewaltkonflikte
Vielerorts überlagert sich die aufziehende Corona-Epidemie mit Ernährungskrisen, Klimaveränderungen, Gewaltkonflikten und Vertreibung. Internationale Hilfswerke und das World Food Programme der Vereinten Nationen (VN) versuchen aktuell die Weltgemeinschaft unter anderem für die prekäre Situation in den Sahelstaaten zu sensibilisieren, wo mehr als fünf Millionen Menschen an schwerem Hunger leiden. Der dramatische Anstieg der Zahl der Hungernden trifft zusammen mit der COVID-19-Pandemie. Diese erreicht nun Länder, die über die schwächsten Gesundheitssysteme der Welt verfügen. Burkina Faso hat nach UN-Angaben die meisten offiziell gemeldeten Todesfälle durch COVID-19 in Subsahara-Afrika zu verzeichnen. Mali und Niger sind ebenfalls von der Hungerkrise betroffen. Gleichzeitig hat sich nach UN-Angaben die Zahl der Vertriebenen im zentralen Sahel massiv erhöht, allein in Burkina Faso soll sie in den letzten drei Monaten von einer halben Million zu Beginn des Jahres auf 780.000 gestiegen sein. Diese Menschen wurden von extremistischer Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben und sind auf internationale Hilfe angewiesen um zu überleben. Zahlreiche afrikanische Länder leiden unter schwachen staatlichen Strukturen und/oder korrupten Regimen, einige zudem unter weiterhin schwelenden Gewaltkonflikten (z.B. Kongo), oder an den Folgen vergangener Kriege und Epidemien (z.B. Sierra Leone und Liberia). In vielen Regionen werden die lokalen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie kaum ausreichen. Zahlreiche afrikanische Länder benötigen Finanzhilfen für ihre Gesundheitssysteme und gegebenenfalls auch Schuldenerleichterungen.
Aufruf des UN-Generalsekretärs zum weltweiten Waffenstillstand
Kriegs- und Nachkriegsregionen sind am allerwenigsten auf eine solche Pandemie vorbereitet. In Ländern wie Syrien oder Jemen sind infolge jahrelanger Gewaltkonflikte so gut wie keine funktionstüchtigen Gesundheitseinrichtungen mehr vorhanden. Hier kommt es auf den Einsatz der internationalen Hilfsorganisationen an, die Zugänge zu den Bedürftigen erhalten müssen. Von daher ist der Aufruf von UN-Generalsekretär Antonio Guterres an bewaffnete Akteure, die Waffen schweigen zu lassen, um eine Bewältigung der Corona-Krise zu ermöglichen, von großer Bedeutung. Friedenspolitische Netzwerke setzen ihre Hoffnung darauf, dass staatliche wie nichtstaatliche Gewaltakteure diesem Aufruf folgen und dass daraus umfassendere Friedensinitiativen entstehen könnten.
Politische Instrumentalisierung des Virus
Mit den von der Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Problemen und sozialen Verwerfungen könnten sich Konfliktpotenziale - etwa Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen – vielerorts weiter verschärfen. Ein weiteres Risiko besteht darin, dass das Virus in vielfältiger Weise politisch instrumentalisiert wird. Autokratische Regime weltweit nutzen die Chance, ihre Macht zu festigen, die Schuld für Missstände auf andere zu schieben, oder im Zuge von Ausnahmeregelungen die Opposition mundtot zu machen (z.B. in Thailand, Bangladesch, oder auf den Philippinen). Auch in Europa bemühen sich einige Regierungen, demokratische Rechte und Verfahren auszuhebeln (wie in Ungarn und Polen). Auch in den westlichen Ländern scheuen prominente Entscheidungsträger nicht davor zurück, politische Diskurse mit der Suche nach Sündenböcken zu garnieren und Feindbilder zu schüren („Chinavirus“). Manche bedienen sich martialischer Kriegsrhetorik (wie z.B. US-Präsident Trump und der französische Präsident Macron) im Krisenmanagement um Versäumnisse zu übertünchen – nämlich die mangelnde Vorsorge im Katastrophenschutz und eine tiefgreifende Vernachlässigung der Gesundheitssysteme. Dabei wäre eine wichtige Lehre aus den aktuellen Entwicklungen, dass „Sicherheit“ unbedingt anders als militärisch definiert werden muss.
