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Transit durch Mexiko

Gerold Schmidt ist freier Journalist und ehemalige Fachkraft von Brot für die Welt. Im Rahmen der Aktion gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen hat er einen Blick auf die gefährlichen Migrationsrouten durch Mexiko geworfen. Brot für die Welt-Partnerorganisationen berichten und engagieren sich für den Schutz und die Rechte von Migrant*innen und ihren Angehörigen.

 

Von Gastautoren am
Transit durch Mexiko

Haben Sie sie nicht gründlich satt, diese aufregenden Berichte? Sind Sie ihrer nicht vollständig überdrüssig, dieser spannenden Erzählungen von knapp überstandener Todesgefahr, von atemloser Flucht? (Ana Seghers, Transit)

Es war ein ganz anderer historischer Kontext, als die Schriftstellerin Ana Seghers 1941/42 im mexikanischen Exil ihren Roman Transit verfasste. Von den Nazis verfolgte Juden und politische Flüchtlinge versuchten verzweifelt, von der französischen Hafenstadt Marseille aus nach Amerika zu (ent)kommen. Erst über das Mittelmeer, dann weiter über die Atlantikroute. Das mexikanische Konsulat in Marseille mit Gilberto Bosques an der Spitze stellte mehreren zehntausend Menschen das für die Überfahrt notwendige Visum aus und ermöglichte die Aufnahme in Mexiko. Bosques guckte nicht weg. Er handelte. Für die Flüchtlinge war die Migration die so gut wie einzige Überlebenschance.

Eine zweifach bittere Ironie der Geschichte

Europa heute: Überwiegend afrikanische Migrant*innen und Flüchtlinge versuchen, über das Mittelmeer in die Länder der Europäischen Union zu kommen. In den vergangenen Jahren sind mehr als 15 000 ertrunken oder verschollen. Die EU-Staaten machen mit ihrer Politik der „sicheren Drittstaaten“ und Türsteheraufgaben, beispielsweise für die brutale libysche Küstenwache, den Weg über das Mittelmeer für Migrant*innen noch gefährlicher und beschwerlicher. Viele gucken einfach weg. Die historische Erinnerung ist kurz.

Mexiko heute: seit Jahrzehnten Transitland für Migrant*innen auf dem Weg in die USA. Vor allem für migrierende Menschen aus Zentralamerika. Aber auch Südamerika oder Haiti. Nicht zu vergessen die mexikanischen Migrant*innen, häufig aus den armen südlichen Bundesstaaten. Die Gefahren auf dem Transit sind vielfältig. Menschenhandel. Er impliziert unter anderem die faktische Versklavung von Migrant*innen für die Arbeit in Bergwerken, in Teilfertigungsbetrieben, in der Prostitution. Sexuelle Gewalt besonders gegen Frauen und Kinder. Hassverbrechen gegen migrierende Mitglieder der LGBTI-Community. Erpressung, Verschleppung und Entführung zu Lösegeldzwecken. Zwangsrekrutierung durch Drogenkartelle. Schikanen der oft mit dem organisierten Verbrechen verbündeten Polizei oder auch der Streitkräfte. Betrug durch die „Coyotes“, die Schleuser und Schlepper.

Freiwild

Die Migrant*innen sind auf ihrem Weg durch Mexiko eine Art Freiwild. Wer sich wehrt, riskiert sein Leben. Das schrecklichste Beispiel dafür ist wohl bis heute das Massaker von San Fernando im August 2010 im nördlichen mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas: Das Drogenkartell Los Zetas ermordete damals 58 Männer und 14 Frauen. Migrant*innen, die aus Honduras, El Salvador, Guatemala, Ecuador und Brasilien kamen. Bis heute sind nicht alle Opfer identifiziert. Sie waren nicht in der Lage gewesen, Lösegeld aufzubringen bzw. nicht bereit, für das Kartell zu arbeiten.

