Bei ihrer letzten Pressekonferenz zur Situation an der belarussischen Grenze legte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson einen bemerkenswerten Spagat hin. Einerseits erklärte sie, man könne angesichts der geringen Zahlen – nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration IOM befinden sich in Belarus noch rund 7.000 Asylsuchende – von keiner Flüchtlingskrise sprechen. Gleichzeitig plädierte sie jedoch dafür, Artikel 78(3) des Vertrags zur Arbeitsweise der EU zu aktivieren, um Polen, Lettland und Litauen aufgrund der „akuten Notlage“ zu erlauben, temporär die Asylverfahrensstandards abzusenken. Asylsuchende könnten so bis zu 16 Wochen in Lagern an der Grenze festgehalten werden, nur notdürftig versorgt, Abschiebungen sollen erleichtert werden. Wieso Johansson Kriseninstrumente zur Lösung einer Nicht-Krise fordert, war für die in der Pressekonferenz anwesenden Journalist*innen schwer nachzuvollziehen, wie mehrere Nachfragen zeigten.
Verwundert darüber dürfte auch Lopez Aguilar, der Vorsitzende des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten des EU-Parlaments, gewesen sein. Er hatte einen Tag zuvor einen Berichtsentwurf zu der seit über einem Jahr diskutierten Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik vorgelegt. Darin kritisierte der spanische Sozialdemokrat die Pläne der EU-Kommission scharf, im Rahmen des EU-Asyl- und Migrationspakts einen Notfallmechanismus zu implementieren, der die Internierung von Asylsuchenden in Krisenzeiten ebenso erleichtern soll wie Abschiebungen. Nur wenige Stunden nach Aguilars Kritik präsentierte die EU-Kommission erneut ähnliche Vorschläge, diesmal mit dem Ansinnen, diese am EU-Parlament vorbei umzusetzen. Quasi zeitgleich erließ Polen ein Gesetz, welches es der polnischen Regierung erlaubt, den nach drei Monaten eigentlich nicht mehr verlängerbaren Ausnahmezustand an der Grenze de facto auf Dauer zu stellen. Sprich: Auch in Zukunft kommt niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis der polnischen Regierung in die Grenzregion zu Belarus. Keine Sanitäter*innen, keine Journalist*innen, niemand.
Ausnahmezustand als Grundsäule der Festung Europa
Die restriktive Grenzsicherung der Europäischen Union hat in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Phasen durchlaufen. In den 90er und 00er-Jahren war sie im Wesentlichen durch Aufrüstung und Militarisierung der Außengrenzen gekennzeichnet. In den 10er Jahren ergänzte die EU diese Maßnahmen um die Strategie der „Externalisierung“. Seither werden Drittstaaten von Albanien bis Tschad in die Pflicht genommen, Menschen bereits entlang der Flucht- und Migrationsrouten weit vor den Toren Europas zu stoppen. In den letzten Jahren nun zeichnet sich immer deutlicher eine weitere Strategie ab: die aktive Inszenierung eines Ausnahmezustands an den Außengrenzen. Sie erlaubt es, das Recht auf Asyl zunehmend außer Kraft zu setzen, Gewalt gegen Geflüchtete anzuwenden, Journalist*innen und NGOs an ihrer Arbeit zu hindern oder sogar zu kriminalisieren. Diese Strategie wird von der EU-Kommission ebenso verfolgt wie von vielen EU-Mitgliedsstaaten. Wir finden sie in Polen ebenso wie in Kroatien, in Griechenland, den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla sowie dem gesamten Mittelmeerraum.
Der Ausnahmezustand hat viele Gesichter
Inszeniert wird der Ausnahmezustand durch Bilder, die immer wieder einen Ansturm von Menschenmassen auf Europa heraufbeschwören – und heftige Gegenmaßnahmen rechtfertigen. Polen hat diese Kunst in den letzten Wochen perfektioniert. Doch auch die EU nährt diesen Diskurs seit Jahren, in dem sie die Krisenrhetorik ins Zentrum ihrer Vorschläge zu einem neuen Asyl- und Migrationspakt stellt sowie Flucht und Migration als permanente Bedrohung rahmt. Mehrere Mitgliedsstaaten haben, ebenso wie Polen, dieses Narrativ aufgegriffen und Gesetze verabschiedet, die bereits jetzt eine legale Basis für Notfallmaßnahmen schaffen sollen, die bis zur Tolerierung von Pushbacks reichen. Andere Gesetze zielen darauf ab, die Arbeit von NGOs im Bereich der Flüchtlingshilfe massiv zu erschweren und einzuschränken. Wie in Griechenland, wo der Brot-für-die-Welt-Partner Equal Rights Beyond Borders, der unter anderem auf den griechischen Inseln Kos und Chios arbeitet, es nur unter großem finanziellen und zeitlichen Einsatz geschafft hat, unter dem neuen NGO-Gesetz eine Registrierung zu erhalten.
Der Ausnahmezustand findet seinen Ausdruck auch in Form von Straffreiheit und Ignoranz. Massive Gewalt gegen Geflüchtete wird oft nicht mehr geahndet oder gar ernst genommen. Ein Journalist, der den griechischen Ministerpräsident nach illegalen Pushbacks fragt, wird von diesem als Verräter beschimpft. Frontex-Chef Fabrice Leggeri leugnet seit Jahren standhaft, dass Mitarbeiter seiner Grenzschutzagentur an solchen Pushbacks beteiligt seien – auch wenn etliche Filmaufnahmen das Gegenteil beweisen. Und selbst das gerichtliche Vorgehen dagegen hat nicht immer Erfolg. So unterstützt der Brot-für-die-Welt-Partner ECCHR seit Jahren Überlebende eines tödlichen Pushbacks in Ceuta in Prozessen gegen Beamt*innen der Guardia Civil, bei dem im Jahr 2014 15 Menschen ums Leben kamen. Eine Verurteilung durch spanische Gerichte steht bis heute aus.
Wo bleibt der Aufschrei?
Doch trotz einiger Rückschläge: die juristische Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen bleibt ein Gebot der Stunde ebenso wie deren Dokumentation durch Journalist*innen und Aktivist*innen wie dem Border Violence Monitoring Network. Es ist diese Arbeit, die uns vor Augen führt, dass das Friedensprojekt Europa in ein Notstandsprojekt zu kippen droht, welches nicht nur die Rechte von Geflüchteten und Migrant*innen mit Füßen tritt, sondern auch viele weitere fundamentale Rechte wie Presse- oder Versammlungsfreiheit.
Erklärungsbedürftig bleibt, warum trotz dieser bedrohlichen Entwicklungen ein breiter gesellschaftlicher Aufschrei ausbleibt. Eine Gewöhnung an den Ausnahmezustand darf es nicht geben. Deshalb begrüßt Brot für die Welt die Ankündigungen der kommenden Bundesregierung, zu einem „rechtsstaatlichen Außengrenzschutz“ zurückzukehren, „der transparent ist und parlamentarisch kontrolliert wird“ (Koalitionsvertrag). Gemeinsam mit seinen Partnern wird Brot für die Welt dieses Ansinnen unterstützen – und bis zu dessen Umsetzung die Situation an den EU-Außengrenzen als das benennen, was sie ist: ein Ausnahmezustand, der unser aller Freiheit bedroht und der umgehend beendet werden muss.