„1970 zogen wir in Hungermärschen durch die Städte und über die Dörfer. Vorher haben wir Sponsoren gesucht, die für jeden Kilometer einen bestimmten Betrag spendeten. Wenn man dann 20 Kilometer gelaufen war, hatte man eine hübsche Summe zusammen, die an bestimmte Hilfsprojekte gespendet wurde.
Wir sammelten dabei aber nicht nur Geld, sondern wollten auch darauf aufmerksam machen, dass noch immer ein nachkoloniales Ausbeutungssystem existierte. In dem waren die Länder des Südens nur Rohstofflieferanten, denen wir die Preise diktierten, weshalb sich kein Wohlstand entwickeln konnte. Das haben wir angeprangert.
Wir hatten das Gefühl, wir müssen die Erwachsenen, die das Sagen hatten, aufrütteln und ihnen zeigen, dass da was Wichtiges im Gange ist. Ganz ähnlich wie 2019 bei den Fridays for Future-Demonstrationen. Als ich die im Fernsehen gesehen habe, musste ich sehr an die Zeit damals denken und habe mich unglaublich gefreut, dass endlich wieder junge Menschen auf die Straße gehen und für Gerechtigkeit demonstrieren, auch wenn es heute um das Klima geht.
Die Bevölkerung konnte unsere kirchlichen Jugendgruppen damals nicht so recht von der RAF unterscheiden, das war für sie alles eins. Einmal kam ein Bauer vom Feld, spuckte einen jungen Mann an und beschimpfte ihn wegen seines Bartflaums als Revoluzzer. Der Junge war so erschüttert, dass ich ihm sagte, ich als Jugendreferent werde mir aus Solidarität einen Bart wachsen lassen – den hab ich bis heute.
Viele Demonstranten hatten aber tatsächlich radikale Forderungen. Sie sahen die Entwicklungshilfe als Almosen an und forderten stattdessen Gerechtigkeit, die sie durch Revolution schaffen wollten. Brot für die Welt hatte damals ein Plakat mit einer Hungerhand, die sich bettelnd in die Höhe streckt. Irgendwelche Aktivisten haben die in eine Faust verwandelt und das „B“ und das “für“ abgeschnitten, so dass es „Rot die Welt“ hieß und das Plakat ein Aufruf zur Revolution wurde. Der damalige Direktor des Diakonischen Werks hat sich furchtbar aufgeregt, aber er hat dann meinen Rat angenommen und keine Anzeige erstattet, denn das hätte nur noch mehr Aufmerksamkeit auf die Sache gelenkt. Doch die Aktion hat gewirkt. Danach gab es bei Brot für die Welt nie wieder ein Plakat, das Almosenempfänger und Hungerleider darstellte, sondern Menschen, die etwas zum Frieden beitragen, die sich selber versorgen können – wenn man sie nur lässt.
Die Idee, hier bei uns eine alternative Form der Vermarktung – den Fairen Handel - zu schaffen, kam aus der Jugendarbeit. Wir haben damals gesagt, diese Menschen sind doch auch aktiv, warum helfen wir ihnen nicht, an ihren Produkten mehr zu verdienen, bessere Preise zu erhalten und dadurch eine würdevolle Art der Unterstützung zu bekommen. Zumindest die Produkte aus den von uns geförderten Projekten, die man hier verkaufen kann, sollten für einen gerechten Preis verkauft werden. Das war der Gedanke, aus dem der Faire Handel entstand, eine Sache, für die wir uns alle sehr engagiert haben. Damit änderte sich auch das Selbstverständnis von Brot für die Welt. Bis dahin war es eine Hilfsorganisation, die Spenden sammelte und verteilte. Nun wurde daraus eine Organisation, die auch politisch arbeitete und aktiv Entwicklung vorantrieb.“