Wer es überhaupt bis an die Nordgrenze mit den USA schafft, dem droht das Verdursten in den Wüstenregionen im Grenzgebiet. Oder das Ertrinken im Grenzfluss Río Bravo (in den USA heißt er Río Grande). Im Juni 2019 führte die neue mexikanische Regierung in ihrer Migrationspolitik auf Druck der Trump-Regierung eine Kehrtwende um 180 Grad durch. Statt vorsichtiger Ansätze einer humaneren Migrationspolitik bei ihrem Amtsantritt im Dezember 2018 setzt sie jetzt auf Deportation und Absperrung der Südgrenze mit Guatemala. Es ist eine faktische Verschiebung von Trumps Mauer um 2000 Kilometer nach Süden. Das Transitland verschließt sich nun der über Zentralamerika kommenden Migration. Versucht es zumindest.

„Billigende Inkaufnahme“ des Verschwindenlassens

Dies ist der Kontext, in dem seit Anfang des Jahrtausends zehntausende Migrant*innen in Mexiko verschwunden sind. Möglicherweise auch weit über Hunderttausend. Nur in wenigen Fällen wird ihr Schicksal aufgeklärt. Nur wenige tauchen lebend wieder auf. Bei jedem Verschwinden muss bis zum Beweis des Gegenteils grundsätzlich angenommen werden, dass es nicht freiwillig geschieht. Das „gewaltsame Verschwinden“ oder das „Verschwindenlassen“ wird in einer UNO-Konvention definiert. Darunter wird „die Festnahme, Haft, Entführung oder jede andere Form von Freiheitsentzug durch Bedienstete des Staates, durch eine Person oder durch Personengruppen verstanden, die mit der Erlaubnis, Unterstützung oder Duldung (billigende Inkaufnahme) des Staates handeln, gefolgt von der Weigerung, die Freiheitsberaubung zu bestätigen, oder von einer Verschleierung des Schicksals oder des Aufenthaltsortes der verschwundenen Person, wodurch sie dem Schutz des Gesetzes entzogen wird“ (Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, Artikel 2). Die aktive Beteiligung staatlicher Stellen wie Polizei und Streitkräfte am Verschwindenlassen ist in Mexiko mehrfach nachgewiesen werden. Doch viel eindeutiger ist die billigende Inkaufnahme dieses Verbrechens aufgrund des verbreiteten Nichtstuns sowie unterlassener Schutzmaßnahmen des mexikanischen Staates. Nach wie vor bleiben in Mexiko über 90 Prozent aller Verbrechen straffrei. Bei Delikten gegenüber Migrant*innen sind es 99 Prozent. Geradezu „eine Erlaubnis“, wie es die Anwältin Ana Lorena Delgadillo von der in Mexiko ansässigen Partnerorganisation von Brot für die Welt Stiftung für Gerechtigkeit und demokratische Rechtsstaatlichkeit (FJEDD) bezeichnet. Sichere Straflosigkeit begünstigt es, die Rechte der migrierenden Personen mit den Füßen zu treten und ihr Leben zu missachten.

„Nicht ohne sie“ - Familienangehörige suchen die verschwundenen Migrant*innen

Auch wenn der mexikanische Staat lieber wegschauen will: Die Familienangehörigen der verschwundenen Migrant*innen können und wollen das nicht. Sie haben sich in den letzten Jahren zentralamerika- und mexikoweit organisiert. Mit Unterstützung verschiedener Nicht-Regierungsorganisationen – viele davon Partnerorganisationen von Brot für die Welt – machen sie sich selbst auf die Suche nach Aufklärung. Sie drängen die staatlichen Stellen in Mexiko, aber auch in Zentralamerika, ihrer Verantwortung zumindest ansatzweise gerecht zu werden. Die Jahr für Jahr drei Wochen durch Mexiko ziehende Karawane der zentralamerikanischen Mütter, das Komitee der Familienangehörigen Verschwundener Migrant*innen aus El Salvador (COFAMIDE), das Pendant in Honduras (Brot für die Welt-Partnerorganisation COFAMIPRO) und viele andere Gruppen von Familienangehörigen verschwundener Migrant*innen haben eine Prämisse: Sie suchen nach Lebenden. Leitsprüche wie „Nicht ohne sie“, „Lebend ging er weg, lebend will ich ihn wiedersehen“, „Wir weigern uns, sie zu vergessen“, geben dieser Hoffnung Ausdruck. Immer wieder gibt es kleine Erfolgsmeldungen. Der Karawane der Mütter gelang es beispielsweise, in 15 Jahren etwa 300 verschwundene Migrant*innen lebend in Mexiko aufzuspüren. Doch die Familienangehörigen wissen auch: Sie müssen mit dem Schlimmsten rechnen. In Reportagen und Interviews wird immer wieder „der letzte Anruf“ erwähnt, nachdem jeglicher Kontakt abbrach. In der Regel erwähnen die Migrant*innen während des Transits bei ihren Anrufen den Bundesstaat, in dem sie sich gerade befinden. Doch selten den genauen Aufenthaltsort. Das macht die Suche noch schwieriger.

