Gerold Schmidt ist freier Journalist und Übersetzer. Im Kontext des Escazú-Abkommens führte er mehrere Interviews mit Partnerorganisationen von Brot für die Welt zu den Themen Menschenrechtsverteidiger*innen, Umwelt, Naturressourcen und Rechte indigener und bäuerlicher Gemeinden.
„Die größte Befürchtung der Agrarlobby: Das Escazú-Abkommen könnte Folgen für die ökologische Straffreiheit haben“
Der Anwalt Hugo Valiente arbeitet für die Menschenrechtskoordination Paraguays (Codehupy). Der Jurist ist auf internationale Schutzmechanismen für die Menschenrechte spezialisiert. Darum verfolgt er die nationale Debatte über das Abkommen von Escazú mit besonderem Interesse.
Im Interview mit Gerold Schmid erklärt er die Hintergründe für die gescheiterte Ratifizierung des Abkommens.
Gerold Schmidt (G.S.): Am 22. April tritt das Escazú-Abkommen in Kraft. Paraguay hat es zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Wie ist der Stand der öffentlichen Debatte?
Hugo Valiente (H.V.): Wir haben da in Paraguay eine eigenartige Situation. Der Staat hat das Abkommen unterzeichnet, die Regierung schickte den Entwurf ursprünglich an die Legislative zur Ratifizierung. Doch im Dezember 2019 zog sie die Ratifizierungsinitiative wieder aus der Senatskammer zurück. Dabei blieb es. Das Land nimmt damit nicht am Abkommen teil. Die Entscheidung ist einer starken Lobby gegen die Ratifizierung geschuldet. Diese wird von mächtigen Gruppen angeführt, die mit dem Agrobusiness, sowie Teilen der extraktivistischen Industrie verbunden sind. Sie sind es auch, die für Entwaldung und Umweltzerstörung im Land verantwortlich sind. In diesem Kontext darf die Unterstützung dieser Lobby durch die katholische Kirche nicht verschwiegen werden. Sie wurde deutlich in der Person von Edmundo Valenzuela, dem Erzbischof von Asunción und Vorsitzender der paraguayischen Bischofskonferenz. Der Erzbischof griff strategisch über eine Botschaft in den sozialen Netzwerken ein und warnte vor den Gefahren des Escazú-Abkommens. Das Abkommen berge eine Agenda der Vereinten Nationen, um bestimmte Globalisierungsthemen in Paraguay durchzusetzen. So die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe und die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Die bischöfliche Strategie führte zu heftiger Verwirrung. Sie lenkte vom Inhalt des Escazú-Abkommens und seiner Bedeutung für den Umweltschutz ab, indem sie es mit Themen in Verbindung brachte, die in einem sehr konservativen und sehr katholischen Land wie Paraguay tabu sind. Mit dieser Unterstützung setzten sich am Ende die Lobby-Gruppen gegen das Abkommen durch. Es gibt nun Widerstand seitens des paraguayischen Staates, den Ratifizierungsprozess fortzusetzen. Ja, das Für und Wider der Ratifizierung des Escazú-Abkommens überhaupt zu diskutieren. Das ist ein Problem, denn das Land hat eine sehr komplizierte Umweltsituation. Es fehlt zudem an Schutz für Umweltaktivist*innen. Die Nicht-Ratifizierung des Vertrages hinterlässt eine schwer zu füllende Lücke, was den internationalen Rückhalt für das Recht auf Informationszugang, die Bürger*innenbeteiligung und den Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen angeht.
(G.S.): Stimmt es, dass innerhalb der Regierung vor allem das Landwirtschaftsministerium und das Umweltministerium gegen das Abkommen sind, weil sie mit der Agrarindustrie verbündet sind? Gibt es andere Positionen innerhalb der Regierung?
