Das Ausmaß und die Schwere der COVID-19-Pandemie gefährden die öffentliche Gesundheit weltweit. Maßnahmen zur Eindämmung können Einschränkungen bestimmter Rechte rechtfertigen. Doch Menschenrechte dürfen nie einfach ausgesetzt werden. Der Staat darf nicht willkürlich und nicht mehr als unbedingt nötig Freiheitsrechte beschränken. Alle Maßnahmen müssen deshalb Menschenrechtsprinzipien wie Nichtdiskriminierung, Transparenz, Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und die Achtung der Menschenwürde beachten. Außerdem müssen die Maßnahmen eine rechtliche Grundlage haben, zeitlich begrenzt sein und laufend überprüft werden. Doch aus der ganzen Welt erreichen uns Berichte, dass diese Rechte und Prinzipien verletzt werden. Die Pandemie wird genutzt, um Menschenrechte und zivilgesellschaftliche Freiheiten bewusst einzuschränken.
Zensur, Einschüchterung und Verhaftungen von Journalist*innen und unabhängigen Medien
In vielen Ländern werden Journalist*innen wegen ihrer Berichte über die Pandemie und Reaktionen darauf bedroht, zensiert und verhaftet – mit dem Ziel, ihre Berichterstattung zu beeinflussen. Es wundert nicht, dass dies v.a. in den Ländern passiert, in denen Freiheitsrechte bereits seit Jahren massiv unterdrückt werden: In Aserbaidschan wurden im April mehrere Oppositionelle und Journalist*innen wegen angeblicher Verstöße gegen Lockdown-Maßnahmen zu Haftstrafen verurteilt. Wegen ihrer Beiträge über die Pandemie mussten mehrere Fernsehsender in Tansania Geldstrafen zahlen; mindestens einem Journalisten und einer Onlinezeitung wurden ihre Lizenzen für sechs Monate entzogen. Auch in der EU werden kritische Stimmen eingeschüchtert: In Ungarn hat die Regierung Orban im Rahmen des Notstandsgesetz neue Straftatbestände eingeführt. Wer verzerrte Tatsachen veröffentlicht, dem drohen bis zu fünf Jahren Haft - eine Definition, die zur Willkür einlädt. Denn sie kann weit ausgelegt werden. Die ersten Medienvertreter wurden bereits verhaftet. Ähnliche Strafen bei „Falschinformationen“ haben Ägypten und die Philippinen beschlossen.
Exzessive Gewalt bei Verstößen gegen den Lockdown und Versammlungen
Befugnisse der Polizei und der Sicherheitskräfte werden durch den Ausnahmezustand zu weit definiert und bewusst gegen Kritiker*innen oder marginalisierte Gruppen eingesetzt. Machtmissbrauch durch Polizei und Sicherheitskräfte gegen Personen, die sich nicht an die Ausgangssperre oder das Versammlungsverbot hielten, meldten auch Partner aus Südafrika, Kenia, Angola, Mosambik, Indien und den Philippinen. In diesen Ländern haben Polizei und Sicherheitskräfte Gummigeschosse gegen Demonstrant*innen eingesetzt, diese öffentlich gedemütigt, geschlagen oder in Käfige eingesperrt – oftmals ohne selbst Hygieneregeln einzuhalten.
Von Willkür besonders betroffen: Menschenrechtsverteidiger*innen und marginalisierte Gruppen
Die Maßnahmen gegen die Pandemie treffen Menschenrechtsverteidiger*innen in Ländern mit besonders viel Gewalt, wie z.B. Kolumbien, besonders hart: Schutzmaßnahmen wurden dort wegen der Pandemie ausgesetzt oder eingeschränkt. Wer seine Wohnung nicht verlassen kann, ist leichter auffindbar, wird leichter überfallen oder ermordet. Die Gewalt durch paramilitärische Gruppen ist rasant gestiegen, sie agieren scheinbar unkontrolliert. Allein in Kolumbien wurden dieses Jahr bis Mitte Mai laut der NGO INDEPAZ bereits 99 Menschenrechtsverteidiger*innen umgebracht. 2020 droht ein Rekordjahr zu werden. Menschenrechtsverteidiger*innen in Haft leiden wie der Rest der Gefangenen jetzt besonders unter entwürdigenden Haftbedingungen und sind dem Virus oft schutzlos ausgeliefert.
Unter dem Deckmantel, die Bevölkerung vor Covid-19 zu schützen, wird scheinbar gezielt gegen marginalisierte und benachteiligte Gruppen vorgegangen: Obdachlose, die sich gar nicht an Lockdown-Regeln halten können, werden weltweit weggesperrt. Uganda ließ als vorgebliche Maßnahme gegen die Pandemie Homosexuelle verhaften, Bulgarien Romadörfer abriegeln. Auch indigene Gruppen sind besonders betroffen: Durch Landnahmen und Abholzungen werden ihre Rückzugsgebiete immer kleiner. Als Tagelöhner in urbanen Slums sind sie dem Virus oft schutzlos ausgesetzt. Hilfen erreichen sie nicht oder sehr verspätet. Besonders hart trifft es auch Migrant*innen und Menschen auf der Flucht. In den deutschen Medien sehen wir meist nur die Bilder der Flüchtlinge im türkich-griechischen Grenzgebiet. Aber auch aus Lateinamerika erreichen uns Berichte über die schwierige Situation von gestrandeten Migrant*innen, die abgeschoben oder obdachlos werden und keinen Zugang zu Kliniken oder Ärzten haben. Sie sind wegen des Anstiegs der Xenophobie weltweit noch verwundbarer.