Die Identifizierung verschwundener Migrant*innen

Seit 2006 sind in Mexiko knapp 4000 geheime Gräber gefunden worden. Fast ein Drittel davon seit Dezember 2018. Manchmal sind es Einzelgräber. Manchmal Massengräber. In diesen Gräbern liegen die Opfer des organisierten Verbrechens. Die Migrant*innen machen einen Teil dieser Opfer aus. Die entscheidenden Hinweise liefern oft die lokalen Suchkollektive, nicht die Ermittlungsbehörden. Bei vielen Leichenfunden deuten Merkmale auf die mittelamerikanische Herkunft der Opfer hin: bestimmte Tattoos, bestimmte Kleiderreste, manchmal eine bestimmte Physiognomie.

Ein Versuch, die Identität dieser Menschen aufzuklären, wurde schon 2009 vom renommierten Argentinischen Team für Forensische Anthropologie (EAAF) unter dem Namen „Grenzprojekt“ angestoßen. Das Vorhaben will einen konstanten regionalen Austausch forensischer Information im Transitkorridor Zentralamerika, Mexiko und USA aufbauen. Wesentlicher Bestandteil sind Datenbanken, die umfassende Angaben über die verschwundenen Migrant*innen sowie DNA-Proben von deren Familienangehörigen beinhalten. Die DNA gefundener sterblicher Überreste wird mit den DNA-Proben der Datenbanken verglichen. Am Grenzprojekt sind verschiedene zentralamerikanische und mexikanische Regierungsstellen und Ermittlungsbehörden, Nicht-Regierungsorganisationen, Komitees von Familienangehörigen Verschwundener sowie forensische Einrichtungen beteiligt. Aus den EAAF-Informationen lässt sich herauslesen: Gerade eine kontinuierliche und umfassende Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen in der gesamten Region stößt immer wieder an ihre Grenzen. In diesem Zusammenhang ist auch der Mechanismus für Unterstützung im Ausland bei der Suche und Ermittlung (MAE) zu nennen, welcher unter anderem von Brot für die Welt-Partnerorganisationen ins Leben gerufen wurde. Zentralamerikanische Familienangehörige können danach Vermisstenanzeigen in einigen mexikanischen Konsulaten in Zentralamerika erstatten. Das erspart aufwändige und beschwerliche Reisen nach Mexiko. Doch der Mechanismus funktioniert bisher nur bedingt. Die migrierenden Personen verschwinden nicht nur physisch. Sie verschwinden auch in Akten und bürokratischen Abläufen.

Für die suchenden Familienangehörigen beantwortet die Gewissheit über den Tod der Verschwundenen nicht das Ende ihrer Fragen. Wie genau ist die geliebte Person umgekommen? Wie hätte ihr Tod vielleicht vermieden werden können? Dazu kommen oft Selbstvorwürfe. Es bleibt die Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit, auf eine Art von Wiedergutmachung, um den Seelenfrieden finden zu können. Viel mehr noch gilt dies für die Vielzahl von Familienangehörigen, deren jahrelange Suche ergebnislos verläuft. Die weiterhin in der Unsicherheit leben müssen, ob ihr Angehöriger den Transit überlebt hat oder nicht. Eine Situation, die die zurückgebliebene Familie schwersten Belastungen aussetzt. Es ist ein Schmerz, der Tag für Tag zehrt.

