Brot für die Welt arbeitet mit vielen Partnerorganisationen in Indien zusammen, die bäuerliche Betriebe beraten und unterstützen. Im Zentrum steht die Überwindung von Hunger und Mangelernährung. Dabei geht es auch um Saatgut, Düngung, Anpassung an den Klimawandel und die Vermarktung ihrer Erzeugnisse. Martin Remppis, Referent für Agrarökologie und das Recht auf Nahrung, erläutert im Interview mit Renate Vacker, worum es bei den anhaltenden Protesten von Bauern und Bäuerinnen in Indien geht.
Warum gehen so viele Bäuerinnen und Bauern in Indien seit Wochen auf die Straße?
Ende September vergangenen Jahres hat die Regierung in einem fragwürdigen Schnellverfahren drei Landwirtschaftsgesetze verabschiedet. Die demonstrierenden Bauern und Bäuerinnen befürchten durch die neue Gesetzgebung erhebliche Benachteiligung. Das erste Gesetz erlaubt es dem privaten Handel, das bisherige staatliche Vermarktungssystem zu umgehen. Der Handel kann also direkt bei den Bäuerinnen und Bauern Nahrungsmittel und landwirtschaftliche Produkte kaufen. Das zweite Gesetz gestattet es den Unternehmen, diese zu lagern und über Bundesstaatsgrenzen hinweg zu transportieren. Das war bisher streng staatlich reguliert. Das dritte Gesetz erlaubt das sogenannte Contract Farming: Private Unternehmen können mit Bauern direkt Verträge darüber abschließen, was und wie sie produzieren. Später erhalten sie dann den vereinbarten Preis.
Was bezweckt die indische Regierung mit der Agrarreform?
Die Regierung will mit den Gesetzen ein sehr drängendes Problem angehen, nämlich die Nachernteverluste zu reduzieren. Durch schlechte Lagerung und geringe Transportkapazitäten verdirbt sehr viel Nahrung in Indien – in einem Land, in dem knapp 190 Millionen Menschen unter Hunger und Mangelernährung leiden.
Sorge, dass Erzeugerpreise weiter gedrückt werden
Die Regierung erhofft sich private Investitionen etwa in effiziente Kühlsysteme. Dafür werden den Handelskonzernen höhere Gewinne in Aussicht gestellt. Die Auswirkungen auf die Landwirtschaft sind schwer abzuschätzen, doch es ist bemerkenswert, dass die Regierung in den Gesetzen festschreibt, dass man nicht gegen sie klagen kann, sollten sich Nachteile für die Bäuerinnen und Bauern ergeben.
Welche Nachteile befürchten die Bauern konkret?
Dass sie weniger Geld bekommen. Die staatlich regulierten Ankaufszentren sind verpflichtet, einen Mindestpreis für bestimmte Nahrungsmittel zu bezahlen. Obwohl die staatliche Vermarktung oft nicht richtig funktioniert, sie teils ineffizient und korrupt ist, sind die Bauern besorgt, dass sie gegenüber den privaten Unternehmen keine Verhandlungsmacht haben und die Preise gedrückt werden. Weil der Mindestpreis in den neuen Gesetzen nicht erwähnt wird, haben die Bauern Angst, nicht einmal mehr diesen gezahlt zu bekommen.
Benachteiligt die Reform besonders Kleinbauern und Kleinbäuerinnen?
Ja, insbesondere, wenn sie sich nicht in Genossenschaften oder gemeinsamen Vermarktungsinitiativen organisieren. Zu befürchten ist zudem, dass der Handel Qualitätsstandards und Mindestmengen vorgibt, die kleinbäuerliche Betriebe nicht erfüllen können. Allerdings ist das bisherige staatliche Ankaufsystem auch nicht unbedingt zum Vorteil für die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Viele erhalten den festgelegten Mindestpreis nicht. Durch Beziehungen können sich einflussreiche Erzeuger Vorteile verschaffen. Deshalb agieren auch sie mit ihren mächtigen Mitgliedsorganisationen gegen die neuen Gesetze.
