Die Teilnehmenden der Mission besuchten in kleinen Gruppen dreieinhalb Tage lang 11 Regionen des Landes. Nach der Rückkehr wirkten die meisten erschöpft angesichts der Vielzahl von Zeugnissen, Gesprächen, Berichten, die sie in diesen Tagen geführt hatten. Von morgens bis später abends dokumentierten sie Aussagen, stellten Fragen, hörten zu. Viele Betroffene sagten zum ersten Mal vor Mitgliedern der Delegation aus. Zu staatlichen Instanzen, wie dem Justizwesen und anderen Einrichtungen, wie zum Beispiel der staatlichen Menschenrechtskommission (Defensoría) besteht kein Vertrauen. Im Gegenteil, viele befürchteten, dass eine entsprechende Anzeige Anlass für eine Kriminalisierung sein würde. In einigen Regionen sprachen die Teilnehmenden mit Jugendlichen, die Opfer von Schussverletzungen sind, zum Teil noch die Kugeln im Körper hatten und notdürftig von medizinischen Freiwilligen versorgt wurden und noch immer werden. Auch hier häufen sich die Zeugnisse, dass Krankenstationen und Krankenhäuser entweder gezielt mit der Polizei zusammenarbeiteten oder die Polizei diese besuchte, um verwundete Personen abzuführen.
Für die Delegationsteilnehmenden bestand in den Regionen keine Zeit, die Fälle zu sichten, zu analysieren. Damit wurde unter großem Zeitdruck erst ab Samstag Abend begonnen und teils bis in die Nacht gearbeitet. Am Sonntag werden die Berichte aus den Regionen zusammengebracht, untereinander ausgetauscht und Forderungen erarbeitet. In der für Montag, 12. Juli, geplanten Pressekonferenz sollen vorläufige Ergebnisse vorgestellt werden.
Bereits jetzt lässt sich festhalten, dass die Mission von mehr als 70 lokalen und regionalen Organisationen Informationen über die Menschenrechtslage enthalten hat. Über 180 Zeugenaussagen über direkte physische Aggressionen, Verfolgung, Bedrohungen wurden dokumentiert. Gespräche mit staatlichen Funktionären unterschiedlicher Instanzen (Menschenrechtskommissionen, Bürgermeister, Gouverneure) geführt.
Pandemiebedingter Aufschub des sozialen Protestes
Angesichts der menschenrechtlichen und teilweise humanitären Krise geraten die ökonomischen Ursachen leicht ins Vergessen. Diese waren der unmittelbare Anlass für den Streikaufruf zum 28. April 2021, der dann Schauplatz denkbar unterschiedlichster Proteste wurde. Die vom Nationalen Streikkomitee (CNP) 2021 vorgelegten Forderungen sind nicht das vorschnelle Ergebnis leichtfertiger Diskussionen. Ihre Wurzeln liegen tief in der Geschichte der historischen Ungleichheit und speziell im Streik vom 21. November 2019 begründet. Tatsache ist aber auch, dass der Staat in der Vergangenheit verhandelte, aber nicht einhält, was er verspricht. Daher soll im Folgenden eine kurze Zusammenfassung eines Berichts * der Partnerorganisation von Brot für die Welt, CINEP – dem Centro de Investigación und Educación Popular - für die Teilnehmenden der Mission wiedergegeben werden, der die Hintergründe beleuchtet:
„Am 21. November 2019 gingen unzählige Organisationen, die im Nationalen Streikkomitee zusammengeschlossen sind, auf die Straße, um gegen das sogenannte „Paket-Bündel von Präsident Duque zu protestieren. Die zentralen Themen, die sie auf die Straßen trieben, waren: Erstens, der Kampf gegen die Arbeits- und Rentenreformen. Diese Reformen umfassten mehrere Punkte, die die soziale Absicherung der Arbeiter*innen und Rentner*innen beeinträchtigten. Zweitens, die geplante Privatisierung verschiedener Unternehmen, die die Arbeitsplatzstabilität und das öffentliche Vermögen bedrohen. Drittens, die Nichteinhaltung der Vereinbarungen, die die Regierung mit verschiedenen Gewerkschaftsverbänden des öffentlichen Sektors unterzeichnet hat sowie die Missachtung der mit den FARC in Havanna unterzeichneten Friedensverträge. Dieser letztgenannte Punkt beinhaltete auch die Verurteilung der Ermordung von ehemaligen Kämpfer*innen und sozialen Führungspersönlichkeiten, Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen. Viertens, die aggressive Haltung der Regierung Duques gegenüber Venezuela und den Versuch, damit von der eigenen Krise abzulenken.