Ausufernde Überwachung und Verletzung der Privatsphäre
Durch die Pandemie werden Überwachungsbemühungen auf der ganzen Welt verstärkt sowie der Datenschutz und das Recht auf Privatsphäre zunehmend verletzt. Das schränkt mittel- und langfristig die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft immer mehr ein, sich zu engagieren. Und das, obwohl auch Überwachungsmaßnahmen als Reaktion auf die Pandemie eine gesetzliche Basis haben und notwendig, verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sein müssen. Dies ist in vielen Ländern nicht der Fall: In China werden Überwachungskameras auf den Straßen benutzt, um Personen, die Symptome zeigen, zu identifizieren und unter Quarantäne zu stellen. Damit werden aber auch Bürger*innen erfasst und beschämt, die sich ohne Gesichtsmaske im öffentlichen Raum bewegen. Um die meisten öffentlichen und privaten Einrichtungen (öffentlicher Nahverkehr, Geschäfte und Restaurants) nutzen zu dürfen, ist die Installation einer Gesundheits-App Bedingung. Diese berechnet für die Nutzer*in auf Basis ihres Bewegungsprofils und Gesundheitszustands eine individuelle Risikoklasse, aktuell an Covid erkrankt zu sein. Die armenische Regierung hat ihre Sicherheitsbehörden ermächtigt, auf Mobiltelefondaten von Infizierten zuzugreifen. Auf den Fidschi-Inseln veröffentlichte das Gesundheitsministerium Daten und Wohnadressen von Passagieren, die mit dem ersten bestätigten COVID-19-Patienten des Landes im selben Flugzeug saßen. Die Internet Freedom Foundation kritisiert auch die neue indische Gesundheitsapp Aarogya Setu, weil sie Datenschutz und Persönlichkeitsrechte verletzt. Einzelheiten über die Verwendung der Daten, wo und wie lange sie gespeichert werden und welche Regierungsstellen Zugang zu ihnen haben, sind bisher nicht bekannt.
Aus der Pandemie ist eine komplexe Krise geworden
Erschreckend ist auch, welche Auswirkungen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte haben: Millionen von Menschen wurde von einem Tag auf den anderen die wirtschaftliche Existenzgrundlage genommen. Die Rechte auf Nahrung, Bildung, Religion für Milliarden von Menschen sind unmittelbar betroffen und wir sehen, dass die Schwächsten und Verwundbarsten der Gesellschaft auch jetzt am meisten darunter leiden. Wie UN Generalsekretär Guterres warnte, bedroht die Pandemie nicht nur die Entwicklung weltweit, sondern erhöht Instabilität, verstärkt Unruhen und verschärft Konflikte. Und auch unsere Partnerorganisationen berichten: Weil sie oder andere zivilgesellschaftliche Akteure nicht vor Ort sein können, Kommunikation erschwert wird, die Transparenz abnimmt, Partizipationsmöglichkeiten und Einflussnahme wegfallen, passiert nun vieles im Verborgenen. Die Folge: die Risiken für Umweltzerstörungen, Abholzung von Regenwäldern und Landnahmen nehmen rasant zu. Aus der Pandemie und Gesundheitskrise entwickelt sich so immer mehr eine komplexe Krise, die nicht nur in Deutschland den Blick für bereits bestehende Ungerechtigkeiten öffnet. Egal, ob es die Versorgung von Obdachlosen, Flüchtlingen und Indigenen oder die Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen betrifft: Wie unter einem Vergrößerungsglas macht die Coronakrise Probleme und Dysfunktionalitäten sichtbar, die schon lange bestehen, die aber genauso lange vernachlässigt wurden – und die jetzt umso heftiger wirken.
Warum gerade jetzt die Zivilgesellschaft so wichtig ist
Gerade weil es sich um eine komplexe Krise handelt und die Gefahr der Diskriminierung hoch ist, ist das Engagement der Zivilgesellschaft im Moment wichtiger denn je: Zivilgesellschaftliche Organisationen leisten nicht nur unverzichtbare soziale Arbeit, z.B. in der Versorgung und Abfederung der negativen Auswirkungen der Krise. Weil es für solch komplexe Problemlagen wie die Covid-19 Pandemie keine Blaupausen gibt und schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen, ist es essentiell, dass sich unabhängige zivilgesellschaftliche Akteur*innen einbringen können: Um negative Auswirkungen und Menschenrechtsverletzungen von Maßnahmen anzuzeigen und Korrekturen anzumahnen, aber auch um die Stimmen der Benachteiligten in den öffentlichen Aushandlungsprozessen hörbar zu machen.