(H.V.): So ist es. Der Minister für Landwirtschaft und Viehzucht schloss sich der Lobby des Agrobusiness an. Er ist eine Person, die aus der Branche kommt. Es ist der Drehtür-Effekt, ein Interessenkonflikt. Der Funktionär, der das Landwirtschaftsministerium leitet, ist eine Person, die aus dem Agrarsektor kommt. Wir haben hier ein Schema, wo der Staat vereinnahmt wird. Das Agrobusiness, im Wesentlichen der Gensoja-Sektor, hat die Kontrolle über die staatlichen Institutionen, die die Einhaltung der einschlägigen Umweltgesetze überwachen sollten. Gleiches geschieht mit anderen strategischen Regierungsbehörden. Dazu gehört das Ministerium für Umwelt und nachhaltige Entwicklung. Oder das Nationale Institut für ländliche Entwicklung und Böden. Die Interessenvertretung kontrolliert die öffentliche Aufsicht. Auch das Außenministerium spielt eine Rolle in diesem System. Im Rahmen des sogenannten EPU-Verfahrens, der Periodischen Überprüfung vor dem UNO-Menschenrechtsrat wird nach wie vor versichert, der Staat prüfe die Möglichkeit der Ratifizierung des Escazú-Abkommens. So steht es in dem nationalen Bericht, den die Regierung für die EPU im Mai 2021 vorgelegt hat. Doch nach innen tut sich nichts.
(G.S.): Welches sind die konkreten Befürchtungen der Agrarlobby, die sie so allergisch gegen eine Ratifizierung sein lässt?
(H.V.): Das Escazú-Abkommen gibt zu viele Werkzeuge an die Hand und stärkt die betroffenen Bevölkerungsgruppen. Ich denke, dass hier die Angst liegt. Die Angst, was die im Abkommen vorgesehenen Rechte auf den Informationszugang angeht. Es geht um die Kontrolle der Information, die Möglichkeit zur Desinformation bei schädlichen Umweltauswirkungen bestimmter sozio-ökonomischer Aktivitäten. Es existiert eine enorme Furcht, der Staat könnte dazu verpflichtet werden, bestimmte Informationen regelmäßig und systematisch zu erstellen. Ein Beispiel sind die Entwaldungsindikatoren, allgemein die Indikatoren zu offensichtlichen Umweltproblemen in den letzten Jahren. Die Dürre-Indikatoren, die Informationen über Anomalien bei den Niederschlagsmengen. Letztere gehören zu den negativen Auswirkungen des Klimawandels, für den auch das Exportmodell des Landes Verantwortung trägt. Wir hatten 2020 eine der schlimmsten Dürreperioden. Das hat zu historischen Tiefstständen der Flüsse geführt, die weder im vergangenen noch in diesem Jahrhundert so niedrig verzeichnet wurden. Die Möglichkeit, die Falschinformationen über bestimmte ökonomische Aktivitäten mit belastbaren Daten zu bekämpfen, wird als Risiko angesehen. Die größte Befürchtung der Agrarlobby meiner Meinung nach: Das Escazú-Abkommen könnte Folgen für die ökologische Straffreiheit haben. Es böte dazu entsprechende Hebel.
(G.S.): Der Artikel 9 des Escazú-Abkommens ist ein Instrument zum Schutz von Umweltaktivist*innen. Wie sieht deren Situation in Paraguay aus? Beschränkt sich ihre Gefährdung auf Drohungen oder werden sie auch ermordet, wie dies unter anderem fast täglich oder wöchentlich in Mexiko oder in den meisten mittelamerikanischen Ländern geschieht?
