Kritik an ungezügelter Globalisierung: Das 14. Weltsozialforum findet vom 23. bis 31. Januar 2021 virtuell statt. Francisco Marí, Referent für Welternährung, Agrarhandel und Meerespolitik bei Brot für die Welt, blickt im Gespräch mit Renate Vacker zurück.
Vor 20 Jahren, 2001 kamen etwa 12.000 Menschen aus allen Kontinenten zum ersten Weltsozialforum (WSF) in Porto Alegre/ Brasilien zusammen. Was war die Idee dahinter?
Marí: In den 10 Jahren nach dem Mauerfall von Berlin hatte die mit einer ungezügelten Globalisierung einhergehende Entfesselung der Finanzmärkte eine so zerstörerische Dimension angenommen, dass innerhalb von Minuten ganze Volkswirtschaften durch Währungsspekulationen in die Knie gezwungen wurden. 1997 standen vor allem asiatische Staaten kurz vor dem Staatsbankrott. Auch in Europa und den USA brach die Aktienblase der aufkommenden IT-Konzerne um das Jahr 2000 zusammen, in Deutschland symbolisiert am Kursverfall der Volksaktie der Telekom. Auf der anderen Seite nahmen die Kritik und der Widerstand gegen eine Globalisierung der Profite zu. Sie entbrannten vor allem an den jährlichen Treffen des Weltwirtschaftsforums in Davos, wo Konzerne mit Politikern über die nächsten Gewinnquellen sprachen.
Gegenpol zum Weltwirtschaftsforum Davos
Zum Symbol des Widerstandes gegen eine entfesselte Globalisierung wurden die Aktionen gegen die WTO-Tagung in Seattle 1999, die deswegen auch abgebrochen wurde. In dieser Situation, in der sich die Schere zwischen arm und reich rasant schnell öffnete und Millionen von Menschen überall in noch größere wirtschaftliche Not zu stürzen drohte, kam es in Brasilien zu einem Bündnis gewerkschaftlicher Gruppen und sozialer Bewegungen. Es rief dazu auf, auch auf globaler Ebene die Gegenkräfte sichtbar zu vereinen - sozusagen zu einem Gegen-Davos zusammenzukommen. Schon lange verbunden mit brasilianischen Partnern, war der Evangelische Entwicklungsdienst, später mit Brot für die Welt fusioniert, bereit, den Gründungsaufruf für das dann Weltsozialforum genannte Treffen in Porto Alegre 2001 mitzutragen.
Das WSF ist sehr offen organisiert, manche sagen eher unverbindlich. Hat sich dieses Format bewährt?
Marí: Dies ist aktuell wieder mal umstritten. Die Charta des WSF lässt es nicht zu, dass Mehrheitsbeschlüsse gefasst werden, auch nicht im Internationalen Rat von Organisationen, der zwischen den Foren tagt. Die Ausnahme bilden Konsensbeschlüssen zum WSF selbst. Es war damals aber Konsens, dass das WSF für all die Bewegungen offenstehen müsse, die die Charta unterstützen und dass das WSF kein Parteitag werden sollte, bei dem tagelang über eine Abschlusserklärung debattiert wird. Das WSF ist als politischer Raum konzipiert, in dem alle Ideen zur friedlichen und demokratischen Überwindung der gegenwärtigen Ausbeutungsverhältnisse zusammenkommen. Man tauscht sich aus und vernetzt sich ohne den Zwang, nach außen einen Minimalkonsens vertreten zu müssen. Immer jedoch mit der Möglichkeit, dass sich Bewegungen, Organisationen zusammentun und gemeinsam auf den Foren selbst und in der Öffentlichkeit äußern können.
Offener Raum ohne Zwang zum Minimalkompromiss
Brot für die Welt unterstützt diese Idee bis heute und ermöglicht die Teilnahme und gemeinsame Diskussion von vielen seiner Partnerorganisationen. Auch wenn es nachvollziehbar ist, dass angesichts der mannigfaltigen globalen Krisen, einige Gruppen darauf drängen, das WSF möge selbst ein politischer Akteur werden und sich auf Vorschläge und Aktionen zur Krisenüberwindung einigen, sehen andere, darunter auch wir, dass die Grundidee des WSF als „offener Raum“ ohne Entscheidungsdruck sich austauschen zu können, dadurch gefährdet wäre.
Gibt es Ideen oder Kampagnen, die es ohne das WSF nicht gegeben hätte?
Marí: Ich denke ja, vor allem die parallel zum ersten Forum sich entwickelnde Idee einer Regulierung der Finanzmärkte durch die sogenannte Finanztransaktionssteuer, auch Tobin-Steuer genannt. Eine globale Steuer, die die katastrophalen Wirkungen von Währungs- und Finanzspekulationen abmildern würde, war in den ersten Jahren ein großer Schwerpunkt der Diskussionen auf den WSF und hat ja auch schon im Vorfeld zur Gründung der globalisierungskritischen Bewegung Attac geführt. Die Idee wurde nach der Finanzkrise 2008 auch von Bundesregierung und EU aufgegriffen und wird hoffentlich bald umgesetzt.