Die 13 Forderungen des Streikkomitees
Diese vier allgemeinen Protestthemen lösten in Kolumbien Mobilisierungen aus, die nur noch von denen des 28. April 2021 übertroffen wurden. Unterschiedlichste Themen flossen ein in die landesweit gestellten sozialen Forderungen. Zwei Wochen später legte das Nationale Streikkomitee der Regierung einen 13-Punkte-Katalog vor:
1. Garantien für soziale Proteste, Auflösung der Mobilen Schwadron zur Aufruhrbekämpfung (ESMAD) und eine strukturelle Reform der Polizei
2. Ausbau und differenzierter Ansatz bei den sozialen Rechten
3. Stärkung der wirtschaftlichen Rechte und Austritt Kolumbiens aus der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
4. Effektive Korruptionsbekämpfung
5. Friedenskultur mit differenziertem Ansatz, Einhaltung der Friedensabkommen von Havanna und neue Wege für einen integralen Frieden mit anderen bewaffneten Gruppen
6. Mechanismen, die die vollständige Ausübung der Menschenrechte garantieren
7. Rechte der Mutter Erde und Verteidigung der Natur; verbindliche soziale Partizipation; Ratifizierung und Erfüllung des Abkommens von Escazú
8. Politische Rechte der ethnischen Gemeinschaften, Ende der Gewalt gegen Frauen und inklusive Volkszählung
9. Differenzierte Anerkennung der Kleinbauern als Rechtssubjekte und Schutz der einheimischen Landwirtschafts-, Viehwirtschafts- und Fischereiproduktion
10. Erfüllung der bereits mit verschiedenen sozialen Bewegungen getroffenen Vereinbarungen
11.Rücknahme von Steuer-, Renten- und Arbeitsreformen, die für die Arbeitnehmer*innen nachteilig sind
12. Aufhebung unpopulärer Normen und
13. Partizipative Entwicklung von Normen.
Diese 13 zusammengefassten Punkte sind in Wirklichkeit Überschriften für 104 konkrete und spezifische Forderungen. Sie nehmen die Stimme von Hunderten von Organisationen und sozialen Sektoren auf. Das Nationale Streikkomitee forderte zu Verhandlungen auf, aber die Regierung berief "einen großen nationalen Dialog“ ein. In dessen Kontext sammelte sie tausende von Vorschlägen, deren Umsetzung nie zustande kam. Es war offensichtlich, dass die Regierung eine Verzögerungsstrategie verfolgte, um nicht nachgeben oder über konkrete Punkte verhandeln zu müssen. Die gewalttätige Reaktion der Polizei und ihrer Sondereinheiten war bereits im November 2019 deutlich: Besonders bekannt wurde der Tod des Anwalts Javier Ordóñez. Durch Elektroschocks und Schläge hatten ihn Polizisten so schwer verletzt, dass er starb. Danach protestierten tausende Menschen in der Hauptstadt Bogotá und anderen Städten gegen eine Polizeigewalt, die zu Beginn der Corona Pandemie jedoch noch zunahm. Mit fortschreitender Pandemie kamen die Demonstrationen zum Erliegen. Erst im Juni 2020 präsentierte das Nationale Streikkomitee eine Notstandserklärung und führte Mobilisierungen durch, um Druck auf die Regierung Duque auszuüben. In sieben Punkten wurden verschiedene Vorschläge in den Bereichen Soziales, Produktion, Bildung und Friedenspolitik unterbreitet. Damit sollte auch der durch Corona ausgelösten sozialen und humanitären Krise begegnet werden. Auch dies brachte keine greifbaren Ergebnisse. Im Verlauf des Jahres 2020 mobilisierten Frauen, Indigene, Jugendliche, Erzieher*innen und sogar Taxifahrer*innen gegen die polizeiliche Repression, für den Frieden und für die jeweils eigenen Forderungen der einzelnen sozialen Gruppen oder Organisationen.
