Otfried Nassauer gründete 1991 mit Friedensforschern aus Ost- und Westdeutschland das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) und entwickelte dieses zu einer anerkannten Einrichtung für Recherchen zu Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die Arbeit beruhte, wie die Liga für Menschenrechte feststellte, maßgeblich auf dem großenteils „ehrenamtlichen Engagement Otfried Nassauers, der seine Erkenntnisse stets uneigennützig teilte“. Nassauers Engagement wurde von Medien, NGOs und politischen Mandats- und Entscheidungsträgern sehr geschätzt, denn er spürte mit Fachkenntnis und Leidenschaft Details zu Rüstungsexporten, Militärstrategien und rüstungstechnischen Neuerungen auf. Nassauer versorgte FriedensaktivistInnen und politische Akteure gleichermaßen mit wertvollem Spezialwissen. Auch für das Referat Menschenrechte und Frieden bei Brot für die Welt war er ein wichtiger friedenspolitischer Ratgeber. Sein Tod hinterließ eine Lücke, die einfach nicht zu schließen ist, sagten FreundInnen und Mitstreitende, die sich am vergangenen Sonntag in Berlin für die posthume Ehrung versammelt hatten. Die Liga für Menschenrechte hatte dafür am 12. Dezember ins Berliner Grips Theater geladen.
Begrenzung von Rüstungsexport und Atomrüstung
Alexander Lurz (Campaigner for Diasarmament and Peace, Greenpeace) hielt die Laudatio. Er beschrieb das Lebenswerk seines langjährigen BITS-Kollegen „in der aufklärerischen Tradition linker Gegenöffentlichkeit, wie sie die Weltbühne und Carl von Ossietzky darstellte.“ Dem Chefredakteur der Weltbühne wurde der Prozess gemacht, weil sie offenlegte, dass die Reichswehr im Geheimen eine Luftwaffe aufbaute und damit gegen den Versailler Vertrag verstieß („Windiges aus der deutschen Luftfahrt“, 1929). Otfried Nassauer habe als Journalist, Politikberater, Wissenschaftler und Aktivist gewirkt. Seine wichtigsten Anliegen waren die Begrenzung von Rüstungsexporten, atomare Rüstungskontrolle und Abrüstung. Er war an der Aufdeckung des U-Boot-Skandals um die Howaldtswerke-Deutsche Werft (1986) beteiligt, als Blaupausen und Komponenten ohne Genehmigung der Bundesregierung an das südafrikanische Apartheidregime geliefert werden sollten. Ihm sei es zu verdanken, dass 1999 die geplante Lieferung von 1000 Leopard II-Panzern an die Türkei verhindert wurde, und er habe nachgewiesen, dass die Ausstattung Israels mit deutschen Atom-U-Booten (ab 1999) der Lieferung einer atomaren Zweitschlagswaffe gleichkam. Die Deeskalation des Ost-Westkonflikts und die Begrenzung von Atomrüstung standen ganz oben auf seiner Agenda. Nach dem Fall der Mauer betätigte er sich als Brückenbauer, indem er Offiziere der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee an einen Tisch brachte. Für die grüne Bundestagsfraktion entwickelte er Konzepte zur Deeskalation der Konflikte im westlichen Balkan. In den 2000er Jahren widmete er sich dem Atomabkommen mit dem Iran und dem möglichen Abzug der in Deutschland verbliebenen Atomwaffen. Was Otfried Nassauer auszeichnete: ein enormes Fachwissen, exzellente