Schlechte Aussichten

Was müsste sich ändern, damit das Leben der Migrant*innen auf ihrem Weg durch Mexiko besser geschützt wird? Die scheinbar naheliegende Antwort sind bessere Lebensbedingungen in den Herkunftsländern und -regionen. Dann könnten Migration und menschliche Mobilität ein wirkliches Recht sein, keine Notwendigkeit. Doch absehbar ist das nicht. Selbst bei einer für die nahe Zukunft unwahrscheinlichen wirtschaftlichen Erholung in Zentralamerika. Denn die Gewalt im aus Guatemala, Honduras und El Salvador gebildeten zentralamerikanischen „Nord-Dreieck“ wird weiterhin ein Motiv für die Migration sein. Zudem müsste die breite Bevölkerung von besseren ökonomischen Bedingungen profitieren. Dies scheint nicht auf der Prioritätenliste der aktuellen Regierungen zu stehen. Dazu kommt die angespannte politische Situation in Nicaragua.

In Mexiko wären durchgreifende Erfolge gegen die Korruption und Straflosigkeit ein erster notwendiger Schritt. Wie es zum Beispiel COFAMIDE knapp fordert: Fälle müssen so untersucht werden, wie man Fälle untersuchen muss. Die Kluft zwischen Gesetzestexten, Vereinbarungen und Aufgaben offizieller Instanzen sowie der Realität ist groß. Einrichtungen wie die prinzipiell auch für die Angehörigen verschwundener Migrant*innen wichtige Kommission zur Opferbetreuung (CEAV) oder die offiziellen Suchkommissionen auf Bundes- und Bundesstaatenebene sind ein Beispiel dafür. Die finanziellen Mittel sind unzureichend. Noch schwerwiegender ist die häufig fehlende Bereitschaft, respektvoll mit Organisationen von Familienangehörigen Verschwundener umzugehen sowie Nachforschungen über die Schreibtischarbeit hinaus zu veranlassen.

Anstrengungen der organisierten Zivilgesellschaft

Es gibt eine Menge Initiativen der organisierten Zivilgesellschaft, das Risiko für die Migrant*innen zumindest etwas zu verringern. Dazu gehört es, diese vor Beginn des Transits zu informieren. Migrant*innen müssen ein realistisches Bild von den Risiken haben, die sie auf ihrem Transit erwarten. Sie müssen ihre Rechte kennen und Ansprechpartner auf ihrem Weg haben. Im Netzwerk REDODEM haben sich beispielsweise Migrant*innenherbergen, Volksküchen, und Beratungsstellen zusammengeschlossen. Über 13 mexikanische Bundesstaaten verteilt sind sie enorm wichtige Anlaufstationen für die migrierenden Personen. Die Träger sind vielfach kirchlich. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Kontext auch der Jesuitische Dienst an Migrant*innen mit Ansprechstellen in den zentralamerikanischen Ländern und Mexiko.

Unter den verschiedenen Organisationen und Initiativen, die in Mexiko und Zentralamerika mit Migrant*innen arbeiten, herrscht weitgehende Einigkeit: Nach Covid wird die Migration Richtung USA wieder vehement ansteigen. Diejenigen Migrant*innen, die derzeit in Mittelamerika und Mexiko festsitzen, werden ihren Weg fortsetzen. Eine verschlechterte wirtschaftliche Situation in Zentralamerika und Mexiko könnte Antrieb für zusätzliche Migration sein. Unter den bestehenden Rahmenbedingungen scheint so gut wie sicher: Viele Migrant*innen werden weiterhin Opfer des Verschwindenlassens sein. Wer wird der Berichte darüber überdrüssig und wegschauen? Wer wird aktiv etwas dagegen tun?

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Aktion gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen

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