Der Streik vom April
Unmittelbarer Anlass für den Streikaufruf vom 28. April 2021 war der Versuch, eine weitere, die dritte Steuerreform** umzusetzen. Ein Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie hätte die von der Krise am meisten betroffenen Sektoren belastet. Steuererhöhungen auf Grundnahrungsmittel, Kosten für Beerdigungsinstitute wirkten angesichts der Coronakrise geradezu makaber. Denn gleichzeitig umfassen die in den letzten Jahren erweiterten Steuerausnahmeregelungen für Großunternehmen eine Größenordnung von 9,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Soziale Organisationen und Menschenrechtsorganisationen hatten unzählige Vorschläge erarbeitet, das Steuer- und Abgabensystem grundlegend zu reformieren und gerechter zu machen. Allerdings vergeblich. Die Vorgeschichte der gescheiterten Verhandlungen, vor allem die eklatante Nichteinhaltung oder das Nichtstun von Seiten der Regierung waren zusätzliche Elemente, die die soziale Unzufriedenheit weiter schürten. Aber in diesem Jahr 2021 blicken die Kolumbianer*innen, die auf die Straße gingen und gehen, nicht nur in die Vergangenheit, denn die Zukunft wird nicht warten: Sie fordern vehement ein anderes Kolumbien. Jede Gemeinschaft oder soziale Gruppe hat ihre eigenen Forderungen, die hier unmöglich alle aufgezählt werden können. Aber viele dieser Forderungen kommen in irgendeiner Weise in den 13 Punkten von 2019 zum Ausdruck. Der Frieden, die sozialen Rechte, der Schutz des ländlichen Raums, die Stärkung der nationalen Produktion, die Einbeziehung der Frauen, die Verteidigung des Lebens und eine Vielzahl lokaler Forderungen sprechen von einer Gesellschaft, die weiß, was sie braucht und die sich verändern will. Die Forderung nach der Garantie für physische und rechtliche Sicherheit geht einher mit der Forderung nach Studienmöglichkeiten, einer Beschäftigung und einem menschenwürdigen Leben. Statt Regierungsverlautbarungen oder Schlagzeilen in der Presse fordern sie von Stadtvierteln aus konkrete Maßnahmen, um lokale, regionale und nationale Probleme anzugehen. Trotz Unstimmigkeiten zwischen den Akteuren und mittlerweile diverser Forderungskataloge auch auf lokaler und regionaler Ebene sind die Anliegen im Kontext einer sozialen Mobilisierung in Zahl und Qualität gewachsen. Es bleibt die offene Frage: Wann, wie und von wem wird jede einzelne der gestellten Forderungen berücksichtigt werden?“
*Originaldokument: García Martha Cecilia (26. Juni 2021). Peticiones del paro iniciado el 28 abril de 2021. Una extensa agenda social desatendida. Bogotá: Team der Sozialen Bewegungen – Cinep.
** Der Gesetzesvorschlag für die Steuerreform, die die Proteste auslöste, wurde im Mai zurückgezogen, der Finanzminister entlassen.
Zusammenfassung Tomás Perea Tobón/ Übersetzung: Gerold Schmidt