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Verwaister Friedensprozess in Kolumbien

Anfang Dezember veröffentlichte INDEPAZ, das kolumbianische Institut für Entwicklung und Frieden, die Zahl von 80 Massakern im Jahr 2020. Ein Ausmaß wie zuletzt 2012 – vier Jahre vor Abschluss des Friedensvertrages.

Eine besonders betroffene Region ist die Provinz Cauca mit allein 13 Massakern - das letzte Anfang Dezember.

Von Gastautoren am
Die Guardia Indígena

ACIN: „Guardia Indígena“ - Kontrolle des eigenen Territoriums

Indigene Gemeinden unter Beschuss

Der Journalist Gerold Schmidt sprach mit Eduin Mauricio Capaz Lectamo, Koordinator des Menschenrechtsbereiches der „Vereinigung Indigener Räte im Norden der Provinz Cauca“ (ACIN). ACIN ist Partnerorganisation von Brot für die Welt. Sein Bereich betreut die 22 indigenen Territorien, die Mitglieder in der ACIN sind. Lectamo sieht seine Aufgabe als Mandat der indigenen Gemeinden, das Leben und die Menschenrechte zu schützen. Im Oktober 2020 erhielt die von ACIN mitbegründete „Guardia Indígena“ der Region den Menschenrechtspreis von Frontline Defenders.

Gerold Schmidt (G.S): Im Oktober marschierten unter dem Namen „Minga Indígena“ zusammengeschlossene indigene Gemeinden aus der Provinz Cauca in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá. Warum?

Eduin Lectamo: Wir sehen große Rückschritte im Land, was die Menschenrechte, das Recht auf Leben, die Umweltproblematik, die Demokratie, Justiz und Frieden anbelangt. Die Minga bringt verschiedene soziale Bewegungen zusammen. Nicht nur die der Indígenas, sondern auch die der Student*innen, der Bäuer*innen, der Afrokolumbianer*innen. Auf dem Weg nach Bogotá trafen wir vielen von ihnen. Urbane und ländliche Bewegungen versuchen, sich anzunähern. Die Minga hat gezeigt, dass es möglich ist, zwei Kontexte zusammenzubringen. Das könnte interessant für die Zukunft sein. Wir forderten zudem Präsident Iván Duque zu einem Treffen auf, um mit ihm die Situation des Landes zu debattieren. Das scheiterte. Schon als Kandidat hat Duque so gehandelt. In allen Städten, in denen wir Versammlungen abhielten, war stets ein unbesetzter Stuhl für ihn dabei.

G.S.: Wie macht sich der Rückschritt bei den Menschenrechten bemerkbar?

Eduin Lectamo: Ich beschreibe die Situation im ländlichen Norden der Cauca-Region. Die Region spiegelt aber die Situation im Rest des Landes wider. Das Friedensabkommen 2016 wurde als Ausweg aus dem Gewaltzyklus gesehen, mit all seinen Mängeln war es der beste Lösungsansatz. Mehr oder weniger ein Jahr lang bedeutete er die Rückkehr zur Ruhe in den ländlichen Gebieten. Das war vielversprechend. Doch der Staat tat nichts zur Umsetzung des Abkommens. Der Friedensprozess verwaiste. Das führte zu Vakuen, die sich zahlreiche gewalttätige Gruppierungen in den ländlichen Territorien zunutze machten. Morde an indigenen Führungspersönlichkeiten, Menschenrechtsverteidiger*innen, waren die Folge. Die Zahl der Attentate stieg und steigt weiter. Heute haben wir in der Region sechs oder sieben bewaffnete Akteure ohne Struktur, mit flachen oder nicht vorhandenen Hierarchien. Ohne Befehlshaber, ohne Bildung, ohne Ausbildung. Sehr junge, absolut kriminell geprägte Leute. Die Gewalt hat die indigenen Gemeinden und besonders die indigenen Bewegungen in den vergangenen Jahren direkt und heftig getroffen.

G.S.: Welche Rolle spielen in dem Gewaltkontext die offiziellen Sicherheitskräfte?

Eduin Lectamo: Vergangene Untersuchungen haben gezeigt, dass die Militärkräfte bei der Gewaltanwendung gegen indigene Gemeinden oft nicht eingeschritten sind oder sich sogar daran beteiligt haben. Das schließt Allianzen mit anderen bewaffneten Akteuren in den Territorien ein. Die Landgemeinden haben kein Vertrauen in die bewaffneten staatlichen Institutionen – zu recht. Viele Gewaltfälle werden im Rahmen der Militärgerichtsbarkeit verhandelt und verlaufen dort ohne strafrechtliche Konsequenzen im Sande.

G.S.: Wie wehren sich die indigenen Gemeinden?

Eduin Lectamo: Sie wollen sich behaupten. Die Alternative wäre, die Territorien zu verlassen. Das ist das Letzte, an das die Gemeinden denken. Gewalt ist eine Strategie, Territorien zu plündern und sich ihrer zu bemächtigen. Viele dieser Territorien mit sozialer Organisation versuchen friedlich, ohne Waffen, Widerstand zu leisten. Viele hat das ihr Leben gekostet.

Wir haben unsere Wache, unsere Guardia Indígena. Sie ist ein überlieferter, ziviler Schutzmechanismus ohne Waffen. Die Stärke der Guardia liegt in der enormen Legitimität bei zahlreichen Gemeinden. Die Guardia vermeidet, Partei für eine der bewaffneten Gruppen zu ergreifen. Aber sie bittet diese entschlossen, die indigenen Territorien in Frieden zu lassen. Leider ist der Preis dafür sehr hoch gewesen. Dutzende Wachen sind in den letzten Jahren ermordet worden. Im nördlichen Cauca sind wir etwa 2 300 Mitglieder, davon 1 300 Frauen. Junge Frauen und Männer machen 60 Prozent der Guardia aus. Unsere Arbeit ist auch international anerkannt worden. Das gibt uns mehr Sichtbarkeit und etwas Rückendeckung.

G.S.: Wie gehen die indigenen Gemeinden in diesem schwierigen Gesamtkontext mit der Covid-19-Pandemie um?

Eduin Lectamo: Im Vergleich mit anderen Provinzen hat Cauca bisher eine recht niedrige Infektionsrate. In den ersten vier oder fünf Monaten isolierten sich die Gemeinden völlig, schlossen ihre Zugänge, legten strenge Protokolle an. Wir haben eine Kombination uralten indigenen Wissens und der Schulmedizin genutzt. Die Minga hat dann die im Territorium etablierten Kontrollen für den Gesundheitsschutz auf den Marsch mitgenommen.

 

"Das ausführliche Interview mit Eduin Lectamo erscheint in der kommenden Ausgabe (Januar/Februar 2020) der Lateinamerika-Zeitschrift ila." Ansprechpartner Wolfgang Seiss

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