(H.V.): Es gibt es eine ähnliche Situation, mit den Unterschieden im Maßstab. Oder besser gesagt, mit dem Unterschied in absoluten Zahlen. Paraguay ist ein sehr kleines Land, es hat nicht die Dimensionen von Kolumbien oder Mexiko. Was die Situation ungewöhnlich macht: Paraguay ist ein Land im Cono Sur, aber es ist nicht Teil der spezifischen regionalen Dynamik. Was wir hier in Paraguay erleben, ähnelt eher dem, was in Mexiko passiert. Oder was in Kolumbien speziell mit den Menschenrechtsverteidiger*innen passiert. Wir haben festgestellt, dass die kleinbäuerlichen Menschenrechtsverteidiger*innen und die Umweltschützer*innen diejenigen sind, die zuallererst gefährdet sind. Codehupy führt ein historisches Register. Seit Beginn der Demokratie, seit dem Sturz der Diktatur 1989, bis heute. In diesem Zeitraum sind 124 bäuerliche Menschenrechtsverteidiger*innen und Umweltschützer*innen im Zusammenhang mit Umweltkonflikten oder mit Landgrabbing-Vorgängen ermordet worden beziehungsweise verschwunden. Paraguay ist ein Land mit einer sehr ausgeprägten Latifundienstruktur. Tatsächlich ist es das Land mit der ungleichsten Landverteilung weltweit. Die Landkonzentration nimmt immer noch zu. Die Ausdehnung des Agrobusiness, des Modells, das auf der Ausbeutung von gentechnisch veränderten Monokulturen basiert, treibt diese Dynamik der Landkonzentration weiter an. Wir befinden uns mitten in der Expansionsphase. In den vergangenen 20 Jahren sind kleinbäuerliche und indigene Territorien betroffen. Denn nun es gibt keine freien Latifundien mehr. Auch die zuvor brach liegenden Ländereien sowie die in Monokulturen umgewandelten früheren Rinderfarmen stehen nicht mehr zur Verfügung. Die Unternehmen dringen daher bereits auf kleinbäuerliches Territorium vor. Auf die bäuerlichen Familiensiedlungen, auf indigenes Territorium. Sie zielen auf die verbleibenden Reserven an fruchtbarem Land ab, wo das Agrobusiness noch expandieren kann. In diesem Kontext werden Führer*innen von bäuerlichen Organisationen ermordet. Sowohl von staatlichen Kräften als auch von para-polizeilichen Gruppen, die von Agrarunternehmen finanziert werden. Dahinter steht das Ansinnen, die Vertreibung von Gemeinden zu beschleunigen und den bäuerlichen Widerstand zu brechen, der in einigen Bastionen noch vorhanden ist. Das Escazú-Abkommen würde einen stärkeren Schutzrahmen für diesen besonders gefährdeten Bevölkerungssektor bieten.
(G.S.): Wird die Codehupy sich weiterhin mit dem Abkommen befassen?
(H.V.): Die Codehupy unterstützt ganz klar die Ratifizierung des Escazú-Abkommens. Sie ist absolut notwendig für unsere Arbeit. Wir bieten rechtlichen Beistand. Unter anderem im Fall von bäuerlichen Führungspersönlichkeiten, die zu Mordopfern wurden. Oder bei Personen, die mit Kriminalisierungsstrategien angegriffen werden, weil sie Widerstand gegen Landraub organisieren. Wir begleiten Fälle von Menschen, gegen die mehrfach gerichtliche Klagen erhoben werden. Manchmal sind es rein erfundene Anschuldigungen. Sie haben ausschließlich den Zweck, diese Personen aus dem Weg zu räumen. Sie ins Gefängnis zu bringen, um die Gemeinden ungeschützt zu lassen. In diesem Bereich wäre das Escazú-Abkommen ein äußerst wichtiges Instrument. Es könnte den Schutz dieser Menschen stärken und ihm vor allem eine internationale Dimension verleihen.
* Gerold Schmidt ist freier Journalist und Übersetzer sowie Diplom-Volkswirt. Berichtet seit 30 Jahren zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Mexiko und Mittelamerika. Spezialisiert auf die Themen: Menschenrechte, Klimakrise, Umweltbewegungen, Biodiversität, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft. Als Fachkraft von Brot für die Welt arbeitete er in den 2010-er Jahren beim Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (CECCAM) in Mexiko-Stadt.