Analysefähigkeiten und ein phänomenales Gedächtnis, sowie geistige Unabhängigkeit, denn er positionierte sich nicht einfach in politischen Lagern oder Bündnissen, so Alexander Lurz. Faktenbasiertes Wissen geht vor Meinung, lautete Otfried Nassauers Devise. So qualifizierte er friedensbewegte Debatten und den politischen Diskurs. Es sei ihm gelungen, ein riesiges Netzwerk in Deutschland und auf internationaler Ebene aufzubauen, meint Lurz, und er habe viele Kooperationspartner „dahingehend geprägt, dass die Fakten vor der Meinung kommen und dass wir für diese Fakten in der Breite wie in der Tiefe fischen müssen. Das haben viele (...) aufgenommen, setzen es für sich um und verlangen es umgekehrt von anderen.“ Journalistinnen und Journalisten habe er gezeigt, „dass es eine informierte und kenntnisreiche Gegenöffentlichkeit in sicherheitspolitischen Fragen gibt, die Gehör nicht nur verdient, sondern die anzuhören hilfreich wie notwendig ist.“ Sein Netzwerk sei Otfried Nassauers Vermächtnis, schloss Lurz: er verfügte nicht nur über eine große Neugier, sondern auch über ein großes Herz und habe auch viele Menschen untereinander verknüpft. Diese Verbindungen würden fortbestehen und dafür sorgen, „dass kritische Informationen über Aufrüstung und Kriegsplanungen ausgegraben, analysiert und verbreitet werden. Und nicht zuletzt: Dass dagegen gekämpft wird – für eine friedlichere Welt.“
Die Wirkung von Rüstungsschritten auf den Gegner mitdenken
Prof. em. Götz Neuneck (Physiker und Mitglied im Rat der Pugwash Conferences on Science and World Affairs) widmete Otfried Nassauer einen ausführlichen Vortrag mit dem Titel: „Herausforderungen für Sicherheit und Frieden – Wo bleibt der Wandel durch Annäherung?". Er erinnerte daran, dass Nassauer fortlaufend profilierte Namensbeiträge, Interviews und Analysen für Printmedien und Fernsehmagazine verfasste: „Ihm machte es einfach Spaß, Informationen aus allen möglichen Quellen zu beschaffen und die wahren Fakten und Interessen offenzulegen. Das ist etwas, was heute fehlt oder im weißen Rauschen der vielen Kanäle im Alltag untergeht. Unkonventionell und direkt redete er mit Friedensgruppen, Parteisoldaten, ebenso wie mit dem Militär oder Politikern. (...) Seine Analysen über die Nuklearbewaffnung in Europa, zu Kleinwaffen und Rüstungsexporten waren unverzichtbar.“ Neuneck bezeichnete Nassauer als „Aufklärer für Frieden“, der davon überzeugt war, man müsse verstehen, was bestimmte Aufrüstungsschritte beim Gegner bewegen, und der sich unentwegt bemühte, PolitikerInnen für ein empathisches Vorgehen zu sensibilisieren. Damit habe er sich in der Tradition von Willy Brandt und Egon Bahr bewegt, die im Ost-Westkonflikt Verständigung suchten. Dieser Ansatz erweise sich auch angesichts des aktuellen internationalen Krisengeschehens als wichtig. Die globale Situation analysierte Neuneck aus der Perspektive der Pugwash-Bewegung, einer fortlaufenden internationalen Konferenz von WissenschaftlerInnen und ExpertInnen, die sich um Abrüstung und Rüstungskontrolle bemühen.
