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Wo sind sie? Die Suche nach Verschwundenen

Mehr als 200.000 Personen sind allein in Lateinamerika verschwunden. Länder wie Kolumbien und Mexiko haben Institutionen für die Suche nach verschwundenen Personen ins Leben gerufen. Angesichts der weltweiten Migration müssen bisherige Ansätze jedoch überdacht werden. Am 14. Juli diskutierten staatliche und zivilgesellschaftliche Vertreter*innen aus Mexiko, Kolumbien und Deutschland.

Von Jula Munz am
Flyer

Hinter jeder Zahl stecken Namen und Schicksale

Menschen verschwinden zu lassen ist eines der grausamsten Mittel, Macht und Kontrolle auszuüben. Es verbreitet Angst und Schrecken und zermürbt die Familienangehörigen, die oft jahrzehntelang vergeblich nach ihren Liebsten suchen. Verschwindenlassen findet in unterschiedlichen Kontexten und aus verschiedenen Motiven statt, berichtet Luz Marina Monzón, Leiterin der kolumbianischen staatlichen Einheit zur Suche nach als verschwunden gemeldeten Personen. In Kolumbien beispielsweise verschwanden und verschwinden Mitglieder der politischen Opposition, aber auch Personen, die sich z.B. im Rahmen von Großprojekten für ihre Rechte einsetzen. Dazu gehören soziale Anführer*innen, Gewerkschafter*innen, Umweltaktivist*innen oder Kleinbäuer*innen. Im Kontext des bewaffneten Konflikts in Kolumbien findet gewaltsames Verschwindenlassen auch im Rahmen von Entführungen oder Zwangsrekrutierung statt. Die Täter sind staatliche und private Akteure wie die organisierte Kriminalität.

Das Recht gesucht zu werden und die Pflicht der Staaten zu suchen

In allen Fällen trägt der Staat die Verantwortung für die Suche nach verschwundenen Personen sowie für die Aufklärung und Strafverfolgung. In Mexiko ist im Jahr 2017 ein Gesetz in Kraft getreten, welches unter anderem die Einrichtung einer Suchkommission vorsieht. Diese sammelt, verarbeitet und analysiert relevante Informationen. Jüngst veröffentlichte die mexikanische Regierung aktuelle Zahlen. In Mexiko ist von mehr als 73.200 Fällen die Rede, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. 97% der gemeldeten Fälle ereigneten sich nach 2007, erzählt Karla Quintana, Beauftragte der Nationalen Suchkommission in Mexiko. Lediglich in 24 Fällen kam es bisher zu Verurteilungen. Der Aufbau und die Pflege einheitlicher Datenbanken ist wichtig. Die Privatsphäre und der Schutz der Familienangehörigen müssen jedoch gewährleistet werden. Zugleich sollten die Daten aber auch möglichst transparent und zugänglich sein, damit sich die gesamte Gesellschaft an der Suche beteiligen kann.

Die Sucheinheit in Kolumbien wurde als Teil des Friedensabkommens mit der Guerilla-Gruppe FARC im Jahr 2016 geschaffen. Bis 2016 sind mehr als 100.000 Fälle registriert worden. In den letzten Jahren ist jedoch eine Vielzahl neuer Fälle hinzugekommen. Dass es in Kolumbien ein umfassendes System zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen im Rahmen des Gewaltkonflikts überhaupt gibt, ist den jahrzehntelangen Kämpfen der Familienangehörigen und dem Einsatz zivilgesellschaftlicher Organisationen und Netzwerke zu verdanken, ergänzt Adriana Arboleda Betancur. Sie ist Vertreterin der Brot für die Welt-Partnerorganisation Corporación Jurídica Libertad in Kolumbien, die sich für die Familienangehörigen und ihre Rechte einsetzt.

Die Corona-Pandemie erschwert die Suche

Die Herausforderungen bei der Suche sind enorm. In Kolumbien werden Friedhöfe schlecht verwaltet und die Fälle unzureichend dokumentiert. Zu den nicht-identifizierten Körpern kommen derzeit die Körper von Personen, die mit und an dem Corona-Virus gestorben sind. Des Weiteren wird aufgrund der Ausgangssperre die Suche im Feld verhindert und es den Tätern erleichtert, die Spuren des Verbrechens zu verwischen. Dies belastet Familienangehörige sehr. Sie fordern deshalb den Schutz von Orten, wo verschwundene Personen gefunden wurden oder vermutet werden, darunter auch Flüsse und Gewässer. Es dürfe aber nicht bei der Suche nach Verschwundenen, den Lebenden und Toten, bleiben. Es muss auch zur Aufklärung und Verurteilung kommen, fordert Adriana Arboleda Betancur. Nicht zuletzt trägt Straflosigkeit dazu bei, dass Verbrechen weiterhin stattfinden.

Globale Migrations- und Fluchtbewegungen erfordern neue Ansätze

Für Migrant*innen ist das Risiko auf ihren Flucht- und Migrationsrouten zu verschwinden oder ums Leben zu kommen groß. Die Dramen an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze oder im Mittelmeerraum sind sicherlich die bekanntesten aber nicht einzigen, erklärt Rainer Huhle, Mitglied des Nürnberger Menschenrechtszentrums und ehemaliges Mitglied des UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen. In diesem Kontext verschwimmen bisherige Konzeptionen von gewaltsamem Verschwindenlassen, Flucht, Migration und Verschwinden ohne staatliches Zutun wie im Fall von Naturkatastrophen. Die Suche nach verschwundenen Migrant*innen und Geflüchteten über nationale Grenzen und Kontinente hinweg erfordert die Koordination und Aktion mehrerer Staaten. Die gemeinsame Verantwortung wird jedoch gerne an andere Länder weitergegeben, kritisiert Rainer Huhle. Als positives Beispiel ist die Arbeit der italienischen Gerichtsmedizinerin Cristina Cattaneo zu nennen. Mit Unterstützung des Staates, Familienangehöriger und internationaler Expert*innen konnten ca. 500 von vermutlich 1100 Geflüchteten, die bei einem Schiffsunglück im Mittelmeer ums Leben kamen, geborgen und zu einem guten Teil identifiziert werden. Noch gibt es keine Suchkommission, an die sich Angehörige wenden können.

Die Partizipation der Familienangehörigen gewährleisten

Die Herausforderungen sind groß, von der Straflosigkeit über die Verquickung von staatlichen und kriminellen Akteuren, die Überlagerung vielfacher Menschenrechtsverletzungen bis hin zu den globalen Migrationsbewegungen. Eins steht jedoch fest: Es braucht Gewissheit, wo und wer die Verschwunden sind. Die Familienangehörigen als Opfer des Verschwindenlassens müssen in ihren Rechten gestärkt und in alle Prozesse einbezogen werden. Die Vernetzung verschiedener Akteure und Einheiten auf lokaler, nationaler, regionaler und internationaler Ebene ist wichtig, denn nur so kann es auch Erfolge geben.

Die Veranstaltung wurde organisiert vom Deutsch-Kolumbianischen Friedensinstitut - CAPAZ in Zusammenarbeit mit Brot für die Welt, dem Center for Advanced Latin American Studies (CALAS), der Heinrich-Böll-Stiftung Kolumbien und Mexiko und kolko – Menschenrechte für Kolumbien.

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