Ideengeber für Finanztransaktionssteuer
Erfolgreiche Kampagnen gegen bilaterale Handelsverträge, wie 2007 in Nairobi oder das Zusammendenken von Umwelt- und sozialen Krisen am Amazonas 2009 im brasilianischen Belem oder der Kampagnenstart gegen die Landspekulationen, das sog. Landgrabbing beim WSF 2011 in Dakar, haben ihren Ursprung in Foren. Das gilt auch für die bis heute anhaltende Zusammenarbeit der nordafrikanischen Zivilgesellschaften, die in WSF-Foren in Tunis 2013 und 2015 als Antwort auf den Arabischen Frühling ihren Anfang nahm. Nicht zuletzt die Zusammenführung von Menschenrechtskampagnen, Gewerkschaften, Bäuerinnen, Bauern und sozialen Bewegungen 2016 auf dem WSF in Montreal zeigt die Chancen des WSF, neue Impulse für Bewegungen zu geben, um gemeinsam gegen die größte Bedrohung der Menschheit, die Erwärmung des Planeten, anzugehen. Dass diese Dynamik trägt, sieht man auch in Bewegungen wie „Fridays for Future“, die sich zunehmend auch als soziale Bewegung versteht und solidarisch mit den Betroffenen der Klimakatastrophe im Globalen Süden aktiv werden.
Du bist seit 10 Jahren im Steuerungskreis des WSF und kennst das Forum und seine Entwicklung sehr gut. Wie ist Dein bisheriges Resumé?
Marí: Das WSF ist nach wie vor wichtig, wenn es als politischer Raum erhalten bleibt, in dem sich Bewegungen und Organisationen ohne Entscheidungsdruck austauschen und vernetzen können. Als Brot für die Welt bemühen wir uns immer, gerade auch jungen Kolleginnen und Kollegen aus neuen Bewegungen aller Kontinente die Teilnahme zu ermöglichen, weil sie eben nicht gefordert sind Entscheidungen mitzutragen. Trotzdem ist der globale Anspruch des WSF immer schwieriger zu realisieren, da es nach dem Modell des WSF inzwischen eine Vielfalt an regionalen, thematischen oder globalen Treffen gibt, die direkten Einfluss auf Politikentscheidungen nehmen wollen, wie die jährlichen Alternativgipfel bei den Klimaverhandlungen oder am Rande von UN-, G-7 oder G-20 Treffen.
Solidarisch handeln
Mit unseren Partnern werden wir auch in Zukunft genau überlegen, wo unsere Teilnahme einen Mehrwert im Widerstand gegen globale Krisenerscheinungen hat. Dennoch wird das WSF der Raum bleiben, wo solche Widerstandskampagnen oft ihren Ursprung haben, und dazu wollen wir auch in Zukunft beitragen.
Was erwartest Du vom 14. WSF, das vom 23. bis 31. Januar virtuell stattfindet?
Marí: Es ist ein Ersatz für das eigentlich in Mexiko-City geplante WSF. Mit wenig Mitteln und ohne Unterstützung einer professionellen Agentur, mit kostenloser Software und vielen Freiwilligen überall auf der Welt, ist es ein Versuch, die Vorschläge und Diskussionen in den verschiedensten Bewegungen sichtbar zu machen, wie wir uns eine Welt nach einer hoffentlich solidarischen Überwindung der Covid-19-Folgen vorstellen. Hier soll in virtuellen Diskussionen und Aufrufen der seit 20 Jahren bestehende Slogan der Weltsozialforen „Eine andere Welt ist möglich“ konkretisiert werden. Auch soziale Bewegungen von Gewerkschaften oder Bäuerinnen und Bauern, im Kampf für Menschenrechte und Demokratie, für Frauenrechte und gegen Rassismus und Ausbeutung werden sich in Hunderten von virtuellen Diskussions- und Aktionsformen auf eine Sichtbarkeit und Aktionsdynamik nach der Pandemie einstellen, damit die Entscheidungen nicht wieder in Davos, bei G20 oder anderen Zirkeln zwischen Konzernen und Politik getroffen werden. Dennoch bleibt dieses virtuelle Treffen, schon wegen der Zeitverschiebungen, eine Notlösung. Auch wir freuen uns, bald wieder auf einem bunten und diversen Präsenztreffen unsere Kolleginnen und Kollegen wiederzusehen. Leider hat sich das Weltwirtschaftsforum nicht getraut, zur gleichen Zeit unser Gegenüber zu sein, und sein Treffen auf Mai 2021 in Singapur verschoben.