Volatile Weltlage und erodierende Normen
Die internationalen Beziehungen seien volatiler, unberechenbarer und komplexer als in den letzten 30 Jahren, betonte Neuneck. Die Bindekraft von völkerrechtlichen Normen und Institutionen erodiere, der ökonomische und technologische Wettbewerb zwischen den USA und China verschärfe sich und sei auch auf den militärischen Sektor übergesprungen (z.B. im Bereich von Überschallwaffen, künstlicher Intelligenz und Cybertechnologie). Die Großmächte USA, China und Russland ringen um Einfluss in der künftigen Weltordnung. Sanktionen, hybride Kriegsführung und Cyberangriffe seien zu neuen Instrumenten der Außenpolitik geworden. Dabei gebe es jedoch Unterschiede: „Die USA geben dreimal so viel Geld für ihr Militär aus wie ihre Rivalen China und Russland, bleiben militärische Weltmacht und konzentrieren sich zuallererst auf den ökonomischen und technologischen Wettbewerb mit China, das sein Militärbudget in der letzten Dekade verdoppelt hat und insbesondere regional militärisch aktiv wird. Es setzt aber auch mit seiner 'Belt and Road Initiative' global Akzente bis hin nach Afrika. Russland möchte mit seiner nuklearen Erneuerung (...) punkten und ist auch im Mittleren Osten (z.B. Syrien) oder im Kaukasus militärisch tätig. Die NATO, das stärkste Militärbündnis der Welt, verkündet stolz, dass ihre Militärausgaben das sechste Jahr in Folge wachsen, und die Europäische Union strebt nach ‚strategischer Autonomie‘. Sie wird immer stärker in den Wettbewerb zwischen China und den USA hineingezogen ohne bisher überzeugende Antworten zu geben.“
Krieg ist die „ultima irratio“
Aktuell sei die Menschheit drei globalen Gefahren ausgesetzt, so Neuneck: Der Klimakrise, tödlichen Pandemien und einem globalen Atomkrieg. Weitere Probleme bilden das Bevölkerungswachstum, Hunger und Umweltzerstörung. Krieg würde inzwischen wieder aktiv geplant. An dieser Stelle erinnerte Neuneck an ein Zitat von Carl von Ossietzky (1913): „Der Kriegsgott lebt im Überfluß. Er braucht kaum mehr zu fordern. Alles fliegt ihm zu.“ Leider bewahrheite sich das auch jetzt. Ein weiteres denkwürdiges Zitat stammt von Willy Brandt: „Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen. Kein nationales Interesse lässt sich heute noch von der Gesamtverantwortung für den Frieden trennen (...) Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als die wahre Realpolitik dieser Epoche“. Inzwischen habe ein neues Wettrüsten begonnen, warnte Neuneck. Vieles deute darauf hin, dass die nuklearen Kriegsgefahren heute größer seien, als während des Kalten Kriegs: „Ca. acht Milliarden Menschen leben in Anwesenheit von ca. 13.000 Nuklearwaffen im Besitz von neun Staaten und die denken nicht daran abzurüsten. Stattdessen wachsen die Militärhaushalte, neue Waffensysteme werden angekündigt und getestet, und ein neuer Rüstungswettbewerb zeichnet sich ab.“
Im Kalten Krieg trugen Initiativen zur Rüstungskontrolle bekanntlich dazu bei, die Waffenarsenale zu verkleinern, eine Kultur der „Verifikation“ (Überwachung) zu schaffen und das Risiko einer atomaren Auseinandersetzung zu verringern, die mindestens Europa ausgelöscht hätte. Aber inzwischen wurden, wie Neuneck kritisierte, für Europa zentrale Rüstungskontrollverträge wie der INF-Vertrag (zur Begrenzung von Mittelstreckenwaffen) oder das Open-Skies Abkommen fahrlässig gekündigt: „Lethargie, Unkenntnis und die geschichtliche Kurzsichtigkeit von Führungseliten“ hätten die Rüstungskontrolle in eine Krise geführt. Man habe zentrale Institutionen dafür einfach erodieren lassen.
Rüstungskontrolle und Abrüstung wiederbeleben
Abrüstung- und Rüstungskontrollregime müsse man dringend stärken, forderte Neuneck. Anstelle von einseitigen Rüstungsschritten brauche es „energisches, kooperatives Handeln, bei dem sich auch das Rüstungsverhalten des Gegners ändert. Erfolgreiche Rüstungskontrolle trägt unmittelbar zur Kriegsverhütung, Eskalationskontrolle und Konfliktlösung bei. Sie schafft Berechenbarkeit, verändert politische Beziehungen und ermöglicht weitere Abrüstung. Dies verlangt hohe politische Aufmerksamkeit, Reziprozität beim Gegenüber, ein Minimalverständnis für den Verhandlungspartner und ressortübergreifende Expertise.“
Die Verlängerung des New-START-Vertrages könne einen kontinuierlichen Dialog zur strategischen Stabilität zwischen den USA und Russland ermöglichen. Den Verzicht auf den nuklearen Ersteinsatz hält Neuneck für einen wichtigen Schritt hin zur Begrenzung vorhandener Arsenale, und eine erste vertrauensbildende Maßnahme dafür wäre „ein Moratorium für die Stationierung von neuen nuklearbestückten Trägersystemen in Europa zwischen der NATO und Russland.“ Auch im Bereich der konventionellen Rüstung benötige man neue Kontrollregime. Die Wiener Dokumente im Rahmen der OSZE und die NATO-Russland Grundlagenakte böten dafür gute Ansatzpunkte. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung sieht Neuneck Ansätze für eine neue Initiative für Abrüstung und Rüstungskontrolle: Die Ankündigung des Beobachterstatus beim Atomwaffenverbotsvertrag sei ein guter Anfang, und auch die Stärkung von Konventionen zu den biologischen und chemischen Waffen. Auch der Abzug der substrategischen Nuklearwaffen aus Europa müsse dringend angegangen werden, dann erübrige sich die Neubeschaffung von nuklearbestückten Trägersystemen.