„Sicherheit“ braucht funktionierende Gesundheitssysteme, nicht mehr Rüstung
„Ich habe mich lange nicht mehr so wütend, hilflos, deprimiert, ratlos gefühlt“ schrieb kürzlich ein mit Brot für die Welt befreundeter Friedensforscher, der sich in Friedensprozessen in der Pazifikregion engagiert,
„es ist bitter zu sehen, in welch verkommenem Zustand sich das öffentliche Gesundheitswesen vielerorts in diesen doch so reichen Gesellschaften befindet (ein Hoch auf den Neoliberalismus), während gleichzeitig immense Steigerungen der ‘Verteidigungs’haushalte durchgesetzt werden mit der Begründung, dies sei im Interesse ‘unserer’ ‘Sicherheit’. Unsere Sicherheit braucht ein funktionierendes Gesundheitssystem, nicht mehr Rüstung und Militär. Ebenso bitter ist es auch zu sehen, wie die Lage der Menschen im Globalen Süden aus dem Blick und dem Wahrnehmungshorizont gerät.“ (Dr. Volker Böge, Brisbane, Australien)
Das Konzept der „Menschlichen Sicherheit“, das vor 25 Jahren im UN-Kontext entstand und von der Staatenwelt breit akzeptiert wurde, umfasst das Recht der Menschen auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit. In vielen Ländern des globalen Südens wird dieses Recht nur unzureichend gewährleistet. Das ist beklagenswert und keinesfalls hinnehmbar. In einer relativ wohlhabenden Region wie Europa mit anzusehen, wie MedizinerInnen in ihrer Arbeit beeinträchtigt werden und Arztpraxen die Schließung droht, weil keine ausreichenden Reserven an Atemschutzmasken und Schutzkleidung angelegt wurden und Pflegekräfte nicht angemessen bezahlt werden, macht ebenfalls fassungslos. Es ist ein Skandal erst recht wenn man bedenkt, dass in derselben Region seit geraumer Zeit massive Anstrengungen unternommen werden, den Militärhaushalt kräftig zu erhöhen um der NATO-Vorgabe in Höhe von 2% der Wirtschaftsleistung gerecht zu werden. Dieses krasse Missverhältnis sollte Anlass geben, den vorherrschenden Diskurs um „Sicherheit“ kritisch zu hinterfragen. Es muss neu verhandelt werden, wie „Sicherheit“ nicht nur mit Blick auf die internationalen Beziehungen, sondern auch mit Blick auf die Leistungsfähigkeit des Staates für das Wohl seiner eigenen Bürger zu definieren ist. Diese Diskussion offen und öffentlich zu führen, wäre eine zentrale Aufgabe für den Deutschen Bundestag, die Bundes- und Landesministerien und die Zivilgesellschaft.
„Menschliche Sicherheit“ erfordert Einsparungen bei den Militärausgaben
Auch die Umsetzung der 2017 erstellten Leitlinien der Bundesregierung „Krisen verhindern; Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ sollte unter neuen Vorzeichen diskutiert werden. Es gilt, gemeinsam mit den VN, der EU, OECD und OSZE zusätzliche und innovative wirtschaftliche, soziale und gesundheitspolitische Instrumente zu entwickeln, die den krisenbedingten sozialen Verwerfungen und Konfliktpotenzialen entgegenwirken. Die Notwendigkeit, darin die VN zu unterstützen und aufzuwerten, wurde inzwischen vom deutschen Entwicklungsminister Müller erkannt. Aber auch die internationalen Finanz- und Wirtschaftsinstitutionen müssen Wege für einen solidarischen Umgang mit den Krisenfolgen eröffnen, um einkommensschwache Länder vor weiteren Schocks zu bewahren. Darüber hinaus braucht es Mechanismen, die vergleichbaren Katastrophen in Zukunft wirksam vorbeugen, „menschliche Sicherheit“ ernstnehmen und im Einklang mit ökologischer Transformation global definieren. Auch die Europäische Union müsste ihre Politik verändern und ihre Nachbarschaftspolitik auf nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung anstelle von militärischen Potenzialen richten. Finanziert werden müssten all diese Initiativen durch die Umwidmung von Mitteln aus den Rüstungsbudgets. Der Verzicht auf weitere Aufrüstung – also eine Abkehr vom 2%-Ziel der NATO und vom überteuerten EU-Verteidigungsfonds - wäre jetzt ein Schritt in die richtige Richtung. Für dieses Frühjahr plante die NATO ihr größtes Manöver seit 25 Jahren („Defender 2020“). Dieses wurde Corona-bedingt Ende März nun vorzeitig beendet. Die Militärausgaben des Bündnisses jedoch bewegen sich im Aufwärtstrend. Seit 2014 sind die Rüstungsausgaben weltweit massiv gestiegen. Inzwischen liegen sie wieder so hoch wie in der Hochrüstungsphase des Kalten Kriegs. Mehr als die Hälfte davon geht auf das Konto der NATO-Staaten. Friedensforscher sehen das von der NATO definierte 2%-Ziel und den Druck, der von den USA auf die Verbündeten ausgeübt wird, mitverantwortlich für diese Entwicklung und registrieren mit großer Besorgnis, dass sich auch die nukleare Rüstungsspirale unbeeindruckt weiterdreht.