Hat die Agrarreform Auswirkungen auf die bisherigen Sozialprogramme für die Armen wie zum Beispiel das kostenlose Mittagessen in Schulen?
Das wird befürchtet, ist aber nicht klar. Für die Schulspeisung und insbesondere für das Public Distribution System - die vergünstigte Abgabe von Grundnahrungsmitteln an Bedürftige - gibt es ein großes staatliches Beschaffungsprogramm. Die neuen Gesetze nehmen darauf nicht Bezug, die Sozialprogramme kommen darin gar nicht vor. Die Agrarreform wird sich jedoch mit Sicherheit auf die Marktpreise auswirken und das wiederum hat Einfluss auf die staatliche Lebensmittelbeschaffung mit ihren begrenzten Haushaltsmitteln.
Wie reagieren unsere Partnerorganisationen?
Sie kritisieren vor allem, dass es bei der Reform keinerlei Bezug zum nationalen Ernährungssicherungsgesetz gibt. Dieses Gesetz regelt unter anderem die Umsetzung der beschriebenen Sozialprogramme, auf die Millionen Menschen angewiesen sind, um nicht zu hungern.
Kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion stärken
Unsere Projektpartner machen sich seit langem für verbesserte Rahmenbedingungen für die kleinbäuerliche Nahrungsmittelproduktion stark. Die Proteste bieten die Chance, auf die Missstände in der indischen Landwirtschaftspolitik hinzuweisen und sinnvolle Veränderungen einzufordern. Sorge bereitet, dass mitten in der Coronakrise kaum Hygieneregeln bei den Protesten eingehalten werden. Das ist natürlich allgemein bei Massenprotesten schwierig.
Wie stehen die Chancen, dass die Agrarreform zurückgenommen oder zumindest abgeändert wird?
Am 12. Januar 2021 hat das indische Supreme Court, also das Verfassungsgericht, das Inkrafttreten der drei Agrargesetze ausgesetzt und eine Schlichtungskommission einberufen. Sie soll eine Lösung mit den protestierenden Bäuerinnen und Bauern finden. Unser Projektpartner Colin Gonsalves ist an dem Verfahren beteiligt. Die gerichtlich angeordnete Schlichtung erhöht natürlich die Möglichkeit zur Durchsetzung von präzisen Forderungen. Ich hoffe sehr, dass es nicht nur um eine Annullierung der drei Gesetze geht. Schon vor den neuen Gesetzen und vor Corona war die Situation der Bäuerinnen und Bauern dramatisch, etwa was Verschuldung oder niedrige Preise angeht. Das zeigt, dass es in der Landwirtschaft Reformbedarf gibt.
Wie müsste eine Agrarreform aussehen, die die Lage der Kleinbauern und Kleinbäuerinnen verbessert?
Eine wirkliche Agrarreform müsste regeln, dass der Mindestpreis etwa für Reis, Weizen, Hirse und Linsen erhalten bleibt, angepasst wird und effektiv eingefordert werden kann. Er sollte auch auf mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse ausgeweitet werden, vor allem auf Gemüse und Obst. Der Mindestpreis sollte mindestens 50 Prozent über den Erzeugungskosten liegen, so empfiehlt es seit 2006 eine Regierungskommission. Damit die Landwirtschaft nachhaltiger wird, wäre ein Bonus für agrarökologisch erzeugte Produkte wünschenswert und darüber hinaus sollten die Subventionen für die Agrarchemie abgeschafft werden. Natürlich muss auch in verbesserte Lagerhaltung, Transport, Weiterverarbeitung und Vermarktung investiert werden. Dabei dürfen aber nicht die Profitinteressen von Handelskonzernen Vorrang haben vor dem Wohl der Bäuerinnen und Bauern und vor der Überwindung von Hunger und Mangelernährung.