Es ist ein Anliegen der Orchestermitglieder während der Coronakrise und weltweiter Lockdowns mit Menschen und auch Ländern des globalen Südens in Verbindung zu bleiben.
Obwohl sich das Virus zunächst vor allem in den reichen Industrieländern verbreitet hat, sind davon besonders die Menschen in den ärmeren Regionen der Welt betroffen. Dort mangelt es häufig an gut ausgestatteten Krankenhäusern und medizinischen Fachkräften. Abstands- und Hygieneregeln sind aufgrund armer und beengter Lebensverhältnisse schwer umsetzbar. Wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie haben außerdem gravierende Ausmaße, denn Ausgangssperren und der Zusammenbruch lokaler Märkte bringen Millionen Tagelöhner, Händlerinnen und Kleinbauernfamilien in Bedrängnis. Ihnen stehen in der Regel keine staatlichen Sozialleistungen zur Verfügung.
Ulrike Stortz vom Stuttgarter Kammerorchester und ihre Musikkolleg*innen haben Kontakt aufgenommen zu Kindern aus den Armenvierteln der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. Die Slumkinder finden Schutz und Obhut in einer Tageseinrichtung des Brot für die Welt Projekts Ankur.
Von Ulrike Stortz, mitverantwortlich für das Education Programm des Stuttgarter Kammerorchesters „SKOhr-Labor“, wollen wir mehr über diese Initiative erfahren und haben Anfang Dezember mit ihr gesprochen:
Liebe Frau Stortz, Sie und Ihre Kolleg*innen vom Stuttgarter Kammerorchester engagieren sich mit einer besonderen Onlineaktion für die Kinder in Neu-Delhi. Was genau verbirgt sich hinter SKOhr und Ankur_Lab?
Das SKOhr-Labor hat sich in den letzten Jahren zu einer tragenden Säule der künstlerischen Bildungsarbeit des Kammerorchesters entwickelt. Hauptsächlich realisieren wir hier im Großraum Stuttgart Projekte, sind aber auch begleitend zu Auftritten des Orchesters in Baden-Württemberg und international unterwegs. Dabei geht es immer darum, gemeinsam mit den Beteiligten aktiv künstlerisch tätig zu werden. In dieser Saison sind wir z.B. in der JVA Adelsheim, um mit den jungen Gefangenen eine Rap-Oper zu entwickeln und dann auch gemeinsam aufzuführen.
Mit Ankur ist in der ersten Zeit des Lockdowns im Frühjahr 2020 ein intensiver Austausch von musikalischem und gesprochenen Material in Gang gekommen, der schließlich dazu führte, dass unser Bratschen-Kollege Iiro Rajakoski seine Fähigkeiten als Filmkünstler zum Einsatz brachte und die Geschichten der Kinder aus Delhi in einen musikalischen Kontext setzte. Das Ankur_Lab als Youtube Kanal haben wir eröffnet, um den entstandenen Videos einen angemessenen Rahmen zu geben.
Was verbindet Sie persönlich mit dem Projekt Ankur, haben Sie Kinder kennengelernt?
Bei unserer Indien-Tournee im Frühjahr 2019 haben wir spontan nach unserer Ankunft Ankur besucht. Wir haben in verschiedenen Häusern für die Kinder musiziert und von deren Schreibwerkstätten und Geschichten erfahren. Es waren viele offene und begeisterte Kinder dabei und wir haben mit Sharmila und Prabhat von Ankur Ideen skizziert, was wir bei unserem nächsten Besuch in diesem Stadtteil gemeinsam vorbereiten und realisieren könnten.
Wie kam es zur Idee, eine Nachricht an die Kinder zu schreiben?
Als ich die ersten Meldungen zum Shutdown in Indien hörte, musste ich sofort an unsere diversen Partner in Mumbai, Kolkatta, Bangalore und Neu-Delhi denken und so schrieb ich alle an und fragte, wie sie mit der Situation zurecht kämen. Zugleich bat ich meine Kolleg*innen, kleine musikalische Grußbotschaften aufzunehmen. Diese schickte ich dann weiter mit der Anregung, dass – wer mag - dazu tanzen, malen, dichten, träumen könne. Die Reaktionen waren allesamt sehr intensiv in all ihrer Unterschiedlichkeit.
Wie waren die Rückmeldungen aus Neu-Delhi? Was hat Sie besonders berührt?
Dass die Kinder aus Neu-Delhi tatsächlich ihre derzeitige Situation so offen in die Kamera erzählen würden, hatte ich überhaupt nicht erwartet. Dabei haben mich viele kleine Details aus den Schilderungen berührt, wie z.B. der Satz „The house is coming to bite us“ oder auch der Klang und Rhythmus in den Erzählungen.
Sehr besonders war die Entwicklung mit Aman, dem Tänzer, der erst einmal gar nicht selbst in Erscheinung trat, da er seine Geschichte einem anderen Jungen zum Sprechen übertragen hatte. Auf unsere Nachfrage hin bekamen wir einige prägnante Tanz-Videos auf indische Popmusik und schickten ihm daraufhin 3 Bartók-Duos, die er in kürzester Zeit vertanzt zurückschickte. Für eines der Stücke nahm er sich dann nochmals Zeit und suchte eine leerstehende Festhalle. Dass er sich so unmittelbar auf diese ihm sicher völlig fremde Musik einlassen konnte und dazu so passende Bewegungen gefunden hat, hat mich zutiefst gefreut.
Organisatorisch war das ja ein enormer Aufwand. Wie haben Sie das technisch umgesetzt? Gab es viele Hindernisse?
Es waren viele E-Mails, Telefonate, Überlegungen und Entscheidungen zu machen. Einen ganz enormen und unerwarteten Beitrag hat mein Kollege Iiro geleistet, in dem er die Musiker hier aufgenommen hat und dann das gesamte Material geordnet, geschnitten und untertitelt hat. Mit seinem feinen, musikalisch geschulten Ohr hat er die Zuordnung der englischen Texte zu dem gesprochenen Hindi weitgehend gut getroffen. Das Ganze war nur zu machen dadurch, dass in Stuttgart alle Beteiligten aus freien Stücken und ohne Entgelt ihre Kompetenzen und Zeit zur Verfügung gestellt haben, vielen Dank an dieser Stelle!
Wie werden die Videos geteilt, damit sie möglichst viele Menschen erreichen?
Das ist leider bislang sehr unzureichend gelungen, da unsere eigenen Plattformen nur in einem kleinen Kreis wirken und trotz der Hinweise durch Brot für die Welt und die Alliance for Childhood plus einer Übersetzung ins Portugiesische bisher nicht viele Aufrufe zu verzeichnen sind.
Was ist für die Zukunft geplant, wird es eine weitere musikalische Zusammenarbeit mit SKOhr und den Kindern geben?
Die große Hoffnung ist, dass wir mit dem Orchester eines Tages wieder reisen dürfen, dann wäre eine gemeinsame Konzert-Lesung in den Straßen Neu-Delhis auf alle Fälle auf dem Programm. Bis dahin sind wir im Austausch, ein weiterer Film mit etwas anderer Ausrichtung ist derzeit in Arbeit, aber die Arbeitssituation unserer Partner in Indien ist extrem beschwerlich, so dass ich keine zeitliche Prognose geben kann. Auch kann ich das ehrenamtliche Engagement meiner Kolleg*innen nicht endlos beanspruchen, aber wer weiß, was die kommenden Wochen und Monate bringen werden.
Vielen Dank für das Gespräch.