Verschwindenlassen, eine vergangene Praxis unter Militärdiktaturen?
Migrant*innen sind der Praxis von Verschwindenlassen besonders schutzlos ausgeliefert. Ana Lorena Delgadillo, die Direktorin der Fundación para la Justicia y el Estado Democrático de Derecho FJEDD sagt hier klar: Migrant*innen verschwinden, weil man es machen kann, d.h., dass staatliche Institutionen entweder selbst in entsprechende Taten verwickelt sind oder diese billigend in Kauf nehmen. Der Staat nimmt seine Verpflichtung zum Schutz der Migrant*innen nicht wahr.
Das Verschwindenlassen von Personen in Zentralamerika ist kein neues Phänomen. Insbesondere zur Zeit der Bürgerkriege, wie in El Salvador von 1979 bis 1992, verschwanden tausende Personen, deren Verbleib zum Großteil bis heute ungeklärt ist. Die bis heute nicht aufgearbeiteten Verbrechen haben zu einer Normalisierung der Straflosigkeit beigetragen. Bis heute haben die Familienangehörigen keine Informationen über den Verbleib der Opfer. Claudia Interiano, die regionale Koordinatorin der FJEDD in Zentralamerika, sieht in der anhaltenden Straflosigkeit die Verbindung zwischen den während des Bürgerkrieges begangenen Verbrechen und den aktuellen Fällen von Verschwindenlassen von Migrant*innen.
Verschwindenlassen ist ein anhaltendes Verbrechen, welches jeden Tag aufs Neue erlebt wird
Verschwindenlassen ist ein Verbrechen, welches jeden Tag aufs Neue erlebt wird und jeden Tag aufs Neue einen Zwiespalt in den Familienangehörigen auslöst. Die Suche aufzugeben, bedeutet den möglichen Tod des oder der Angehörigen anzunehmen. Das wäre ein Verrat an der verschwundenen Person. Gleichzeitig kostet es viel Kraft, den Aufenthaltsort und die Umstände des Verschwindenlassens in Erfahrung bringen zu wollen. Diese Ungewissheit und die zermürbende Suche hinterlassen gesundheitliche Spuren, sowohl psychische als auch physische. Sandybell Reyes von Voces Mesoamericanas und Judith Erazo von ECAP geben in ihren Interviews mit Gerold Schmidt einen eindrücklichen Einblick in die psychosoziale Betreuung der Angehörigen und die Begleitung ihrer Suche. Beide sind Vertreterinnen von Partnerorganisationen von BfdW in Südmexiko und Guatemala. Sie betreuen Migrant*innen und leisten psychosoziale Begleitarbeit.
Forderung nach Gerechtigkeit und der Umsetzung internationaler Normen
Ein wichtiger Antrieb für die Angehörigen, in ihrer Suche fortzufahren, Gerechtigkeit und Wahrheit zu fordern, ist nicht nur der allgegenwärtige Leitspruch “Vivos se los llevaron, vivos los queremos!” (Lebend wurden sie uns entrissen, lebend wollen wir sie zurück!), sondern auch der Gedanke daran, dass Tag für Tag neuen Familien dasselbe Schicksal widerfährt. Dies wurde besonders deutlich in der Pressekonferenz des Movimiento por nuestros Desaparecidos en Méxiko, einem Zusammenschluss von Familienangehörigen Verschwundener in Mexiko anlässlich des Internationalen Tages der Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens am 30.08. Das Netzwerk wird von BfdW-Partnerorganisationen begleitet.
Ohne Gewissheit über das Geschehene, einen Todestag oder ein Grab, um den Angehörigen zu gedenken, ist die Begehung des Internationalen Tages der Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens ein wichtiges Zeichen der Forderung nach Gerechtigkeit. Regelmäßig fordern Partnerorganisationen wie FESPAD, Cristosal und FJEDD in El Salvador vom Parlament die offizielle Anerkennung des Tages der Opfer von Verschwindenlassen. Gleichzeitig fordern sie die Ratifizierung internationaler Konventionen wie der UN-Konvention gegen Verschwindenlassen sowie der entsprechenden interamerikanischen Konvention und die Umsetzung entsprechender internationaler Normen.
Weitere Beiträge im Rahmen der Aktion zum Schutz von Migrant*innen vor dem Verschwindenlassen
Im Rahmen der Aktion zum Schutz von Migrant*innen vor dem Verschwindenlassen, die von einer Koalition zivilgesellschaftlicher Organisationen – u.a. BfdW – angestoßen wurde, sind die im Text angesprochenen Interviews und Zeugnisse von Experten*innen und Familienangehörigen aus Mexiko und Zentralamerika veröffentlicht. Neben den Interviews mit Ana Lorena Delgadillo und Claudia Interiano von der Fundación para la Justicia sowie Sandybell Reyes (Voces Mesoamericanas) und Judith Erazo (ECAP) wurden Interviews mit Silke Pfeiffer (Leiterin Referat Menschenrechte BfdW), Barbara Lochbihler (Mitglied im UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen), Zeugnisse und Forderungen von Familienangehörigen sowie unterschiedliche Hintergrundartikel zum Thema veröffentlicht. Jeremy Seedorf analysiert die besonderen Auswirkungen auf Frauen. Vinicio Sandoval (GMIES), Direktor einer Partnerorganisation aus El Salvador, stellt die Entwicklung der Migrationspolitik der USA und Mexiko in den Fokus. Silke Pfeiffer und Barbara Lochbihler verdeutlichen die Mitverantwortung der Zielländer wie der USA, Mexiko und der Länder der EU durch die Verschärfung und Militarisierung ihrer Migrationspolitiken. Alle Beiträge werden in den nächsten Tagen auf https://gewaltsames-verschwindenlassen.de/ veröffentlicht oder sind bereits dort zu finden.