Ukraine-Krise entschärfen: Raus aus der Eskalationsspirale
Das Säbelrassen um die Ukraine sei höchst besorgniserregend, so Neuneck. Wer dabei einseitig auf die Truppenansammlungen Russlands an der Grenze verweise, verkenne die Fehler der Vergangenheit und auch die strukturellen Probleme im Verhältnis der NATO zu Russland. Die Eskalationsspirale zwischen Russland, Ukraine und NATO müsse man unbedingt durchbrechen. Eine Gruppe von 27 Ex-Diplomaten und Wissenschaftlern habe dazu konkrete Vorschläge unterbreitet: Sie fordern eine gut vorbereitete Konferenz, die auf der Grundlage bisheriger Vereinbarungen (Helsinki-Schlussakte 1975, Charta von Paris 1990; Budapester Vereinbarung 1994), ohne Vorbedingungen in unterschiedlichen Formaten über die Wiederbelebung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät. Während sie tagt, müssten die beteiligten Seiten auf militärische Eskalation verzichten. Es brauche eine Vereinbarung zum Verzicht auf eine Stationierung zusätzlicher Truppen auf beiden Seiten der westlichen Grenze der Russischen Föderation und die Verpflichtung zur beiderseitigen Transparenz bei Militärmanövern. Auch der NATO-Russland-Dialog und die europäische Rüstungskontrolle müssten wiederbelebt werden. Darüber hinaus sollte man über ökonomische Kooperationsangebote nachdenken. Neuneck verwies auf eine prominente Rede von Egon Bahr zum „Wandel durch Annäherung“ (1963). Ein „Wandel“ und ein Ausstieg aus der Eskalationsspirale sei möglich, wenn man die Motive, historischen Erfahrungen und Interessen der Gegenseite ernst nehme: „Annäherung ist nur durch Kooperation und das Eingehen auf den vermeintlichen Gegner zu erreichen. Es genügt nicht, Friedensabsichten in Reden zu bekunden, sondern die politisch Verantwortlichen müssen sich proaktiv, gut vorbereitet, abgestimmt und kenntnisreich um die Organisation des Friedens bemühen.“ Für dieses Prinzip stehe auch das Lebenswerk Otfried Nassauer, stellte Neuneck abschließend fest. Er sprach all denen Mut zu, die sein Wirken fortsetzen werden.
Gedenken im würdigen und festlichen Rahmen
Mit der Carl von Ossietzky-Medaille zeichnet die Liga für Menschenrechte seit 1962 Personen oder Gruppen aus, die sich durch Zivilcourage und herausragendes Engagement für die Verwirklichung, Verteidigung und Erweiterung der Menschenrechte und des Friedens verdient gemacht haben. Die Verleihung an Otfried Nassauer hatte das Kuratorium im September letzten Jahres beschlossen. Kurz nachdem er die Nachricht erhielt, verstarb er. Nun nahmen seine Lebensgefährtin Christa Sommerauer und seine Schwester Gunhild Nassauer die Auszeichnung entgegen. Die Veranstaltung ermöglichte ein Gedenken im würdigen und festlichen Rahmen. Dafür ist der Liga für Menschenrechte und dem Grips-Theater zu danken, und auch dem syrischen Musiker, Komponisten und Menschenrechtler Wassim Mukdad, der die Preisverleihung in sehr einfühlsamer Weise mit der arabischen Laute begleitete.